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Vogonen
Vogonen
Jetzt sitze ich hier und kann nicht mehr weg, aus diesem mondänen Haus.
Die Villa beherbergt unter ihrem Dach: ein Vestibül, marmorne Böden, lange Flure, einen begehbaren Weinschrank, Plastiken und Gemälde berühmter Künstler. Und: Den Abend der Gedichte! Wir müssen ausgewählten Worten lauschen im graugrünen Salon. Dessen stuckgesäumten und bemalten Plafond, der den Garten widerspiegelt, den ich soeben betrachte. Unruhig sitze ich auf dem unbequemen Sitzmöbel, mitten unter piekfeinen und stark parfümierten Damen und Herren der Gesellschaft. Seufzend bereue ich zutiefst, dass ich Hellens Bitte, sie zu diesem Stelldichein zu begleiten, nachgegeben habe.
Ihr Mann, Philipp, Mitinhaber ihrer Werbeagentur, liegt zurzeit im Krankenhaus und erholt sich von seiner Blinddarmoperation.
Könnte ich ihn nicht dort vertreten?
So gesehen ist das meine Anamnese, weshalb ich unter den poetischen Ergüssen fremder Leute leide. Vorgetragen von einer schmallippigen Dame, die einerseits unter Essigeinläufen zu leiden scheint, andererseits sehr stark der dargestellten Person auf dem Picasso über ihr ähnelt.
Gerade eben haben wir Rainer Maria Rilkes Gedicht: Kindheit, hinter uns gebracht. Es wird, wie es sich in diesen Schichten ziemt, verhalten Applaudiert. Volksmusik und Gedichte sind nichts für mich, beiderlei Sorten überfordern meine Textverarbeitung. Hellen greift meine Hand drückt sie sanft und lächelt mir zu. In ihrem Gesicht lese ich Dankbarkeit, dass ich nicht ausraste. Wenn sie wüsste! Im Moment stelle ich mir vor, den unnatürlich wirkenden Garten in den ich schaue, unter zu Hilfenahme einer Sprengladung, zu renaturieren.
Eigentlich lohnt es sich hier alles zu renaturieren. Im Besonderen die Besitzer dieses Eigenheims, Herr und Frau Dr. Sicker. Die neuen Auftraggeber von Hellen und Philipp, mit dem erfreulich hohen Werbeetat. Deshalb lässt man ihnen manches durchgehen. Mich kotzt es an, wie sie ihren Reichtum zur Schau stellen.
Schon als wir von der vielbefahrenen Umgehungstrasse in das Villenviertel eingebogen, ahnte ich schlimmstes, was es mit ... ein paar Gedichte, etwas Champagner und Kratzefüße ... auf sich haben würde. Als wir zur Tür des Anwesens der Sickers gingen, sah ich zu unserer Linken, dass am Ende der Straße immer noch gearbeitet wurde. Schweres Gerät verschandelte diese gute Adresse. Arbeiter, immer noch emsig, liefen umher. Obwohl es weit nach achtzehn Uhr war! Als Hellen klingelt, fiel mein Blick auf das nur zur Hälfte geschlossene Garagentor. Die Sickers dieser Welt leiden an ihrer Minderwertigkeit und arbeiten dagegen, indem sie alles haben müssen, um es zeigen zu können. In diesem Fall ihr Fuhrpark, zu vorderst blitzte ein auf Hochglanz polierter Bentley.
Endlich, das letzte Gedicht wird überschwänglich angekündigt. Bevor sich der Künstler persönlich auf die kleine Bühne begibt, raunt mir Hellen zu, „in weniger als einer halben Stunde sind wir hier weg.“ Dankbar, dies hier nicht allein ertragen zu müssen, stupst sie mich mit ihrer Schulter an.
Mit dem Vorgetragenen: Das Meer bewohnt mich, wie Licht eine Stadt, gibt Steffen Popp sein Bestes und mir dem Rest.
Während der wenigen Zeilen, die das Gedicht in Anspruch nimmt, fällt mir endlich ein, was uns gerade widerfährt. ... Hellen und ich sind entdeckt worden, wie wir illegal auf diesem Vogonenraumschiff per Anhalter gefahren sind. Die allgemein bekannte Strafe für dieses Vergehen ist, dass der Kapitän uns mit seinen Gedichten foltert. Ich grinse zufrieden darüber endlich herausgefunden zu haben, was D. Adams inspiriert hat.
Nach dem poppschen Erguss rastet das Publikum aus, die drögen Gestalten erheben sich und schleppen sich zu ihm hinüber.
Leise sage ich: „Hurz.“
Wir peilen Frau Doktor an. Auf dem Weg zu ihr, gönnen wir uns den Champagner, der uns von einer Bediensteten mit Spitzenhäubchen gereicht wird.
Kurz bevor, wir der Dame des Hauses unsere Aufwartung machen können, nehme ich einen seltsamen Geruch wahr, der durch die geöffnete Gartentür zu wehen scheint. Hellen holt tief Luft, um möglichst alles in einem Satz sagen zu können und bekommt einen Hustenanfall. Von der Gartenseite hören wir Stimmen und Gepolter. Immer mehr von uns husten und ringen nach Atem.
Feuerwehrmänner in schwerer Montur dringen durch die Gartentür in den Salon und scheuchen uns vor sich her. Sie rufen: „Nach draußen! Gas! Explosionsgefahr! Raus! Schnell!“ Sie treiben uns vor sich her.
Hausmädchen und Küchenpersonal gesellen sich hinzu. Wir alle erreichen die Vordertür. Draußen treffen wir auf weitere Villenbesitzer, manche schon im Pyjama. Eine Dame, splitternackt mit nassem Haar, überholt uns in gestrecktem Galopp. Ihre Brüste sind wie festbetoniert.
Auf was man bei einer Stampede so achtet.
Erst weiter hinten, am Ende der Straße, kommen wir zum Halt.
Dr. Sicker postiert sich vor einen Feuerwehrmann, verlangt erbost und mit hochrotem Kopf nach Erklärung.
In knappen Sätzen und mit ängstlichen Blicken in die Richtung, aus der wir kamen, sagt dieser: „Die Verstärkung der Schallschutzmauer, vor der Umgehungsstraße. Bei den Ausschachtungen heute Abend. Eine Gasleitung beschädigt.“ Seine Aufmerksamkeit gilt wieder seinen Kollegen, die sich gegenseitig Anweisungen zurufen.
Der Sicke Doktortitel scheint gekauft, keinesfalls resultiert es aus einem Physik-Studium. Denn er holt sein Handy raus und wählt die Nummer seines Hauscomputers. Seinem Erachten nach müssen zumindest alle Fenster und Türen geschlossen werden. Wahrscheinlich befindet sich das Wort Pöbel in seinen Überlegungen.
Unser Retter dreht sich in diesem Moment zu ihm um und schreit: „NICHT TELEFONIEREN!“
Zu spät! Die Verbindung steht. Der kleine Funke reicht aus, um das gasgesättigte Haus zur Detonation zu bringen. Die Druckwelle schleudert uns zu Boden, wir spüren die Hitze. Der Feuerwehrmann landet auf mir. Dann eine zweite Explosion! Trümmer regnen auf uns nieder. Die Luft ist rauchig und voller Partikel.
Atme ich jetzt Teile eines Mondrian?
Wir hören die Flammen, schauen uns um, keiner ist ernsthaft verletzt. Allerdings wirkt die feine Gesellschaft erheblich derangiert. Dr. Sicker sitzt breitbeinig auf der Straße und umklammert tatsächlich immer noch sein Handy.
Erstaunlicherweise empfinde ich Mitleid bei seinem Anblick.
Der folgende laute Knall lässt uns alle zusammenzucken. Wir hören ein schrilles Pfeifen in der Luft.
Mein Blick ist immer noch auf den ehemaligen Hausbesitzer gerichtet. Er wirkt so zart, so infantil, wie er so da sitzt und in die dreckige Luft hinein fragt: „Was war das?“
Das Pfeifen wird lauter und dringlicher. Dann kracht etwas, metallisch knirschend, auf den Asphalt. Genau zwischen des Doktors gespreizte Beine. Ein letztes Ächzen gibt das Chassis des Bentley von sich.
Hellens kleine Wunde wurde versorgt. Mir ist nichts passiert, also nicht während den Explosionen.
Mittlerweile sind wir bei Philipp und berichten von diesem wirklich gelungenen Abend. Meiner Meinung zeigte der poetische Teil Längen, welche das Feuerwerk in Gänze wettmachte. Beide beglückwünschen sich dafür, dass die Verträge längst unter Dach und Fach sind.
Etwas das Herr und Frau Dr. Sicker jetzt nicht mehr von sich behaupten konnten.