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Vom Erstarren
Der Morgen graute. Es versprach ein freundlicher, sonniger Tag zu werden, soweit man das am klaren Himmel ablesen konnte, der ohne eine Wolke war.
Sie hatte wieder auf dem Sofa geschlafen und trug noch die Kleidung des letzten Tages. Selbst ihre Schuhe aus dünnem Leinenstoff hatte sie nicht ausgezogen.
Der Fernseher lief stumm, das Licht brannte.
Auf der Seite liegend, die Beine angewinkelt, einen Arm unter den Kopf geklemmt, beobachtete sie regungslos, wie der Himmel von einem diffusen bleigrau zu immer freundlicheren Tönen aufhellte.
Sie dachte an die Ferien ihrer Kindheit, in der diese sechs Wochen im Sommer kein kurzer Abschnitt eines schnell durchlebten Jahres waren, sondern ewig währende, weitläufige Zeit-Inseln in einem Meer aus Möglichkeiten.
Damals begrüßte sie jeden Morgen mit einem persönlichen Handschlag.
Was war nur mit dem Phänomen der Zeit geschehen?, fragte sie sich.
Wo sich damals Ewigkeiten auftaten, begegnete sie sechs Wochen heute mit einem gleichgültigen Schulterzucken.
Aus dem Handschlag am Morgen war im besten Fall ein Weiterwinken geworden, zumeist jedoch ein spontanes Abwinken.
Ihr Mund war trocken, sie spürte das Verlangen, nach dem Rest des Wein-Wasser Gemisches zu greifen, welches vor ihr auf dem Wohnzimmertisch stand – doch hatte sie Bedenken, ihre Starre zu durchbrechen.
Dynamik in jeder Form war ihr fremd geworden. Selbst der Griff zum Glas war ein Kraftakt, der zunächst geplant und anschließend geleistet werden musste.
Das Bild eines kleinen Beutetieres kam ihr in den Sinn, welches angesichts des Greifes, des Fuchses, der Schlange nicht um sein Leben rennt, sondern um sein Leben erstarrt, unsichtbar wird.
Ihr persönlicher Fressfeind war der Alltag.
Es waren keine außergewöhnlichen, kraftraubenden Dinge, die ihr die Fähigkeit und den Willen raubten, am Morgen aufzustehen.
Es waren die zermürbenden Kleinigkeiten. Das Zähneputzen. Der Weg durch den Hausflur. Die Bedienung der Kaffeemaschine. Das Vibrieren ihres Telefons, welches sie seit Tagen konsequent ignorierte.
Der Tag hatte sich inzwischen voll entfaltet und hielt sein früheres Versprechen.
Die Sonne schien durch die trübe Fensterscheibe und malte verspielte Muster auf die Tischplatte vor ihr.
Sie starrte an die gegenüberliegende Wand – ohne einen Wimpernschlag seit Ewigkeiten.
Auch das Starren hatte seine Vorteile. War die körperliche Unbeweglichkeit ein Schutz gegen die Anforderungen des Alltags, besänftigte das Starren das penetrante Kreisen unscharfer Bilder vor ihrem inneren Auge, welche eine hintergründige Bedrohlichkeit mit sich brachten, die sie sich nicht erklären konnte.
Sie litt nicht in einer klaren, offensichtlichen Form. Auch verspürte sie keine Traurigkeit, keine Schuldgefühle oder Scham.
Die Lähmung war eine effektive Taktik gegen den Druck der verstreichenden Tage und ihr war trotz allem bewusst, dass diese Taktik komplett unvereinbar mit jeglichen Anforderungen des Lebens war.
Es klingelte an der Tür.
Der Greif, der Fuchs, die Schlange – sie schlugen zu in diesem Moment.
Der schrille Ton bohrte sich ungebremst in ihren Kopf, er kam einher mit dem Beigeschmack von Forderungen und Verpflichtungen sowie von der unendlichen Mühe, die es sie kostete, den persönlichen Kontakt mit Menschen auszuhalten.
Der Impuls, einfach noch ein wenig mehr einzufrieren, den Atem anzuhalten und die Situation so zu überstehen, war mächtig.
Was jedoch noch mächtiger erschien, war ein lebenslang geübtes, aufkonditioniertes Pflichtgefühl: Wenn es klingelt, geht man an die Tür und öffnet. Der Zwang der lauten Türklingel schien ihr ein größerer zu sein als der ihres nur vibrierenden Telefons.
Die alte Gewohnheit siegte. Nach kurzem Zögern erhob sie sich und war auf den Beinen.
Kurz ging ihr Pavlovs sabbernder Hund durch den Kopf, der unwillkürlich mit Speichelbildung auf den Ton einer Klingel reagiert, die Futter verspricht.
Der Eindruck, dass sie inzwischen fast nur noch mechanisch funktionierte, verstärkte sich.
Ihr Kreislauf kam schleppend in Gang, Schwindel verlangsamte ihre Schritte, als sie den kurzen Weg durch den Flur zur Wohnungstür hinter sich brachte.
Widerwillen, Abneigung überkamen sie, als sie den Summer drückte, der den Weg in den Hausflur freigab und sie die schnellen, nachdrücklichen Schritte des Postzustellers die Treppe hinaufpoltern hörte.
Ohne ihr ins Gesicht zu schauen ließ der gehetzt wirkende, schwitzende Mann sich ein kleines Paket quittieren und übergab es ihr zusammen mit einem Einschreiben, auf dessen Umschlag sie bei einem flüchtigen Blick als Absender die Adresse ihrer Mutter erkannte.
Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ das Paket achtlos auf den Tisch gleiten.
Der Drang, sich aufs Sofa zurückzuziehen und den Prozess des Erstarrens erneut in Gang zu setzen, war fast übermächtig.
In den letzten Tagen hatte sie eine seltsame Angst davor entwickelt, sich nachts ins Schlafzimmer und in ihr Bett zu begeben. Im Bett, so ihre Befürchtung, in dem Wust aus Kissen und Decken, könnte es passieren, dass die Starre sie so vereinnahmen würde, dass sie ihr am Ende nichts mehr entgegenzusetzen hätte - und das Aufstehen somit endgültig ein Ding der Unmöglichkeit werden könnte.
Deshalb bevorzugte sie das „sicherere“, weil äußerst unkomfortable Sofa.
Den Umschlag hielt sie noch in der Hand.
Es war das erste Mal, dass ihre Mutter ihr schrieb. Solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte seit ihrem Auszug jeglicher Austausch übers Telefon oder im Zuge der seltenen Treffen stattgefunden. Ihre Mutter lebte weit entfernt in einer süddeutschen Großstadt.
Sie erinnerte sich verschwommen an die Penetranz und Häufigkeit, mit der in den letzten Tagen das Telefon vibriert hatte und fühlte ein leises Gefühl der Betroffenheit in sich aufsteigen.
Der Text war knapp und nüchtern. Er enthielt keine Information zu wenig, keine zu viel.
Ihr jüngerer Bruder, der seine Ausbildung nahe der Heimatstadt ihrer Mutter absolvierte, sei bei einem Autounfall schwer verletzt worden.
Er liege auf der Intensivstation in einem Krankenhaus der Landeshauptstadt.
Man warte auf ihr Eintreffen, so schnell wie nur möglich. Ein Zimmer sei bereits reserviert.
Sie las die Worte zweimal, legte den Bogen dann zur Seite.
Die Emotionsflut angesichts der Nachricht blieb aus.
Um dieser eine zweite Chance zu geben, verharrte sie und horchte in sich hinein, hoffte auf ein Heranrollen von Besorgnis, Mitgefühl oder zumindest irgendeiner eindeutigen Rückmeldung ihrer inneren Systeme.
Diese kam nicht.
Ihr kleiner Bruder war ihr stets nahe gewesen. Auch wenn ihre Verbindung durch die große Entfernung zeitweise für mehrere Wochen abbrach, konnte sie sicher sein, dass nichts fremdes oder distanziertes zwischen ihnen stand, wenn sie sich anschließend wiedersahen oder telefonierten.
Die Vorstellung dieses energiegeladenen, manchmal fast hyperaktiv wirkenden Menschen in einem Bett auf der Intensivstation schien ihr so grundlegend falsch zu sein, dass ein klares Bild davon sich nicht einstellen wollte.
Vor ihrem inneren Auge sah sie sich ihre Sachen packen, die Wohnung verschließen, in das Taxi zum Bahnhof steigen, die lange Zugfahrt absolvieren.
Sie sah ihre Mutter vor sich, die sie am Bahnsteig in Empfang nehmen würde, den Weg zum Krankenhaus, die sterilen Gänge, das Krankenzimmer, das Bett, die Geräte – nur ihr Bruder selbst passte beim besten Willen nicht in die Szenerie.
Endlich fühlte sie angesichts dieser Vorstellung, wie Regungen begannen durch ihre innere Sperre zu sickern.
Eine Mischung aus Angst, Unglauben und Besorgnis stieg in ihr auf. Ein unangenehmes Kribbeln der Unruhe setzte ein und startete einen Aktionismus, den sie verblüfft zur Kenntnis nahm – so fremd war er ihr geworden.
Sie könnte den Zug, der gegen Mittag fuhr, noch erreichen, wäre dann abends vor Ort.
Um zu packen bliebe ihr eine halbe Stunde Zeit.
Wahllos und fahrig begann sie, Kleidung in eine abgenutzte Reisetasche zu stopfen und Bargeld aus den Taschen getragener Jeans zusammenzutragen.
Je länger ihr Tatendrang anhielt, desto deutlicher spürte sie, wie ihre Bewegungen langsamer wurden, schwerfälliger und ungerichteter.
Als sie ins Bad ging, um dort die letzten nötigen Dinge zu holen, verharrte sie in der Tür, hatte vergessen was zu tun war. Ratlos griff sie nach einem Handtuch, ließ es durch ihre Hände gleiten, legte es zurück. Ihr Gesicht im Spiegel war ausdruckslos, sie schaute rasch wieder weg.
Schließlich ließ sie sich auf den Rand der Badewanne sinken und saß dort lange. Starrend.
*
Die Dämmerung, die auf den freundlichen, sonnigen Tag folgte, schlich sich durch die trüben, ungeputzten Fensterscheiben ihrer Wohnung.
Der Tag ging farbgewaltig zu Neige, in Tönen, die so intensiv waren, dass sie unecht wirkten.
Auf der Seite liegend, die Beine angezogen, einen Arm unter den Kopf geklemmt, beobachtete sie das Schauspiel vom Sofa aus.
Regungslos.