Vom Fliegen
Konrad saß im Klassenzimmer und lauschte den Vögeln. Es war schwer sie hier drinnen zu hören, über den Sermon des Lehrers und das Getuschel der Mädchen hinweg. Es war ein bisschen stickig hier im Klassenzimmer, kein Wunder, es war bereits die sechste Stunde an einem sehr warmen Tag. Draußen war es windstill, weswegen auch die gekippten Fenster für nur sehr wenig Luftaustausch sorgten.
Konrad schloss die Augen. Mit den Vögeln fliegen, nicht weit weg, sondern einfach von Baum zu Baum. Konrad konnte das Zwitschern jetzt besser hören. Ob die Vögel wohl auch zur Schule gehen? Was sie dort wohl lernen? Fliegen? Nein, fliegen mussten sie schon können, wie kommen sie sonst zum Unterricht. Vielleicht lernen sie dort neue Melodien. Und Nestbau. Musik und Handwerken. Und Sport? Sport ist das Fliegen zur Schule.
Konrad lächelte, jetzt stellte er sich eine Vogelklasse vor. Vorne ein größerer Vogel, vielleicht ein Rabe. Und dann die ganzen kleinen Vögel: Meisen und Spatzen und Amseln und Drosseln und so weiter. Hinten der Fink Felix, der nicht aufpasst, sondern seinen Vordervogel, dem Rotkehlchen Robert, in die Schwanzfedern zwickt. Die zwei Amselschwestern, Anne und Kerstin, haben wie immer die Köpfe zusammengesteckt und kichern. Doris die Drossel, sie sitzt extra auf dem vordersten Zweig, passt wie immer vorbildlich auf. Aber jetzt wird es dem Raben zu bunt. Fritz, der Spatz, hat nämlich Simon, dem Star der Klasse, Tinte über seinen gelben Schnabel gegossen. Was der gar nicht lustig findet. „Ruhe!“, schimpft der Rabe und plustert sich entrüstet auf.
„Danke Konrad, du hast Recht, es ist zu laut hier, aber du musst mir nicht helfen.“
„Hm?“ Konrad blickte hoch. Hatte er das gerade laut gesagt? Offensichtlich, denn die ganze Klasse starrte ihn an.
„Tschuldigung.“, nuschelte er und rutschte tiefer in seinen Stuhl.
„Gut, jetzt wo es wieder leise ist“ und sie sah Konrad an, „kann ich ja weitermachen.“, sagte die Lehrerin und wandte sich wieder der Tafel zu.
„Träumst du schon wieder mit offenen Augen?“, stichelte Lars, sein Nachbar von der Seite.
„Lass mich in Ruhe.“, brummte Konrad. Er wollte schnell wieder zu seiner Vogelklasse zurückkehren. Also, wo war er gewesen?
„Das reicht jetzt wirklich!“, sagt Lehrer Rabe empört. „Beruhige dich, Simon, den Schnabel kannst du nachher waschen, das geht wieder ab. Und du, Fritz, hörst jetzt mit so einem Blödsinn auf, sonst bleibst du anschließend noch zum Körner sortieren da.“ Fritz schaut missmutig zur Seite, sagt aber nichts. Es ist sehr langweilig nachmittags die Samen für den Klassengarten zu sortieren.
„Wo ist denn jetzt mein Zeigestab?“, will Lehrer Rabe wissen und blickt sich suchend um.
„Der ist Ihnen runter gefallen als Sie geschimpft haben.“, piepst Doris gleich beflissen.
„Ach so, hm, also dann, benehmt euch während ich ihn kurz suche. Überlegt euch schon mal eine Antwort auf meine nächste Frage.“, und damit saust er in die Tiefe, ohne vorher die Frage gestellt zu haben.
„Da hast du’s Fritz, mach nur weiter so, dann darfst du heute wieder sortieren, das kann inzwischen sowieso keiner so gut wie du.“, keckert Simon hämisch.
„Ach, lass mich in Ruhe!“, erwidert Fritz. Aber es stimmt, er muss vorsichtig sein, wenn er nicht Nachsitzen riskieren will.
„Hör endlich auf so gemein zu Simon zu sein.“, ereifert sich jetzt die Blaumeise Britta, die Simon heimlich anhimmelte. Zumindest denkt sie, dass es ein Geheimnis ist. In ihrem Eifer merkt sie nicht wie Anne und Kerstin die Köpfe zusammenstecken und spöttisch kichern.
„Genau, das führt eh zu nichts. Der Lehrer weiß ganz genau dass du der Störenfried bist und nicht ich.“
„Ha, du bist eben nur ein Feigling, der sich immer hinter seinem Lehrer versteckt. Wahrscheinlich willst du selbst mal Lehrer werden. Siehst ja schon aus wie einer!“
„Was?! Da bist doch du daran schuld! Du hast mir doch den Schnabel schwarz gefärbt!“
Inzwischen hört die ganze Klasse den beiden zu.
„Oohh, Simon wäre sicher ein toller Lehrer.“, schwärmt Britta. Und schon stimmen die zwei Amselschwestern kichernd mit ein: „Ja, sei unser Lehrer, Simon. Zeig mal was du drauf hast.“
Simon zögert.
„Was ist los Simon? Muffensausen? Bist eben doch nur ein Schwätzer.“, reizt Fritz ihn weiter.
Jetzt skandiert die ganze Klasse: „Simon! Simon!“
Es gibt kein Zurück mehr. „Ruhe!“, schreit Simon laut und hüpft nach vorne. Auf einen Schlag sind alle still. Simon sieht richtig böse aus. Haben sie es übertrieben?
„Was fällt euch ein, das ist ja – ich bin entsetzt!“, zetert Simon weiter und klingt dabei genau wie Lehrer Rabe. Die Klasse bricht in schallendes Gelächter aus. Sogar Fritz muss zugeben dass das eine Sehr gute Imitation ist.
„Seid ihr wohl still!“, regt Simon sich auf und hüpft auf der Stelle auf und ab.
„Oder ihr bleibt alle zum Samen sortieren da. Und ich werde ein Wörtchen mit euren Eltern wechseln. Also – sowas habe ich noch nicht erlebt.“, und er plustert sich auf so gut er kann.
„Schön zu sehen dass du eine Karriere im Lehrapparat anstrebst.“, ist aus der letzten Reihe trocken eine Stimme zu vernehmen. Alle fahren herum. Da sitzt Lehrer Rabe und er sieht gar nicht glücklich aus.
„Allerdings denke ich nicht dass du schon bereit bist eine ganze Klasse alleine zu übernehmen. Du hattest sie nicht gerade unter Kontrolle.“
Simon sitzt (inzwischen nicht mehr aufgeplustert) mit trockener Kehle vorne und weiß nicht was er sagen soll.
„Ich habe mich wohl in dir getäuscht, Simon. Aber da du ein so großes Interesse am Unterrichten zu haben scheinst, schlage ich vor dass du heute länger dableibst und wir unterhalten uns über Unterrichtsmethoden, während du Samen sortierst. Und jetzt zurück auf deinen Platz. Wir haben schon zu viel Zeit verloren.“
Bedröppelt schleicht Simon auf seinen Platz zurück.
„Das ist alles nur deine Schuld!“, zischt er in Richtung Fritz.
„Schon möglich.“, sagt der grinsend, „Aber so ist das eben wenn man der Star sein will. Man kann es nicht allen Recht machen.“
„Da hat er wohl recht.“, dachte Konrad. Also, eigentlich sprach er es laut aus. Die Klasse um ihn herum brach in schallendes Gelächter aus.
„Glaubst du das wirklich?“ fragte seine Lehrerin, mit leicht amüsiertem Gesichtsausdruck.
„Was?“, schreckte Konrad hoch. Offensichtlich hatte er etwas nicht mitgekriegt.
„Was hat sie gesagt?“, fragte er mit rotem Gesicht seine Nachbarn. Aber die waren noch mit Lachen beschäftigt und konnten deshalb nicht antworten.
„Ach, heute passt aber auch keiner von euch auf.“ Die Lehrerin resignierte. „Naja, es sind nur noch zehn Minuten. Vielleicht machen wir Schluss für heute.“
Das brauchte sie nicht zweimal zu sagen, schon packten alle ihre Sachen zusammen und fingen an zu reden.
„Ach Konrad, nur so aus Neugier: Wovon hast du eigentlich in meiner Stunde geträumt?“, wollte sie noch wissen.
„Von Schulunterricht.“, sagte Konrad nach kurzem Überlegen und musste grinsen.