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Vom Himmel hoch da komm ich her
"Ich geh mal an die frische Luft", sagte Emil und stand auf. Doch niemand beachtete seine Worte. Der Kampf, wer nun als erster den CD Player benützen dürfe, um seine geschenkt bekommene CD abzuspielen, hatte eben seinen Höhepunkt überschritten, und der geprüfte Familienvater befürchtete, es würde nicht lange dauern, bis man sich erneut über irgend etwas streiten würde. Sicher über etwas völlig Unwichtiges.
Er schob sich an einem Berg von leeren Schachteln und halbwegs zerknülltem
Geschenkpapier vorbei. Ohne auf eine der am Boden liegenden GI-Figuren mit
geschultertem Bazooka-Panzerabwehrrohr oder auf einen der Saurus Rex oder wie-sie-sonst-noch-hiessen Urzeitechsen zu treten, gelangte er ins kühle Nebenzimmer. Aufatmend lehnte er sich aus dem Fenster und sog die kühle Nachtluft ein. Auch dieses Jahr hatte man vergeblich auf weisse Weihnachten gehofft und es roch keineswegs nach Schnee. Doch etwas anderes roch recht penetrant. Er beugte sich etwas weiter über den Fenstersims hinaus und strengte seine müden Augen an. Da lag doch tatsächlich etwas draussen aufdem Balkon gleich neben dem Fenster, es sah beinahe so aus, als würde jemand dort kauern. Aber das war höchst unwahrscheinlich, woher sollte dieser Jemand kommen, hier oben im achten Stockwerk?
Er dachte an die Zeitungsberichte über osteuropäische Einsteigediebesbanden, die gerade jetzt über die Feiertage - - Aber seine Fantasie war wohl ein wenig überdreht, der Wein, Emmas selbstgebrauter Eierlikör -. Schnell schloss er das Fenster wieder und stellte sich, mit dem Rücken zur Wand, neben die Balkontür.
"Vielleicht ist es doch nur ein Kehrichtsack", versuchte er sich einzureden,obwohl er als Familienoberhaupt allwöchentlich pünktlich den anfallenden Abfall hinunter in den Container trug und es niemals dulden würde, so etwas auf dem Balkon zu deponieren.
"Vielleicht ist es eine Schachtel", dachte er und öffnete mutig die Tür. Jetzt war der da draussen sogar aufgestanden, drehte ihm den Kopf zu und sagte in bittendem Ton: "Darf ich herein kommen? mir ist so kalt hier draussen!" Emil war viel zu erstaunt, um zu erschrecken, und als er entdeckte, dass über der Schulter dieser Gestalt sowas wie ein durchnässter Flügel hing, musste er beinahe lachen, und er dachte an einen üblen Scherz, versteckte Kamera oder sowas ähnliches.
Der Andere machte bereits Anstalten, den Raum zu betreten, doch Emil sagte in bestimmtem Ton:"Das geht nicht, was soll ich den Kindern sagen?" denn ihm kam in den Sinn, dass er ihnen erst kürzlich plausibel gemacht hatte, dass es keine Engel gäbe, nie gegeben habe, und auch nie geben werde, und sie nur eine Ausgeburt klerikaler Fantasien seien.
"Aber ums Himmels Willen", dachte er und kniff sich in den Handrücken, "wer war denn dieser komische Vogel da draussen?"
"Wie heissen Sie überhaupt?"fragte er hinaus und wusste, dass es keine sehr gescheite Frage war.
"Cherub", kam die etwas zögerliche Antwort leise zurück. Emil wurde langsam ärgerlich. gab es denn wirklich keine normalen Namen mehr? Dass ihre beiden Kinder Boris und Kevin hiessen, hatte seine Frau durchgesetzt, obwohl ihm Albert und Hugo viel besser gefallen hätten.
"Woher kommst Du denn, Cherub, bist Du etwa vom Himmel gefallen?" fragte er weiter. Er trat einen Schritt auf den Balkon hinaus und suchte die Umgebung ab wo denn möglicherweise eine versteckte Kamera installiert sein könnte. Doch hier befand man sich auf dem einzigen Hochhaus im Umkreis von vielen Kilometern.
Der andere schien völlig durchnässt zu sein und und roch keinesfalls himmlisch, im Gegenteil, er stank geradezu höllisch. "Diese Flugzeuge da oben, versauen uns alle unsere Wege, wie sollen wir euch denn noch die göttlichen Botschaften bringen? Schau mich an, ich bin direkt in den Kerosinstrahl einer El- Al-Maschine geraten und wenn ich nicht im Gleitflug auf diesem Balkon hätte notlanden können. . . !"
Emil war tief erschüttert, er hatte überall, beim Mieterausschuss, an der Betriebs-versammlung und auch in der Kirchgemeinde immer schon die Meinung vertreten, Kerosinablassen vor der Landung sei eine massive Luftverschmutzung, die man dringendst verbieten sollte.
"Mit wem sprichst Du denn da?" rief Emma, die vor dem Nachttisch kniete und darin etwas suchte.
"Ich unterhalte mich eben mit einem gefallenen Engel über die zunehmende Luftverschmutzung", sagte er. "Aber was suchst denn Du in meinem Nachttisch?"
Und er überlegte, ob sich dort nicht etwa eines dieser Hefte, die er sich gelegentlich zur persönlichen Entspannung von seinem Schwager Julius auslieh, entdecken liesse.
"Wo sind denn nur die verflixten Sicherungen?" war Emmas bissige Antwort. Das hatte ja so kommen müssen, wieso musste Tante Lydia unbedingt jetzt ihren neuen Staubsauger ausprobieren, da doch schon Onkel Eddy seinen neuen Computer und die Kinder ihre Roboterspiele und die neue Autorennbahn angeschlossen hatten? Und sie selber würde doch so gerne die neue Nähmaschine mit dem Magic-super-Kunststopf
programm ausprobieren. Es war nicht zum Aushalten und der da steht besoffen auf dem Balkon und spricht mit den Sternen.
"Die Sicherungen, liebe Emma,sind draussen im Korridor, dort, wo sie immer sind: im Wandschrank, links neben der Werkzeugskiste. Das solltest Du doch längst schon wissen," klang es frisch und klar von der Balkontür her. Emma schlug das Türchen des Nachttischchens energisch zu und bald ertönte freudiges Klatschen aus dem Wohnzimmer, als ob Thomas Gottschalk persönlich als Weihnachtsmann erschienen wäre.
"Darf ich mich nicht ein wenig bei euch aufwärmen, solange das Kerosin nicht verdunstet ist, kann ich nicht starten", drängte Cherub, als sie wieder allein waren. "Oder gib mir wenigstens eine warme Decke."
Emil ging zum Kleiderschrank, nicht ohne jedoch vorher die Balkontür sorgfältig zu schliessen. Da war doch diese grün-rot-karierte Wolldecke, mit der die Schachtel mit den Wollresten zugedeckt war, die würde Emma nicht gleich vermissen. Er faltete sie auseinander und reichte sie dem Gast. Cherub bedankte sich eifrig und seine Flügel zitterten erbärmlich.
Als Emil die Frage entglitt: "Wo arbeitest Du eigentlich?"kam ihm in den Sinn, dass diese Frage etwas unpassend war,da arbeiten etwas typisch Irdisches ist. Aber was sollte er denn sonst sagen, er musste sich eingestehen, dass er im Umgang mit dieser Gattung Lebewesen doch recht unbeholfen war, wann trifft man denn schon auf einen echten Engel.
Aber der Beflügelte war keineswegs erstaunt über diese Frage. "Bei der himmlischen Heerscharen G.m.b.H.", antwortete er unbefangen und schlotterte noch immer recht beträchtlich. "Bereits seit einer halben Ewigkeit bin ich dort beschäftigt, doch ich befürchte, es wird möglicherweise nicht mehr lange so bleiben, denn seit geraumer Zeit munkelt von einer bevorstehenden Fusion mit der Luzifer Holding. Doch ich kann nicht so recht
daran glauben, denn die Interessenlage der beiden Betriebe ist meiner Meinung nach doch zu verschieden!"
Emil war ungehalten, immer und überall musste man sich die gleichen Klagen über die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen anhören, es war bald nicht mehr zum Aushalten. Dass sich jedoch diese Verunsicherung nun bereits bis in die höchsten Sphären hinauf verlegt hatte, war buchstäblich die Höhe, man konnte nur hoffen,dass das auf Erden nicht publik wurde, denn wer möchte sonst künftig noch in den Himmel kommen?
Er begann ebenfalls zu frösteln, und als Emma vom Wohnzimmer her ankündete, es gäbe jetzt dann gleich Tiramisu zum Nachtisch, schloss er die Balkontür, nicht ohne noch des Anstandes wegen einen guten Flug gewünscht zu haben, und ging in die überheizte Stube zurück. Die Stimmung war ebenso. Tante Lydia murmelte etwas von: "Es stinkt wie Rohöl oder Benzin", Onkel Eddy summte: "Oh du Fröhliche" vor sich hin und die Kinder stritten sich um die geschenkt bekommenen Comic-Bücher. Kevin stellte beleidigt fest, dass seines vierzehn Seiten weniger habe als das von Boris und dieser stritt es ab, man könne die vier Seiten Werbung nicht dazu zählen, und zudem sei er immer schon zwei Jahre älter gewesen.
Emma stellte mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihren Gatten energisch die bereits halbleer gewordene Eierlikörflasche unter den Salontisch, weil Emil beim Hereinkommen zu sich selber gesagt hatte: "Es ist bedauerlich, aber Engel haben es heutzutage auch nicht mehr so einfach wie auch schon."
Als Emma am nächsten Morgen zu vorgerückter Stunde die Vorhänge zurück zog und zum Durchlüften die Fensterflügel aufriss, sah sie, dass es geschneit hatte, die umliegenden Dächer und die Bäume unten auf der Spielwiese sahen aus, wie mit Puderzucker bestäubt. Die Luft war klar und frostig. Draussen auf dem Balkon lag in der Ecke eine Wolldecke, halb mit Schnee bedeckt. Das war doch die, mit der sie im Schrank die Schachtel mit den Wollresten.... "Wie ist die dahin gekommen?" Verwundert hob sie sie auf und bemerkte auf der Innenseite eine eigenartige, silbrige Staubschicht, die sich bei zweimaligem Schütteln löste und in Form einer glitzernden Wolke davonsegelte.
"Emil, hast Du das gesehen?" rief sie ins Zimmer hinein, und sie zitterte vor Aufregung. "Sag mal, wie war das gestern Abend, als Du auf dem Balkon standest und Selbstgespräche führtest, hast Du da nicht etwas von einem gefallenen Engel gesponnen?" Emil knurrte ewas, drehte sich zur Wand und schlief weiter.