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Volksvergiftung
Es war einmal eine Regierung. Die war mit dem Volk unzufrieden. Es zerfiel nämlich in zwei Teile. Der eine Teil verlebte politikfern fröhlich und faul die Tage mit seinem Bürgergehalt. Der andere Teil mischte sich ständig in die Politik ein, demonstrierte, streikte, aber arbeitete sehr fleißig. Dafür wollte er sogar mitbestimmen. Dies lähmte die Minister und Beamten. Sie sahen den Untergang der blühenden Ländchens voraus.
„Man muss das Volk seelisch stabiler machen. Die Aggressiven und Fleißigen sollten ruhiger werden und die Lethargischen und Faulen aktiver“, schlug der Regierungschef auf einer Krisensitzung des Kabinetts vor. Dabei imaginierte er eine große Menschenmenge, die gleiche Gedanken, gleiche Stimmung und gleiche Gesundheit hätte. Dann wäre das Regieren leichter.
Dem ungesund dicken Gesundheitsminister fiel gleich etwas ein. „Machen wir es doch wie in Gefängnissen. Wir tun Brom oder eine andere beruhigende Substanz ins Essen, und schon ist Ruhe hergestellt.“
„Und was machen wir mit den Faulen?“, fragte die Sozialministerin, deren Fleiß landesweit gefürchtet war.
„Das ist doch einfach, Frau Kollegin: Wir verabreichen ihnen stimulierende Substanzen.“
„Und wie wollen wir das tun?“ Dieser Frage des Regierungschefs folgte betretenes Schweigen.
Endlich erhob sich der Landwirtschaftsminister, der seine eiergelbleuchtende Krawatte auf seinem Bäuchlien zurechtrückte: „Es ist doch so. Wir müssen diese Substanzen in die Körper hineinbringen. Das machen wir wie in den Gefängnissen!“
„Wir können doch nicht für alle 80 Millionen kochen und die Substanzen ins Essen schmeißen lassen!“, ereiferte sich die Justizministerin und setzte dabei ihre Brille dreimal auf und ab..
„Das muss nicht sein. Mein Landwirtschaftsministerium hat gesicherte Daten, dass die Politisch-Aggressiven mehr Fleisch essen, die Faulen und Politikfernen mehr Gemüse und Salate. Wenn man die Nahrungsmittel an der Quelle präpariert, ist das Problem gelöst. Also füttern die Bauern die Tiere mit beruhigenden Substanzen, den BS, und besprühen die Pflanzen mit stimulierenden Substanzen, den SS.“
Die Minister staunten ob der Praktikabilität des Vorschlags. So einfaach soll es sein? Sie gründeten einen Arbeitskreis, der Vorschläge für das „Egalisierungsprogramm durch persönlichkeitsangepassten Ingredienzien zur Befriedung und Harmonisierung einer postdigitalen Kommunität“ (EIBHK) machen sollte.
1. Dem Bier werden SS (stimulierende Substanzen) beigemischt .
2. Den Weinen werden BS (beruhigende Substanzen) zugegeben.
3. Die Schlachttiere werden mit BS gefüttert, die sich im Fleisch ablagern.
4. Gemüse und Salate werden mit SS besprüht.
5. In das Mineralwasser werden SS gegeben.
6. Farbige Getränke bekommen BS beigefügt.
Die Verhandlungen mit den Firmen der chemischen Industrie, die die Substanzen herstellen sollten, verliefen ohne Schwierigkeiten. Solche Substanzen hatte sie schon lange entwickelt und in ihren Firmen erprobt, sodass sie sofort einsetzbar waren.
Die Viehbauern und Metzger wurden mit Nährwertprämien motiviert, die neue Fütterung der Tiere als einen Beitrag zur „ökologischen Naturergänzung (ÖN)“ zu sehen.
Die Gemüse- und Obstbauern und ihre Händler erhielten alle Steuerbefreiungen. Für einzelne Leistungen wie „Birne mit Pfiff“ (mit SS versetzt) oder „Apfel der Ruhe“ (mit BS behandelt) gab es erhebliche Sonderzahlungen. Konnten die Politiker doch mit dieser Art von Nahrungsmitteln minutiös die Stimmung des Volkes erzeugen. Zu Weihnachten gab es nur „Äpfel der Ruhe“, im September, wenn die Ferien vorbei waren, nur „Birnen mit Pfiff“ mit Einzelprämien.
Trotz des Reinheitsgebots öffneten sich die Bierbrauer den Neuerungen, denn viele Biertrinker wurden aggressiver und ertränkten ihren Ärger in Bierfluten.
Die Mineralwasserhersteller gewann man sehr leicht mit der Formel „Wasser der doppelten Gesundheit“, das deswegen auch gerne getrunken und von den Hausärzten zur Schonung ihres Budgets den Patienten wärmstens empfohlen wurde gegen Husten, Heiserkeit, Magenweh, Darmträgheit und Depressionen.
Alle die Maßnahmen setzten die Akteure klammheimlich durch.
Um den Teil des Volkes, der die Regierung so genau kontrollierte, abzulenken, inszenierte die Presseabteilung des Regierungschefs die Kampagne: Frieden für die Menschheit. Die Regierung flocht einen Strauß von Werten: Fleiß, Ruhe, Ordnung, Achtung, Liebe, Gehorsam, Sauberkeit. In groß angelegten Feldzügen im Fernsehen und Radio, in Theatern, Büchern, Zeitschriften und Vorträgen schilderten die Meinungsmacher die schöne neue Zeit in prächtigen Farben. Fluten von Friedenswörtern und Tugendforderungen schossen durch Kabel und Lüfte, internettiesierten Moral, twittscherten von Mensch zu Mensch und facebukten die Torte der homöostatischen Bewegung. Wie schön griff eines in das andere über. Ora et labora überall.
Und es begab sich, dass die Wirkung der Friedenskampagne und der Medikamente zeitlich zusammenfielen.
Drei Wochen nach Beginn zeigten sich die ersten Erfolge: Von den 45 Demonstrationen, die vor vier Wochen stattgefunden hatten, waren es jetzt nur noch sieben. Die Zahl der der Verkehrsunfälle war auf ein Drittel gesunken. Die Kriminalitätsrate hatte sich auf 33 Prozent gegenüber der vor vier Wochen gesenkt. Es kam zu keiner einzigen Familientragödie verglichen mit den zweiundzwanzig im Monat davor. Die Wirtschaftsproduktivität hingegen war um vierzehn Prozent gestiegen. Die Arbeitsausfälle durch Krankheit näherten sich der 0-Fehlzeit. Sogar die Gewerkschaften forderten eine Stunde unbezahlte Mehrarbeit, was ihnen die Politiker und Fabrikanten gerne gewährten.
Und am wichtigsten: Die Regierung erhielt nur Lob von allen Seiten.
*
Das Volk wunderte sich anfangs über die neue Leichtigkeit des Seins. Die Fleißigen und Aktiven machten alles geduldiger, die Faulen begannen das Lob der Arbeit zu singen. War der Wandel eigenes Verdienst? War das Wetter schöner geworden? War es die neue „Mode der wehenden Röcke“? Kommt ein neuer Messias? Einige hatten über dem Kanzleramt schon einen merkwürdig leuchtenden Stern aufgehen sehen!
Jedenfalls kehrte Frieden ein ins Land. Die kämpferischen Familienmitglieder kümmerten sich liebevoll um das Neugeborene, der faule Ehemann brachte den Müll runter und die Kinder sagten, „Mutti, wir lieben dich.“ Die Scheidungsrate sank.
Feindschaften mit den Nachbarn und Arbeitskollegen verschwanden in der Versenkung. Versöhnungsfeste kultivierten den Umgang miteinander.
Die Nachrichtensendungen beruhigten die Menschen im Land mit Sätzen wie: Die Regierung hat … Die Regierung will … Die Regierung wird …
Ja, unsere Regierung, das sind doch ganze Kerle und Kerlinnen, wenn wir die nicht hätten!
Das Volk war glücklich.
*
Nun war es aber so, dass diejenigen, die das EIBHK erfunden und durchgeführt haben, nicht daran teilnahmen. Sie fürchteten die Nebenwirkungen dieser beruhigenden und stimulierenden Substanzen aus dem chemischen Kochtopf. Die Führungsschicht der chemischen Industrie kannte die Gefahren der Einnahme ihrer Substanzen genau und warnte die „Eingeweihten“ davor. Die Esswaren für diese kleine Gruppe der Bevölkerung kamen aus dem Ausland.
Die Regierung arbeitete ruhig vor sich hin und genoss es, vom Volk nur noch Positives zu hören. Bald wusste sie nicht mehr, wie sie ihre eigene Aggressivität ausleben sollte; denn das Volk war ja kein Gegner mehr. Sich gegenseitig anzugreifen, das hatten sie ja immer schon getan. Aber ihre überschüssige Aggressionslust suchte weitere Objekte zur Befriedigung. Wer passte dazu besser als die Firmenchefs, die ihrerseits das gleiche Problem lösen mussten. Nach kurzer Zeit entbrannte heftiger Streit zwischen den Politikern und den Fabrikanten. Es kam zu einem heillosen Hauen und Stechen, sogar zu Morden. Wo immer sich deren Mitglieder begegneten, da kam es zu Kampf, Schlägereien, Beleidigungen, Körperverletzungen.
Unberührt und verwundert schaute das beruhigte und ausgeglichene Volk auf dieses Schauspiel, das es nicht verstand.
Im Laufe der Kämpfe verwelkten die blühenden Landschaften. Der Berg der Staatsschulden wuchs, die Zahl der Arbeitslosen, aber ausgeglichenen Menschen auch. Schweigend erlitt das Volk das maßlose Chaos, das seine kleine Welt erschütterte. Es litt schweigend die Kämpfe der Mächtigen.
Als die Politiker immer mehr Oberwasser gewannen, griffen die Firmenchefs zum letzten Mittel. Sie stoppten die Produktion von SS und BS.
Und siehe da, nach kurzer Zeit war die alte Ordnung wiederhergestellt.
Und alle waren glücklich. Auch die Politiker.
Und die Zeitungen: Sie berichteten wieder über Demonstrationen, Familientragödien, Kriminalität.
Nur ein einsamer Weltverbesserer schrieb in einer Ecke eines Obdachlosenheims in ein geklautes Schulheft: „Und da beschloss ich, Politiker zu werden.“