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Vollkommene Klarheit
Als ihr klar wurde, er starrte sie genauso an wie sie ihn, dachte sie kurz daran ihren Blick zu senken, empfand es aber als unnötig auf diese Weise etwas so offensichtliches verbergen zu wollen.
Als er bemerkte wie sie ihn anstarrte war er so überrascht darüber, er konnte nichts tun als in gleicher Weise zurückstarren. Seine Verwunderung wuchs weiter als er nach einigen Augenblicken feststellte, dass sich an der Konstellation nichts änderte. Er wartete darauf dass sie ihren Blick abwenden würde, aber es geschah nicht.
Langsam wurde sie nervös. Es war ihr unmöglich das Starren zu beenden. Die Peinlichkeit darüber, dass er ihren Blick bemerkt hat, ihn erwiderte, trieb ihr das Blut dicht unter die Haut und rötete ihr Gesicht. Ihr Verstand sah die Situation klar und schrie ihr entgegen sie solle doch agieren. Ihre Augen blieben auf ihn geheftet.
Wie zwei Eisstatuen, befand er, bewegungslos, gefesselt von der überwältigenden Erkenntnis über ihre sich völlig im Einklang befindenden Regungen, standen sie sich im Raum gegenüber, getrennt durch Meter, Bar und Menschenmenge, verbunden durch einhundertprozentige Eintracht der Empfindung für die Person am anderen Ende des Blickes. Noch nie hatte er so eine Situation erlebt. Kein Ausweg wollte ihm einfallen, nichts konnte diesen Kontakt brechen, diese Situation auflösen. Er wollte zu ihr und etwas sagen aber er wusste nicht nur nicht was sondern auch nicht wie. Sie würden sich gegenüberstehen bis alle anderen gegangen waren, bis die Bar zusperrte, ja bis sie verfiel, bis der Planet begann auseinander zu bröckeln und in die Sonne zu stürzen. Bis über die Ewigkeit gefangen in diesem Moment.
Ihr Verstand begann die Windungen ihres Gehirns blutig zu kratzen um sie zum handeln zu bewegen. Doch selbst die schärfsten Gedanken die durch ihre Synapsen schnitten konnten ihre Stasis nicht beenden. Sie wollte fliehen, explodieren, versinken, sich übergeben, losschreien, Hallelujah singen, alles, nur keinen Moment mehr so verharren. Sie fühlte sich glühen, wie im Fieber, wollte Kühlung suchen und konnte doch nur weiterstarren. Niemals zuvor hatte sie in einem einzigen Augenblick einen Menschen so vollständig erkannt und war sich ihrer Emotionen so klar und eindeutig bewusst.
Er überdachte seine Möglichkeiten und kam doch nicht über Punkt Eins auf der Liste hinaus: Zurückstarren. Er war kein emotionaler Mensch, auch kein toter Klotz, aber auf keinen Fall jemand der sich von seinen Gefühlen so lähmen lies. Ihm kamen Zweifel. Er täuschte sich. Da war keine Übereinstimmung seines Geistes mit dem ihren. War gar nicht möglich. Nicht in der Welt in der er lebte, in der die Physik ohne Meta regierte. Er würde seinen Blick senken. Bald.
In ihr stieg Panik hoch.
Mit einem Ruck drehte er sich von ihr weg, machte einen Schritt zu einem Hocker und lies sich fallen.
Ihr rasendes Herz setzte aus, verharrte und sprang plötzlich mit verminderter Schlagzahl wieder an, pochte aber so fest als wäre es zur doppelten Größe angeschwollen, schlug fest wie Boxer im Ring. Ihre Röte wich und der Schweißfilm der vorhergehenden Hitze brachte sie in kürzester Zeit zum frösteln. Auf schwachen Knien schlurfte sie von ihm weg.
Seine Gedanken rasten. Seine erste Intuition war richtig. Sie war es nicht. Doch, aber hatte es zerstört. Hatte nichts zerstört, denn da war nichts. Dachte er zu wissen was sie dachte oder wusste er zu denken was sie wusste oder dachte sie etwas ganz anderes als er dachte zu wissen? Dachte sie was er dachte oder dachte sie das Gegenteil. Er warf einen Blick über die Schulter, doch sie war weg.
Sie fühlte sich neugeboren. Wenn er nun auf sie zugegangen wäre, etwas gesagt hätte, sie hätte es nicht ertragen. Sie war sich sicher er würde genauso empfinden wie sie. Plötzlich wurde ihr klar was das bedeutete. Sie wusste seine Gefühle waren dieselben, also brauchte sie nichts zu fürchten. Wenn er genauso empfand, gab es kein Problem.
Er wusste, er hatte Recht. Recht mit seinem ersten Gedanken. Er hatte es gespürt, es war real. Er war sicher, sie waren beide von der gleichen Einsicht beseelt. Er stand auf um sie zu suchen und es ihr zu sagen.
Sie drehte sich um, wollte zu ihm gehen, lächeln und es ihm mitteilen. Jemanden so zu erfahren und gleichzeitig die Gegenseitigkeit so zu spüren war eine Offenbarung. Das Leben wäre einfach, wäre es immer so.
Die Einmaligkeit dieses Ereignisses spülte Wogen des Glücks durch seinen Verstand. Es konnte nur einmal passieren. Es einmal zu erleben schloss aus Prinzip eine Wiederholung aus.
Sie standen sich gegenüber, lächelnd im Wissen über das was der andere sagen würde. Die Eindeutigkeit des Gefühles machte ihnen das Finden der Worte leicht. Sie sprachen gleichzeitig, erwarteten dieselben Worte und hörten die des anderen im ersten Augenblick gar nicht, lächelten sich weiter an.