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Vom Fliegen und Fallen
Es gibt nur einen Moment. Einen Moment im Leben, in dem du dich entscheiden musst. Einen Moment, der zählt. Es wäre so einfach, wenn du diesen realisieren würdest, während er geschieht. Doch meist gehört dieser Moment der Vergangenheit an und du bemerkst erst von welcher Bedeutung er war, wenn du die falsche Entscheidung getroffen hast. Du bereust es und willst mit jeder Faser deines Körpers die Vergangenheit ändern. Zurück zu dem Zeitpunkt kehren, der dich gerettet hätte, vor dem Unglück bewahrt hätte. Doch es ist zu spät. Du fällst.
Die Suppe war schon kalt und versalzen. Der Regen prasselte unregelmäßig gegen das gekippte Küchenfenster. Meine Mutter stand auf und schloss es, um mich vor den Regentropfen zu schützen. Sie legte ihre Küchenschürze an und widmete sich wieder ihren besorgniserregenden Kochkünsten. „Dass es im Frühling noch so abkühlt, hätte ich nicht erwartet“, murmelte sie, während ihre Hände gewaltsam das innere des toten Huhns mit einer Apfel Maroni Füllung stopften. Bei dem Anblick stieg in mir leichte Übelkeit auf und ich schob angewidert meinen Suppenteller von mir. Meine Mutter blickte mich verwirrt an: „Keinen Hunger heute?“ Ich zuckte mit den Schultern und verließ den Esstisch, um in mein Zimmer zu verschwinden. Mutter blickte mir nur kopfschüttelnd nach. Sie hatte meine Art, mit den Dingen umzugehen, noch nie wirklich verstanden. Dennoch akzeptierte sie es und ließ mir meist meinen Willen. Sie liebte mich, das war mir durchaus bewusst, auch wenn sie nicht besonders gut darin war, es zu zeigen. Ihre Liebesbotschaften verbargen sich in versalzenen Suppen und gelegentlichen, sorgenvollen Blicken.
Ich setzte mich auf meine Fensterläden und begann, den Regen zu beobachten. Es beruhigte mich, der Tag fühlte sich alltäglicher, erträglicher an. Dunkles Raunen, heißer Atem, das leise Quietschen der kaputten Sprungfedern. Ich versuchte, mich selbst wieder mit dem Hier und Jetzt zu konfrontieren. Aber meine Gedanken drifteten immer wieder ab. Der Regen schien kein Ende zu nehmen. Die Vogelmama, welche schon seit Anfang März ihr Nest in der hohen Birke aufgebaut hatte, versuchte, ihre Kinder und sich selbst vor dem Sturm zu schützen. Sie breitete ihre Flügel aus und zog den kleinen Schnabel in Richtung ihres bauschigen Körpers. Man sah ihr jedoch an, dass sie nicht kräftig genug war, um all ihre Jungen in diesem schmächtig gebauten Nest zu behalten. Es war vorhersehbar, dass ein Kind stürzen würde, aber das war in Ordnung. Vielleicht würde es ja so lernen zu fliegen.
„Schatz!“ Ich schreckte hoch und richtete meinen Blick auf die Zimmertür. „Schätzchen warum antwortest du denn nicht? Ich habe gefragt, ob du auch Kuchen möchtest. Peter kommt heute endlich wieder und zur Feier des Tages habe ich sein Leibgericht gebacken.“ Natürlich kommt er heute wieder. Er kommt jeden ersten Donnerstag im Monat. Ich schüttelte nur den Kopf und richtete meinen Blick wieder nach draußen. „Die Jugend müsste man mal verstehen“, murmelte meine Mutter, während die Tür hinter ihr leise ins Schloss fiel. Dieses Geräusch löste bei mir ein nervöses Zucken aus. Konzentration. Ab morgen ist alles anders. Ab morgen bin ich frei. Frei von klickenden Türschlössern, quietschenden Sprungfedern und dem stechend heißen Atem an meinem Ohr. Frei von all dem Kuchen und der vorgespielten Fürsorge. Ich werde wie Regen im Frühling sein, unregelmäßig und unerwartet. Frei.
Als ich klein war, backte meine Mutter öfters ihren berühmten Rhabarberkuchen, das einzige, was sie beherrschte. Alle liebten ihn und ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Ich fühlte mich mit jedem Stück mehr geliebt und sie mit jedem weiteren mehr akzeptiert. Es war unsere Art, miteinander ins Reine zu kommen. Dieses Konzept war unzerstörbar, jedenfalls dachte ich das. Kuchen kann mit der Zeit eine komplett andere Bedeutung gewinnen. Meine Mutter war nach einer Weile nicht mehr im Reinen. Weder mit sich selbst, noch mit allem anderen. So lange, bis Peter in ihr Leben kam. Derjenige, der ihr Leben wieder lebenswert machte. Die Liebe ihres Lebens. Da war es dann plötzlich aus mit der Kuchenverkostung. Es gab nur noch welchen, wenn er zu Besuch war. Und er nahm sich auch reichlich davon, denn er war ein Mann, der immer das bekam, was er wollte, auch wenn es nie genügte. Ich konnte gierige Menschen noch nie leiden.
Ich blickte auf die tickende Standuhr in meinem Zimmer. Sechs Uhr abends. Die Zeit verflog. Ich sprang von meinem Fensterbrett und begab mich in mein Bett. Auch wenn es unter meiner Decke heiß wie in einer Sauna war, zitterte ich am ganzen Leib. Es soll aufhören. Ich will, dass es aufhört. Dunkles Raunen, heißer Atem, quietschende, kaputte Springfedern. Das Klicken des Türschlosses. Gleich war es vorbei. Aber nein, es hatte noch nicht mal begonnen. Es war 18:10. Ich schloss meine Augen und dachte an einen warmen Sommertag. Die Vogelmama fliegt um ihr Nest herum, ihre Jungen zirpen ihr fröhlich entgegen. Die Sonne schien und alles wirkte, als wäre es in Ordnung. Das Gras schimmerte, die Blätter wehten im Wind, die Erde und ihre gesamte wundervolle Natur schienen im Einklang mit sich selbst. Der Regen war fort. Er wurde von dem strahlenden, gelben Ball am Himmel verdrängt. Das Leben war in Ordnung, es war sogar mehr als das. Es war schön.
Das Klicken des Türschlosses. 23:05. Pünktlich auf die Minute. Das dunkle Raunen, der stechend heiße Atem, die quietschenden, alten Sprungfedern. Ich fühlte nichts, weder ihn noch mich selbst. Das Klicken des Türschlosses. Die Stille. Sie war lang und qualvoll. 23:50. Es war soweit. Ich streifte mir mein Nachthemd über und schlüpfte in meine Hausschlapfen. Die Treppen zum Dachgeschoss wurden fast nie genutzt, weswegen sie ächzende Geräusche von sich gaben. Ich erreichte die schwere Tür des Dachbodens und stieß meinen Fuß dagegen. Sie war leichter zu öffnen als gedacht. Meine Beine führten mich zu dem großen Fenster am Ende des Raumes. Es war verschmutzt und dreckig, als ich es öffnete, fielen Staubwölkchen auf meinen Handrücken. Die Nacht war kühl und klar. Die Regenwolken hatten sich zurückgezogen. Auch der Mond war zu erkennen. Es war, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich zog meine Füße aus den Hausschuhen und spürte die Rückstände des Regens, der auf dem Fenstersims ruhte, auf meiner nackten Haut. Mein Körper richtete sich langsam auf, der Wind wehte Haarsträhnen aus meinem Gesicht. Hatte es wieder angefangen zu regnen? So salzig, die Tropfen. So feucht, mein Gesicht. So einfach, der Schritt. Wie die Vögel, wollte auch ich fliegen, nur einmal in meinem Leben. Der rechte Fuß in der Luft. So knapp vor dem Abgrund, jedoch so nah zur Freiheit. Ich sprang.