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Vitam mortuus
Das Kaufhaus war stark verwüstet. Überall lagen zertrümmertes Geschirr, Besteck, Töpfe und Pfannen verteilt. Auf dem Gang, der die Kunden an all diese Waren entlangführen sollte, lag ein Mann. Sein Hals war grausam zerfetzt. An der rechten Seite klaffte ein riesiges Loch und das Blut quoll noch immer in schwachen Schüben aus der Wunde. Zwischen den Fleischfetzen waren Halswirbel zu erkennen.
Irgendwo weiter hinten lag ein kleiner Junge bewusstlos am Boden, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Seine Arme und Beine hatten unnatürliche und verdrehte Haltungen eingenommen.
Eine junge Frau saß mit leerem Blick gegen ein Geländer gelehnt. Sie hielt sich den linken Oberarm fest, zwischen den Fingern sickerte warmes Blut hervor.
Am oberen Ende der Rolltreppe lag eine weitere junge Frau. Ihre Haare waren blutverschmiert und das Gesicht ... nichts weiter, als eine hässliche, rote Fratze. Nicht mehr menschlich.
„Du hast aber kalte Hände, Mama!“
Neben der Frau stand ein etwa fünfzigjähriger Polizist. Seine Figur war untersetzt und in seinen Händen hielt er eine Waffe, die er auf die Frau gerichtet hielt.
„Ja, ich weiß, Liebes.“ Anna schaute zu ihrer fünfjährigen Tochter hinunter, die ihre Hände ergriffen hatte. „Die habe ich schon seit heute morgen.“
Die Frau lachte böse und hob ihre Arme. Sie versuchte, den Mann zu packen, doch es gelang ihr nicht. Zwei Kugeln trafen ihren Oberkörper. Trotzdem versuchte sie es weiter. Ein drittes Projektil traf die Stirn. Doch selbst dieser Treffer wirkte nur für kurze Zeit...
Anna lebte mit ihrem Mann und Merle in einer ländlichen Gegend im Osten Niedersachsens. Sie waren erst vor Kurzem hierher gezogen und hatten sich ein kleines Häuschen gebaut. Heute wollte sie zum wenige Kilometer entfernten Braunschweig, um noch einige Dinge zu besorgen. Der Kindergarten von Merle hatte an diesem Tag geschlossen und so nahm sie ihre Tochter mit. Jetzt waren sie gerade auf dem Weg zum Auto.
„Warum bekommt man kalte Hände?“ wollte Merle wissen.
„Nun, im Körper fließt ja Blut, das ganz warm ist. Manchmal passiert es, das zum Beispiel die Hände nicht so gut durchblutet werden. Das heißt, dass zu wenig Blut in die Hände gelangt und dadurch werden sie kalt.“
Anna war sich gar nicht so sicher, ob ihre Erklärung überhaupt richtig war, doch es spielte keine Rolle. Ihre Tochter akzeptierte sie und antwortete mit einem schlichten „Ach so“. Als die beiden fast am Auto angelangt waren, blieb Anna abrupt stehen.
„Ist alles okay, Mama?“
„Ja, ist schon in Ordnung. Geh ruhig schon ins Auto, die Tür ist auf.“ Ihr war schwindelig geworden. Das Auto, die Straße, die Häuser – alles drehte sich wild um sie herum und fing an hoch und runter zu schwingen. Ihr wurde übel und es viel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Komm, Knut! Wir müssen jetzt einsteigen“, meinte Merle und nahm ihren Teddybär in den Arm. Die Stimme erklang wie aus weiter Ferne. Als das Mädchen die Tür zuschlug, kam es Anna so vor, als detoniere gerade eine Stange Dynamit direkt neben ihrem Ohr. Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Aus dem Auto schaute Annas Tochter zu ihr und lächelte. Merles Oberlippe verwandelte sich in flüssiges Wachs und zerlief über ihrem Mund, bis der ganze Mundbereich nur noch aus einer ebenen, konturlosen Fläche bestand. Das Kind schaute noch immer zu seiner Mutter. Der Knall der Autotür dröhnte in den Ohren und änderte sich zu einem auf- und abschwellenden Brummen.
Dann war es endlich vorbei. Die Umgebung hörte auf, einen wilden Tanz um die junge Frau herum aufzuführen, Merle hatte wieder ihren Mund und Annas Gedanken konnten sich wieder ordnen. Erleichtert atmete sie auf. Etwas verwirrt ging sie die letzten Schritte zum Auto und setzte sich ans Steuer. Nun verschwand auch die Übelkeit wieder und nur noch ein leises Piepen war im Ohr zu hören. Entschlossen schaltete sie das Radio an. Es lief gerade „So what“ von Pink.
Der Motor erwachte zu sanft vibrierendem Leben und die beiden fuhren los.
„So, so what – I'm still a rockstar – I got my rockmoves – And I don't need you – And guess what ...“.
Annas Finger tippten im Rhythmus auf das Lenkrad, während sie sich allmählich dem Ortsausgang näherten. Im Vorgarten des letzten Hauses mähte dessen Besitzer seinen Rasen und wandte sich dem kommenden Auto zu. Anna winkte ihm zu und schließlich waren sie auf der von Bäumen gesäumten Landstraße. Sonnenstrahlen durchbrachen regelmäßig die Baumkronen und sorgten für einen stakkato-artigen Wechsel zwischen hell und dunkel. Sie blickte durch den Innenspiegel zu ihrer Tochter. Der Teddybär saß auf dem mittleren Sitzplatz der Rückbank und war ebenfalls angeschnallt.
„Hey! Was meinst Du: Wollen wir nachher noch ein leckeres Eis essen? Wir haben so schönes Wetter heute, da wäre es ja schrecklich, wenn wir das nicht ausnutzen, oder?“
„Au ja!“, freute sich Merle. „Ich nehme sechs Kugeln!“
Anna musste spontan lachen. „Du bist ja verrückt! Davon wird Dir doch ganz schlecht!“
„M-m. Bestimmt nicht!“ Überzeugt stemmte das Mädchen die Hände in die Hüften und schüttelte mit dem Kopf. Ihre lockigen, blonden Haare wirbelten umher.
„Nein, Merle. Du bekommst eine Kugel ... vielleicht auch zwei“, fügte Anna nach einem kurzen Moment verschwörerisch zwinkernd hinzu.
„Also gut. Dann eben zwei Kugeln.“ Merle war sichtlich enttäuscht.
Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Inzwischen führte die Straße durch ein Waldgebiet, sodass die Sonne noch seltener durch die Blätter scheinen konnte.
Etwas Unerwartetes, Merkwürdiges geschah.
Knut fing an, sich zu bewegen. Sein Maul wurde zu einem riesigen Schlund, das messerscharfe Zähne beherbergte und das Kuscheltier befreite sich aus dem Anschnallgurt. Es krabbelte auf Merle zu, um sich an ihr emporzuziehen. Das Mädchen indes schaute interessiert aus dem Fenster, beobachtete die Bäume und war ganz fasziniert davon, wie sie immer schneller zu werden schienen, je näher das Auto ihnen kam. Knut kletterte zum Gesicht hoch und eine widerliche, riesige Zunge bahnte sich ihren Weg aus dem Maul und leckte quer über Merles gesamte Wange bis zum Ohr hoch. Das Kind reagierte nicht darauf. Es war, als ob das alles gar nicht geschehen würde. Während Knut sich festklammerte, begann er damit, an Merles Ohr zu knabbern. Stück für Stück biss er davon ab, kaute und schmatzte. Schluckte.
Anna beobachtete diese völlig absurde, unwirkliche Szene. Seltsamerweise stiegen in ihr keine Gefühle hoch. Keine Angst oder Panik, kein Schrecken. Dabei hätte sie doch laut aufschreien müssen, überlegte sie. In Panik hätte sie auf die Bremse treten oder das Lenkrad wild herumreißen und die Kontrolle über das Fahrzeug verlieren müssen. Tatsächlich spürte Anna etwas tief in sich. Etwas Brodelndes, Unheilvolles. War es Wut? Angesichts der Szene kam ihr der Gedanke noch verrückter vor. Allmählich kam etwas Angst in ihr hoch. Doch schließlich wurden ihre Gefühle von einem rein wissenschaftlichen Interesse übermannt, was Knut wohl als Nächstes mit ihrer Tochter anstellen würde. Was geschah hier nur? Was geschah mit Anna?
Der Teddy nahm sich jetzt genussvoll die Wangenpartie vor. Dann die Nase, den Mund, das Kinn. Blut floss und spritzte. Fleisch hing in Fetzen. Das Mädchen schaute weiter fasziniert aus dem Fenster. Den Schädel nahm Knut komplett in das unfassbar riesige Maul mit den dolchartigen Zähnen und mit einem kräftigen Biss zerbrach er ihn. Das Geräusch war schrecklich. Merles Gehirn wurde in großen, gierigen Happen verschlungen, genauso wie die Augen. Als das Kuscheltier endlich sein Mahl beendet hatte, kletterte es wieder herunter und setzte sich zufrieden an seinen Platz. Mit dem blutigen Maul grinste es in den Innenspiegel und schaute Anna direkt in die Augen.
Knut rülpste laut und zufrieden und wandte den Kopf schließlich ab. Mit seinen runden Knopfaugen schaute er genauso interessiert und fasziniert wie vorher Merle aus dem Fenster.
Anna konzentrierte sich wieder auf die Straße – als wenn nichts geschehen wäre. Sie fühlte sich ein wenig unwohl. Alles um sie herum kam ihr unwirklich vor. Die Bäume, die Sonne, die Straße, das Lenkrad, das sie fest umklammert hielt ... einfach alles. Es schien, als wäre sie in einem Traum gefangen. Der Motor hörte sich zu dumpf an, das Tageslicht war zu matt, die Farben zu blass. Im Mund hatte sie einen schalen Geschmack und die Luft hatte irgendwie an Materie gewonnen, fühlte sich wie Watte an, die sanft die Haut berührte.
In Braunschweig wurde der Straßenverkehr dichter. Je näher sie der Innenstadt kam, desto mehr füllten sich auch die Gehwege mit Menschen. Die meisten beachteten den Verkehr auf der Straße nicht weiter, doch hin und wieder schaute jemand zu ihrem Auto. Aber niemandem schien aufzufallen, dass auf der Rückbank ein totes, kopfloses Kind saß und direkt daneben ein Teddybär, der noch immer mit seinen Knopfaugen aus dem Fenster schaute und die Passanten beobachtete.
Im Parkhaus angekommen, verblassten die Farben, die mit der Zeit immer schwächer geworden waren, endgültig. Die ganze Welt bestand nur noch aus Grau in allen möglichen Abstufungen. Übelkeit breitete sich in Annas Magen aus. Ohne einen Parkplatz gefunden zu haben, hielt sie an. Hastig stieg sie aus und übergab sich. Ein heißes, brennendes Gefühl breitete sich in Hals und Mund aus, wie Säure.
Was war das nur für ein verfluchter Tag? Merle war tot, der Teddybär hatte sich in ein Monster verwandelt, die Welt hatte keine Farben mehr und nun musste sie auch noch kotzen! Wie sollte sie das alles bloß ihrem Mann erklären? Mit Sicherheit würde er sie für verrückt erklären, sie als Mörderin ihrer eigenen Tochter beschimpfen. Einen Arzt würde er auch holen. Anna fing hysterisch zu lachen an und spann den Gedanken weiter. Der Arzt würde sie untersuchen und zu dem Ergebnis kommen, dass Anna in die Psychiatrie müsste. Und dort würde sie dann nie wieder herauskommen. Welch fantastischer Gedanke!
Das Echo ihres Lachens breitete sich im ganzen Parkhaus aus, wurde hundertfach von den Wänden zurückgeworfen. Sie hatte das Gefühl, als stünden tausende Menschen um sie herum, um sie hämisch auszulachen.
„Ich habe Angst!“
Verwirrt blickte Anna auf. Das war doch Merles Stimme gewesen! In der Hoffnung, dass alles doch nur ein Traum gewesen sein möge, schaute sie ins Auto. Aber nur Knut war es, der sie spöttisch angrinste. Merle saß noch immer tot im Kindersitz. Enttäuscht drehte sich die junge Frau um und ging zum Aufzug.
„Mama!“
Sie ignorierte das Flehen.
Die Vielzahl wild durcheinander redender Menschen überwältigte Anna im Kaufhaus. Sie befand sich in der Haushaltsabteilung. Einige Kunden beachteten die Waren nicht und gingen schnell weiter, andere schlenderten und blieben stehen, nahmen Töpfe oder Teller in die Hände, nur um sie wieder zurückzulegen und zwei Schritte weiterzugehen. Es waren so viele Menschen, aber sie sahen alle gleich aus. Gleich grau. Auch Anna blieb einmal beim Besteck stehen. Ein Set hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Es bestand aus achtundsechzig Teilen mit Messern, Gabeln, Ess- und Teelöffeln. Ohne großartig nachzudenken, öffnete sie die Verpackung. Das Besteck schwebte aus seinem Gefängnis und begann mit einem fröhlichen Tanz um Annas Gesicht. Die Teile hüpften auf und ab, drehten sich um ihre eigenen Achsen. Löffel und Gabeln entdeckten sich als Tanzpartner und umkreisten sich, während das Schauspiel um Annas Gesicht immer wilder und zügelloser wurde. Anna fühlte sich beim Anblick des Bestecks an Feen mit zarten Flügelchen und Elfen in bunten Sommerkleidern erinnert.
Entzückt schloss sie ihre Augen.
Sie sah eine herrlich grüne Wiese. Überall wuchsen bunte, wunderbar duftende Blumen und sie war Teil eines Kreises. Sie tanzte mit den Elfen wild herum, sie hielten sich an den Händen fest. Alle waren glücklich und lachten mit ihren glockenhellen Stimmen. Die Sonne schien warm auf sie herab und lachte mit. Der Himmel hatte ein herrliches Blau und keine einzige Wolke war zu sehen.
Anna öffnete ihre Augen.
Sie war wieder in diesem schrecklichen Kaufhaus, in dem alles grau und farblos war. Ganz sicher waren die Menschen um sie herum ihr bösartig gesonnen. Anna spürte ihre Blicke, die so verstohlen und misstrauisch waren. Das Besteck tanzte noch immer um ihr Gesicht. Sie dachte an dieses wunderbare Lied aus dem Film „Singin' in the rain“ mit Debbie Reynolds, als Donald O'Connor seinen legendären Tanz mit dem Regenschirm aufführte. Beschwingt und noch immer glücklich an Feen und Elfen denkend breitete Anna ihre Arme aus und drehte sich im Kreis. Sie lachte und in einem merkwürdigen, unmelodischen Singsang begann sie, dieses Lied zu singen. So tanzte sie leichtfüßig den Gang entlang, vorbei an Tellern und Besteck-Sets, Pfannen und Töpfen, Gläsern und Tassen, Kaffeemaschinen und Wasserkochern. Wie ein Engel, der seine prachtvollen, weißen Flügel ausgebreitet hatte. Bereit, in den Himmel empor zu steigen. Die Menschen schauten sie noch misstrauischer an, hielten sie vermutlich für verrückt. Für Anna spielte es keine Rolle. Sie tanzte und sie war glücklich. Doch mit der Zeit fingen die Bestecke an, nacheinander auf den Boden zu fallen. Zuerst waren es nur ein, zwei Stück, dann wurden es immer mehr bis schließlich kein Löffel mehr tanzte, kein Messer und auch keine Gabel. Betrübt blieb die junge Frau stehen und schaute traurig ...
... die Wut explodierte. Dieses Gefühl, dass Anna schon im Auto hatte, als Merle gefressen wurde. Endlich hatte es seine Ketten gesprengt, nahm Besitz von ihr, durchfloss ihre Adern.
Wenige Schritte vor Anna stand ein junger Mann, der scheinbar interessiert die Auslagen betrachtete. In Wirklichkeit war er sicher nur hier, um ihr Böses zu wollen. Davon war Anna felsenfest überzeugt. Schlimmer noch, dieser furchtbare Mann musste ein Virus sein, das sich in ihr Leben gedrängt hatte um es auszulöschen! Sie hatte genau gesehen, wie er sie aus den Augenwinkeln verstohlen beobachtet hatte. Ganz bestimmt wartete der Kunde nur darauf, dass sie einen Fehler machte, nur einen Moment unaufmerksam war. Dessen war sich Anna absolut sicher. Und all die anderen Menschen waren genauso ... sie alle waren Viren! Die Wut wurde unerträglich. Warum waren die Menschen nur so? Warum konnten sie Anna nicht einfach das sein lassen, was sie war? Eine Auserwählte die gekommen war, um das Grau der Welt zu vertreiben und die Farbe zurückzubringen. Das war ihre Aufgabe. So musste es einfach sein, warum sonst war sie hier in dieser tristen Welt?
Mit einem fürchterlichen Raubtierbrüllen stürzte sich die junge Frau auf diesen Mann, dieses Virus. Er blickte erschrocken zu ihr auf, Verwirrung war in den Augen zu lesen. Doch es war zu spät. Nicht mehr als eine Sekunde brauchte sie, um bei ihm zu sein und ihn mit gnadenloser Kraft zu umarmen. Ihre Hände krallten sich in seinen Haaren fest und sie vergrub ihre Zähne in seinen Hals. Der Mann gab einen gurgelnden Schrei von sich und versuchte panisch, seine Angreiferin von sich wegzustoßen. Vergebens. Anna war im Besitz von schier dämonischen Kräften und sie würde ihr Opfer nicht mehr loslassen, bis auch der letzte Tropfen Blut seinen hilflosen Körper verlassen hatte. Die Zähne gruben sich immer tiefer und mit einem Ruck riss sie ein Stück Fleisch aus dem Hals. Eine wahre Blutfontäne schoss aus der Wunde. Offenbar hatte sie die Halsschlagader erwischt. Der Mann zappelte in der tödlichen Umarmung, versuchte sich zu befreien. Doch schon nach kurzer Zeit verschwand die Kraft aus seinem Körper. Anna biss immer mehr Fleischbrocken aus der Wunde, nährte sich vom Blut. Immer tiefer in den Hals, immer tiefer! Das Opfer brach endgültig zusammen und sie hockte sich auf den nunmehr leblosen Körper, um weiter zu reißen und zu trinken. Genussvoll schloss sie ihre Augen und ein Gefühl von Geilheit überkam sie. Doch irgendwann versiegt jede Quelle und so war es auch mit dem Mann. Es kam kaum noch Blut aus der Wunde und so richtete sich Anna ein Stück auf um ihr Werk zu betrachten. Sie stellte fest, dass die Welt wieder eine Farbe kannte: rot. Alles um sie herum war so grau wie vorher auch, doch das Blut sah wieder so aus, wie es sich gehörte.
Einen letzten Moment hielt sie inne und der lodernde Zorn zog sich etwas zurück. Plötzlich wurde ihr klar, was sie angerichtet hatte. Sie hatte einen Menschen getötet. Sie hatte ihm den Hals zerfetzt und sie hatte es genossen. Sie dachte an ihre Tochter und daran, wie Knut zu Leben erwacht war, um sie zu fressen. Es kam ihr mehr denn je wie ein alter Traum vor, nicht weiter wichtig. Sie dachte noch weiter zurück. An ihren Mann, an den Hausbau, wie sie sich kennengelernt hatten. Ein früheres Leben, auch nicht wichtig.
Was war das? Stirnrunzelnd blickte Anna auf ihr Handgelenk. Ein schwarzer Fleck war entstanden und schien sich unter ihrem dünnen Pullover fortzusetzen. Um sicher zu gehen, schob sie ihren Ärmel zurück. Es war noch schlimmer, als sie erwartet hatte. Fast der gesamte Unterarm hatte sich in eine schwarze, schmierige Masse verwandelt. Aber sie war noch fest genug, das Fleisch hatte sich noch nicht vollständig zersetzt. Anna empfand den Anblick als abstoßend, Schmerz jedoch fühlt sie keinen. Allmählich fing sie an zu begreifen. Die kalten Hände, ihr durch und durch unlogisches Verhalten seit der Autofahrt. Sie war...
Ein Schluchzen ertönte und Wut und Gier übernahmen wieder die Kontrolle. Alles, was Anna eben noch gedacht hatte und zu begreifen begann geriet wieder in Vergessenheit.
„Ich bringe euch die Farben zurück!“ schrie sie. „Seht ihr denn nicht?! Es ist das Blut!“
Mit einem irren Kichern richtete sie sich endgültig auf und sah sich um. Kein Mensch war mehr zu sehen, aber erst jetzt nahm sie wieder die Schreie und Rufe wahr, die die panisch flüchtenden Kaufhauskunden von sich gaben. Als hätte die Welt vorher den Atem angehalten, damit Anna das Schluchzen hören konnte.
„Komm ruhig her, mein Junge“, rief sie verlockend. „Ich habe Dein Weinen gehört, kleines Kind. Doch Du musst keine Angst haben! Nein – Du brauchst keine Angst vor mir haben. Komm einfach her zu mir, damit ich Dich trösten kann...“
Da war er. Doch er war nicht alleine. Eine Frau war bei dem Jungen, offenbar die Mutter.
„Bitte“, wimmerte sie. „Bitte, ich flehe Sie an! Lassen Sie mein Kind in Frieden!“ Die Stimme hatte einen beschwörenden Unterton.
„Aber warum denn so angsterfüllt, meine Liebe?“ Langsam ging Anna auf ihre neuen Opfer zu. Schützend stellte sich die Mutter vor ihr Kind. In ihrem Blick war die nackte Angst zu sehen.
„Ich werde nicht zulassen, dass Sie meinem Jungen etwas antun. Bitte, gehen Sie fort!“ Es lag so ein herrliches Zittern in der Stimme.
Anna lachte höhnisch. „Ach wirklich? Aber ich werde euch doch nichts tun.“ Und mit diesen Worten packte sie die Mutter lächelnd an den Haaren und biss ihr in den Oberarm. Das Stück Fleisch spuckte sie aus und schubste die Frau achtlos fort. Der Junge fing an, rückwärts vor Anna fortzukriechen, doch sie kam ihm hinterher.
„Ich sagte doch, ich werde Dir nichts tun“, flüsterte sie. „Ich will Dich nur trösten.“ Die Augen des Jungen zuckten vor Angst und zwischen seinen Beinen machte sich ein dunkler Fleck bemerkbar. Der Geruch des Urins erfüllte schnell die Luft. Annas Gesicht verzog sich vor Wut und Ekel. „Du widerlicher, kleiner Bastard!“ schrie sie. Mit einem Mal riss sie den Jungen in die Höhe und schleuderte ihn durch die Luft. Sie tat es mit solcher Wucht und Gewalt, dass an der Wand, wo der Junge gegenprallte, zwei gezackte Risse entstanden.
Die Schreie und Rufe der Fliehenden hatten nicht abgenommen. Einige kamen von weiter hinten, andere schienen aus der ersten Etage zu kommen. Anna lauschte und überlegte. Oben war die Falle. Dort konnte ihr niemand entwischen. Mit einem unmenschlichen, tierischen Grunzen ging sie zu den Rolltreppen. Ihr Körper zitterte vor Erregung und Vorfreude auf das bevorstehende Massaker, das sie gleich anrichten würde.
Anna war fast im nächsten Stock angekommen, als ein peitschender Knall von hinten erscholl und sie von einer unsichtbaren Macht nach vorne geworfen wurde. Im letzten Moment konnte sie ihren Sturz noch abfangen und sich am Geländer festhalten.
Verwirrt drehte sie sich um und schaute hinunter. Ein Polizist kam mit schnellen Schritten und erhobener Waffe auf die Rolltreppe zu. Noch immer unsicher darüber, was eben geschehen war, blickte sie an sich herab und entdeckte an ihrer rechten Brusthälfte auf Schulterhöhe ein feines Loch. Der Mann hatte auf sie geschossen. Aber es kam kein Blut heraus.
Der Polizist war inzwischen auf der Treppe und näherte sich.
„Ich hatte Sie gewarnt!“ rief er mit zittriger Stimme. Ob er wohl gesehen hatte, was sie angerichtet hatte? „Es wäre besser gewesen, Sie wären stehen geblieben.“
Noch näher.
„Jetzt nehmen Sie die Hände hoch und bewegen sich keinen Millimeter mehr, verstanden?“
Immer näher.
Gehorsam hob Anna ihre Arme. Doch dann machte sie, anstatt stehenzubleiben, einen gewaltigen Satz auf den Polizisten zu und zwei weitere Schüsse warfen sie wie unsichtbare Fäuste zurück. Regungslos blieb sie liegen. Der Mann erschien über sie und hielt die Pistole immer noch auf sie gerichtet. Anna grinste böse, ihr Gesicht verzog sich zu einer dämonischen, grässlichen Fratze und gerade wollte sie ihren Arm heben um den Mann zu packen, da drückte er noch zweimal ab. Sie gab nicht auf.
„Du ... Du Monster!“
Ein dritter Schuss. Diesmal war es die Stirn.
Anna starb ...
... nicht. Eine Tote konnte man nicht töten. Wusste das dieser Idiot denn nicht?
Das Letzte, was diese arme Kreatur mit der lächerlichen Pistole sah, war, wie Anna ihn zu sich herunter riss um ihn zu einem weiteren lebenden Toten zu machen...
Danach nur noch Schwärze.
Und neues Leben.