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Vom Einwecken und Konfitürekochen
Michael mochte es, seine Haare lang wachsen zu lassen. Das sah manchmal merkwürdig aus, da er einen langen Seitenscheitel hatte und er das regelmäßige Waschen der Haare als überflüssig betrachtete. Hätte man ihn gefragt, warum er es mochte seine Haare wachsen zu lassen, hätte er wohl geantwortet, er wisse es nicht. Es fragte ihn aber niemand und so konnte er diese gehaltlose Antwort auch nicht geben.
November 1983. Michael, Jahrgang 72, war mit seiner Schwester und seiner Mutter bei den Schwiegereltern der Schwester, die wohnten fünfzehn Minuten entfernt, in der Nähe der Schule, welche Michael besuchte. Michael dachte oft, irgendwie ist alles in der Nähe und doch so weit weg. Es gab schwarzen, süßen Tee und Gebäck, selbstgebacken, gerollte Waffeln, welche in großen Dosen aufbewahrt wurden. Die Schwiegermutter der Schwester war bemüht freundlich zu den Gästen. Der Schwiegervater war bemüht still und starrte Michael unentwegt an, währenddessen er seinen Tee schlürfte. Nach gefühlten Stunden gingen die Frauen in die Küche, redeten über das Einwecken und über das Konfitürekochen.
Michael saß mit diesem merkwürdigen, bedrohlichen Mann alleine in der Wohnstube. Das Gesicht des Mannes war für Michael rätselhaft. Inhaltslos und doch gleichzeitig voll stumpfen Zorns. Der konnte auch gar nicht anders aussehen, dachte Michael, der sieht immer so aus, wohl weil er die Welt oder die Menschen nicht versteht, nicht verstehen kann, weil der irgendwas im Leben erlebt hat, das ihn dazu brachte, seine Mitmenschen so zu betrachten. Vielleicht in diesem ominösen Krieg, von den die Alten oft redeten. Während dieser fremde Mann Michael betrachtete, kopfschüttelnd musterte, Tee schlürfend fixierte, breitete sich in Michael ein Gefühl aus, dass etwas nicht mehr stimme und gleich etwas Unschönes passieren werde. Der Junge hielt es nicht mehr aus und wollte aufstehen und in die Küche zu den Frauen gehen, was der Mann sich aber verbal verbat und derselbe stand auf, ging kurz raus und kam mit einem Handtuch und einem elektrischen Rasierer wieder zurück. Er schnappte sich den verängstigten Jungen, setzte ihn auf einen Esszimmerstuhl, legte ihm das Handtuch um den Hals und begann die schönen fettigen Haare zu rasieren. Michael tat nichts. Starre. Der Mann seinerseits schien aufzublühen, pfiff, seine Mimik entwickelte sich und er sah aus, als habe er einen wichtigen Sieg an der Front errungen und das einzig richtige, das was Deutschland in diesem Moment benötigte, zum Überleben in der Ewigkeit, vollbracht habe. Der, die Kultur rettende Friseur, nahm eine Siegerpose ein, die er vor 40 Jahren wohl das letzte Mal eingenommen hatte, als er noch für das Tausendjährige Bücher verbrannte und sich zur einzig wahren Rasse zählte.
Als die Frauen wieder in die Wohnstube kamen, war Michaels Mutter erstaunt, erstaunt über die Glatze, die der Junge vor zehn Minuten noch nicht hatte. Der Friseur schmetterte, wie vom Ton einer Fanfare begleitet, er habe dem Jungen mal einen richtigen Haarschnitt verpasst, was ja wohl längst von bitterer Not gewesen sei und grinste triumphierend debil. Seine Mutter nahm Michael an die Hand, sie zogen ihre Jacken an und gingen ohne ein Wort hinaus. Sie wusste nichts zu sagen, war nur kontrolliert empört, doch sie sagte nichts. Dem Patriarchat sei es gedankt. Die Schwester kam hinterher und strich dem Skalpierten über den Kopf, sie meinte es gut, war hilflos. Michael blickte sie an, sie verstummte. Der kahle Junge war voll Wut. Er zitterte und weinte trocken. Er hasste diesen Menschen und in ihm war es düster erleuchtet zur Gewissheit geworden, wie nie ein Gefühl zuvor in seinem Leben, dass es genau das richtige Gefühl war, welches er diesem Menschen gegenüber empfand. Daran gab es nichts zu rütteln, nichts zu schönen, nichts zu erklären. Dieses Gefühl gehörte genährt und sollte diesem Menschen gewidmet werden und so, merkte sich Michael dieses Haus und er merkte sich diese Fenster und den Namen dieses Mannes und schwor, schwor auf sein Leben und seine Freiheit, er werde hierher eines Tages zurückkehren und die Fenster und den Postkasten mit Hundescheiße beschmieren und auffüllen. Vielleicht auch mit der eigenen, das würde noch entschieden. Rache. Er wollte sich dafür rächen, rächen auch dafür, dass er nicht weggelaufen war. Was wirklich einmal geschehen sollte, welche Art der persönlichen Rache dieser Mann über sich ergehen lassen musste, dass konnte sich Michael an diesem dunklen Tage im November nicht vorstellen und sie zu beschreiben, hat in dieser Geschichte keinen Raum, denn dann würde Michael in einem Licht erscheinen, welches dem Leser ihn so getrübt zeichnen ließe, dass er nicht fortführe zu lesen.
Für ein paar Monate war es auf dem Kopf noch kälter als sonst. Michael bekam eine wollene Mütze. Über das Thema wurde nicht mehr geredet. Michael hasste Mützen. Er war eitel, doch er trug sie und es wurde sich etwas ausgedacht, irgendwas mit Läusen und dem Resultat wurde eine Notwendigkeit angehängt.