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Vollmond
„Ich schwöre dir, ich habe etwas knacken gehört.“ Tina stemmte die Hände in ihre Hüften. „Mein Gott, was wird das schon gewesen sein?“ Er verdrehte genervt die Augen. Da wollte man einmal mit seiner Freundin campen und dann veranstaltete die mitten bei Nacht so ein Theater. War doch normal, dass es in der freien Natur knackte.
„Das war bestimmt ein Wildschwein“, foppte er sie und schmunzelte über ihre weit aufgerissenen Augen, „Das kommt, um dich zu fressen.“
„Das ist nicht witzig, Robbie“, sie war jetzt den Tränen nahe, „Bitte schau mal nach, okay?“ Widerwillig stand er auf und wühlte im Rucksack nach seiner Taschenlampe. „Na gut“, gab er klein bei, „Aber nur, damit du Ruhe gibst.“
Er verließ das Zelt und leuchtete die Umgebung ab. Ein paar Glühwürmchen schwebten durch die kalte Nachtluft. „Da ist nichts“, rief er. „Schau noch mal genau. Ich bin mir sicher, ich habe etwas gehört“, kam es aus dem Zelt. Er ging auf den Waldrand zu. Bei den ersten Bäumen blieb er stehen und lauschte. Grillen zirpten. Eine Eule heulte irgendwo zwischen den Ästen. Dieses Mädchen war paranoid. Er sollte es sich in Zukunft genau überlegen, bevor er mit ihr zelten ging.
In diesem Augenblick zerriss ein markerschütternder Schrei die Stille.
„Tina?!“ So schnell er konnte, lief er zum Zelt zurück. Hatte er doch ein Tier übersehen? Der Eingang des Zeltes stand offen. „Tina?“ Ein metallischer Geruch schlug ihm entgegen. Er leuchtete hinein. „Tina, alles in Ordnung? Ich...“ Das Zelt war leer! Mit pochendem Herzen krabbelte er hinein. Augenblicklich saugte sich der Stoff seiner Jeans mit einer Flüssigkeit voll. Er sah an sich herab. War das etwa...? Er keuchte. Auf dem Boden des Zeltes breitete sich langsam eine dunkelrote Lache aus. Genauso schnell, wie er in das Zelt gekrabbelt war, robbte er auf allen Vieren wieder hinaus. Sein ganzer Körper zitterte. Die Taschenlampe mit beiden Händen fest umklammert, leuchtete er die Lichtung ab. Die Glühwürmchen! Sie waren verschwunden!
Orientierungslos stolperte er durchs Gras. „Tina?“ Keine Antwort. “Tina, wo bist du?“ Doch so sehr er sich auch drehte und wendete, seine Freundin war wie vom Erdboden verschluckt. Zum Auto, dachte er und beschleunigte sein Tempo, während er mit der Taschenlampe die besonders hohe Fichte suchte, hinter der er seinen Corsa geparkt hatte. “Tina! Verdammt!“ Erschöpft japste er nach Luft. War sie einem Raubtier zum Opfer gefallen? Oder steckte etwa ein Psychopath dahinter? Er schauderte, lief schneller. Bloß nicht stehen bleiben.
Da, die Fichte! Etwa dreißig Meter vor ihm ragte der gewaltige Baum in den Himmel.
Plötzlich entdeckte er abseits etwas im Gras. Es sah aus wie ein Bündel. Vielleicht ein Hinweis? Er verlangsamte sein Tempo und kniff die Augen zusammen, ließ das Licht der Taschenlampe darüber streifen. Vorsichtig schlich er sich näher heran. Es lag ganz still. Näher. Ein Fellknäuel? Noch näher. An einer Seite war es nackt...
Er blieb abrupt stehen. Blankes Entsetzen lief ihm eisig den Rücken hinunter, sein Puls setzte aus. Die Taschenlampe glitt ihm aus den Fingern, plumpste ins Moos. Ihr Licht fiel genau in die leeren Augenhöhlen des Kopfes, der vor ihm lag.
Er schrie!
Obwohl er die entstellte Fratze nicht anschauen wollte, konnte er seinen Blick nicht davon lösen. Das Muttermal an der Oberlippe! Vor wenigen Stunden hatte er es noch geküsst. Er sackte zusammen, würgte. Ein saures Rinnsal lief ihm aus dem Mund und tropfte ins Gras.
Just in dem Moment knackte es hinter ihm. Er wirbelte herum. Im fahlen Licht des Vollmonds erkannte er die Umrisse einer vierbeinigen Gestalt, die knurrend auf ihn zu kam. Er sprang auf, trat dabei auf die Taschenlampe und rutschte darauf aus. Beim Versuch, sich abzufangen, knickte sein rechter Fuß um. Er jaulte, biss sich auf die Zähne. Trotz des quälenden Pochens in seinem Knöchel rannte er los.
Zur großen Fichte! Schneller! Seine Kehle schnürte sich zu. Knurren hinter ihm, Geräusche von Tatzen, die über den weichen Grund hechteten. Noch schneller! Seine Lungenflügel standen in Flammen und bei jedem Schritt biss der Schmerz in seinen Knöchel. Wo war diese verflixte Fichte? Jetzt bloß nicht die Orientierung verlieren! Die Tatzen kamen näher. Er warf einen flüchtigen Blick über seine Schulter, was sich sofort als fatalen Fehler entpuppte. Ein abgebrochener Ast ließ ihn stolpern und er stürzte. Verzweifelt versuchte er aufzustehen, doch die jähen Schmerzen in seinem Fuß ergriffen sein ganzes Bein und er fiel erneut. Auf allen Vieren krabbelte er weiter, rutschte immer wieder ab. Schweiß rann ihm den Nacken hinunter. Die dunkle Kreatur holte ihn ein, packte seinen Oberkörper mit ihren riesigen Pranken. Er schrie, zappelte, versuchte sie mit seinen Füßen wegzustoßen. Ihre messerscharfen Krallen bohrten sich durch sein Sweatshirt. Sein ganzer Körper schmerzte unter dem Gewicht der Bestie. Er drückte seine Hände mit aller Kraft gegen ihren Körper, doch es war vergeblich. Ein schleimiger Sabberfaden lief ihm ins Gesicht, als sie ihre Reißzähne bleckte. Ihre blutroten Augen funkelten triumphierend. War da wieder dieser metallische Geruch? Alles um ihn herum drehte sich. Aus seinem Augenwinkel sah er die Baumkronen der Fichten, von denen eine besonders hoch war. „Hilfe“, brachte er noch krächzend hervor, als ein schwarzer Schleier sich über ihn ausbreitete und ihn in einen dunklen Strudel hinein zog.
Ganz weit entfernt hörte er das schaurige Heulen eines Wolfes.