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Vogelfrei

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24.08.2003
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Vogelfrei

Fare thee well, little broken heart, downcast eyes, lifetime lonelyness, whatever walks in my heart, will walk alone...

Es waren keine Tränen in meinen Augen, als ich meinen Freund verließ. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, eine viel zu lange Zeit für mich. Ich hatte das Gefühl, mein Leben verschwendet zu haben. Zu warten, aber nicht zu wissen, auf was.
Als ich noch fünfzehn war, kam mir die Sechzehn vor wie die Freiheit, der verheißene Tag in meinem Leben, an dem sich alles ändern würde. Als ich noch fünfzehn war, war es für mich wie damals, mit sechs Jahren, als der sechzehnte Level mir eine neue Rüstung bringen wollte. Nun würde er mir neue Flügel schenken.
Und so kam es. Ich flog davon und ließ meinen Freund hinter mir. In den Ferien, nach meinem Geburtstag, bat ich ihn das erste Mal um eine Trennung auf Zeit.
Wie es dazu kam, dass ich dann in den Armen eines Anderen aufwachte, weiß ich nicht mehr. Ich war erfüllt von Einsamkeit und Trauer. Sein Motiv? Ich weiß es nicht. Aber damals, als ich meine neuen Flügel ausprobieren wollte, hob er mich zu den Sternen in dieser Nacht. Er war älter als ich, er flog schon lange durch den Wind, und als ich am nächsten Morgen wieder landete und in mein altes Leben zurückkehrte, spürte ich noch die Berührung seiner Hände und seine Lippen auf meiner Haut.
Meinem Freund sagte ich nie etwas davon. Ich kehrte zu ihm zurück, glücklich über den kleinen Ausflug in die Freiheit. Freiheit, zu tun was ich will.
Aber als die Ferien endeten, stutzte man die Flügel wieder, damit ich nicht davonflog. Und als ihnen das nicht genug wurde, sperrten sie mich in einen großen Käfig und machten ein eisernes Schloss an die Tür.
Ich siechte dahin, aß nicht mehr, mein Lebenswille war gebrochen. Bis jemand die Tür aufschloß und mir eine andere Art von Fesseln anlegte, mich das Leben wieder spüren ließ.
Da sagte ich meinem Partner Lebewohl und stahl mich hin und wieder von dannen, um in den Händen meines Liebhabers meinen Körper wieder zu spüren. Die Spuren trug ich noch Tage später wie Ehrenmale, in meinem kleinen dunklen Käfig. Aber dann floh ich vor ihm, und ließ ihn allein zurück. Er brauchte mich nicht. Er kam nicht mehr zu mir und ich nicht mehr zu ihm, und die Einsamkeit gefiel mir immer besser.
Bis sie mich schließlich gehen lassen mussten. Der Glanz meiner Augen hatte sie erschreckt, und das Zittern meiner Hände beim Anblick anderer Menschen.
Erst ließen sie mich nur wenige Flügelschläge weit gehen. Dann gaben sie mir eine Zeitbefristung. Und als ich mich wieder traute, ging ich zaghaft erste Schritte auf andere Menschen zu.
Jetzt habe ich sie gebrochen. Und sie bestraften mich - an einem anderen Tag wollen sie mich wieder einsperren. Kann ich das dulden? Kann ich das nehmen als wäre es nichts gewesen? Was ist dabei, wenn ein Vogel im Schwarm fliegt? Und mit welchem Recht verbieten sie es, nur weil eine bestimmte Zahl weit hinter ihnen liegt?
Haben sie das Recht, den Schwarm zu verurteilen, nur weil ihre Flügel verkümmert sind? Mit welcher Berechtigung urteilen sie über Unbekanntes? Warum soll ich denn laufen, wenn ich fliegen kann?
Ich traf den Mann wieder, der mich damals in den Himmel gehoben hatte. Er erschrak vor mir. Du bist zu jung, um so abgebrüht zu sein, sagte er.
Jetzt warte ich auf die Achtzehn. Irgendwann wird sie zu mir kommen, und vielleicht haben sie meine Flügel dann noch nicht zum Verdorren gebracht.

 

Hallo vita!

Schöne Geschichte, soo traurig. Ich glaube, der Tonfall und die Gedanken eines pubertierenden Mädchens sind gut getroffen, genau werde ich es nie wissen, da ich nie ein pubertierendes Mädchen sein werde.

Meine Hauptkritik ist, dass hier viel "Tell" und wenig "Show" ist. (Jener vielzitierte Leitspruch ist Dir sicherlich bekannt). Damit wird der Text eher zu einem sehr gut formulierten Monolog, den jemand einem guten Freund oder Psychiater halten würde, aber der Leser erlebt nicht viel.

Vielleicht könntest Du einen Dialog verfassen, den sie mit ihrem langjährigen Freund hat, in welchem Du die Leere der Beziehung aufzeigst. In einem parallelen Strang könntest Du dann ihre Gedanken, die in ganz andere Richtungen gehen, in einen Widerspruch dazu setzen.

Schön fand ich den Satz:

Haben sie das Recht, den Schwarm zu verurteilen, nur weil ihre Flügel schon lange verkümmert sind?
Eine schöne, nicht abgenutzte Metapher. Ich hätte allerdings auf jeden Fall die Worte "schon lange" weggelassen. Vielleicht hättest Du den Gedanken aber auch konkreter und anschaulicher formulieren können:
Sie kleben wie Hühner auf der Erde, sie haben weder den Willen, noch die Gabe zu fliegen. Hühner, die nie nach oben schauen, aber tagein tagaus darüber schnattern, wie unnütz doch das Fliegen ist"

Gernot

P.S.: Was ich nicht verstanden haben: Sind das Einsperren und die gebrochenen Flügel nur eine Umschreibung ihres Lebensgefühls, oder passiert tatsächlich etwas unausgesprochenes?

 

Hallo Vita,

zunächst zum Titel. Zwischendurch hielt ich ihn für unangebracht, da man unter Vogelfrei ja "zum abschuss freigegeben" versteht. Da du in deiner Geschichte die Sehnsucht nach der Freiheit des Vogels zu fliegen aber genauso thematisierst, wie die Kerker, die deine Prot darin hindern, und das Misstrauen, das ihre Sehnsucht weckt, denke ich, passt der Titel schon, auch wenn deine Prot ja nicht wirklich zur Ermordung freigegeben wurde.
Die bildhafte Beschreibung deiner Geschichte gefällt mir gut, worin allerdings wirklich das Gefängnis besteht, kann ich nur spekulieren. Offenbar ist deine Prot auf Grund ihrer Sehnsucht in der geschlossenen Psychatrie gelandet.
Zum Schluss stellst du ein paar moralische Fazitfragen zu viel. Sie (sich) zu stellen darfst du dem Leser gern selbst zumuten. :)
Einige Anmerkungen habe ich noch.

Ich flog davon und ließ meinen Freund hinter sich.
hinter sich selbst? ;)
Ich kehrte zu ihm zurück, glücklich über den kleinen Ausflug in die Freiheit. Freiheit, zu tun was ich will.
Auch wenn ich glaube, zu verstehen, warum du hier will geschrieben hast, die Vergangenheit ist hier auch inhaltlich angemessen, da der Ausflug ja erstmal vorbei ist. Es liest sich auch runder mit wollte
Jetzt warte ich auf die Achtzehn. Irgendwann wird sie zu mir kommen, und vielleicht haben sie meine Flügel dann auch noch nicht zum Verdorren gebracht.
das auch leuchtet mir nicht ganz ein.

Lieben Gruß, sim

 

hallo ihr,

danke fuer die kritiken, das ging ja schnell :)
zum thema viel tell und wenig story - ich hatte lust auf eine geschichte, die eine atmosphäre verbreitet.

zur situation der prot: sie wird von leuten aufgrund ihrer minderjährigkeit nicht fuer voll genommen, ihr urteil wird angezweifelt, ihre ganze urteilsfähigkeit. sie ist sowohl im nicht-verstanden-werden als auch im wörtlichen sinne "gefangen", ich habe mir beim schreiben vorgestellt, dass sie bei erziehungsberechtigten lebt, bei eltern vielleicht, die sie einengen und einsperren. ich schreibe solche geschichten auch immer nur dann, wenn ich sauer auf meine erzeuger bin.
in dem maedchen steckt ein gutes stueck meiner selbst, aber der teil, den ich meistens unterdruecke... ich amuesiere mich "vernuenftig", ich treffer "vernuenftige" leute, aber ganz tief drin in mir gibt es noch so ein pubertierendes maedchen, dass sich all diese fragen stellt...

glg, vita

 

Hi Vita,

ich erkenne den kleinen Vogel, der gerade anfängt, das
Fliegen zu lernen.
Der jedoch hin und wieder in sein Nest zurück kommen muß um sich nicht zu verirren, oder um sein Abenteuer zu verarbeiten. Sich zu sammeln um wieder ein Stück weiter fliegen zu können. Der noch im Schwarm fliegt um zu lernen. Der unzufrieden, ungeduldig ist, weil er den ersten großen, befreienden Flug nicht machen kann.
Das er noch nicht erkannt hat, dass der Schwarm ihn auffängt, wenn seine, noch nicht ausgewachsenen Flügel zu schwach werden und er abzustürzen droht.

Aber dann, kaum das der kleine Vogel es bemerkt, erhebt er sich aus seinem Nest und seine starken Flügel
tragen ihn weit und hoch hinaus.
Er erobert seine Welt, er ist ein freier Vogel geworden.
Und irgendwann, hat er seine Grenzen erreicht.
Er mag nicht mehr so hoch und so weit fliegen. Er fängt an ein Nest zu bauen, eine Brutstätte für kleine
Vögel, so wie er es einmal war.
Er weiß worauf er bei den Kleinen zu achten hat, schließlich kann er sich noch zu gut an seine eigene
Ungeduld erinnern.
Das Wissen, dass die Kleinen denken, seine Flügel wären gestutzt, entlockt ihm nur ein fröhliches piepsen.
Denn ihm ist klar, er könnte noch einmal einen großen
Flug starten, wenn er es nur wollte.

Liebe Vita, du hast mit gefühlvollen, bildhaften Worten, die Gedanken eines jungen Menschen beschrieben,
der hungrig auf das Leben ist und noch keine Ahnung hat, wie reichlich ihn das Leben noch füttern wird.

ganz liebe Grüße
coleratio

 

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