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Viola
Violas Augen waren schön. Am Liebsten hätte ich ihre Eiskristallwimpern mit meiner Zungenspitze berührt. Ich lachte bei dieser Vorstellung in die Einsamkeit hinein. Wir kletterten über den Zaun, der zu hoch war, um es uns einfach zu machen und zu niedrig um uns ein Hindernis zu sein. Eine harte Landung auf dem gefrorenen Boden.
Violas Schal wehte hinter ihr her, als sie rannte. Fast leuchtete er grün, bis sie von der Dunkelheit geschluckt wurde.
Die Geschichte könnte mit einem Kuss beginnen, oder mit einem Abriss der Gesamtsituation. Aber das tut sie nicht. Die Geschichte beginnt stattdessen mit der Schilderung von Violas Tod.
Ich lief dem Schal nach in die Dunkelheit, bis auch ich verschluckt wurde.
Vor mir ragten die alten, mir aus Kindertagen wohl bekannten Dinosaurierstatuen kopflos, gespenstig und traurig in den schwachen Mondschein. Eine Brise raschelte in den blattlosen Bäumen irgendwo hier. Steppengras knisterte unter meinen Füßen. Geisterstadt – dachte ich. Dieser Ort war in der Zeit stehen geblieben und seinem Schicksal überlassen. Ich dachte an Atomstadt und den verlassenen Park dort, in der strahlenden Ödnis, sich selbst überlassen und grausam schön in seiner Trostlosigkeit. Genau wie hier. So traurig, dass es mir einen Stich ins Rückenmark versetzte und ich nur noch gebeugt laufen wollte. Verwunschenes Land, toter Boden und doch so anmutig.
Wir hatten einen Plan, Viola und ich. Wir wollten den günstigen Wind nutzen und auf dem alten Riesenrad hoch hinaus. Das durchdringende Quetschen des Riesenrades schnitt durch die Stille und wehte als trauriges Klagelied durch den ganzen Park. Ich irrte ein wenig umher, zu umfassend verwirrte mich die schreckliche Melodie. Orientierungslos lief ich in die falsche Richtung. Ich hatte keine Ahnung, wo wir hin mussten und außerdem wusste ich nicht, wo Viola war. Natürlich! Ich musste doch nur hoch gucken. Über den Baumkronen ragte der obere Bogen des Riesenrades hervor. Ich hielt mich an die Richtung. Das Laufen fiel mir schwer, der Boden war uneben, Steine fehlten, Löcher und Wurzeln ließen mich straucheln. Ständig blickte ich mich um oder hielt inne, um nicht den Wächtern in die Arme zu laufen. Mein Herz schlug schwer, so, als hätte sich all mein Blut zusammengezogen und würde nun als Reduktion durch meine Gefäße gepresst, dass es mir fast die Augen aus den Höhlen drückte. Zeitweise wogte dieses Gefühl durch mich, das man bekommt, wenn man gegen Regeln verstößt. Eine Mischung aus Kraft und Mut und ein bisschen Revolution.
Als ich um eine Biegung ging, sah ich mich plötzlich vor einem Wassergraben. Ich sah zurück und erblickte die Teufelsfratze mit weit geöffnetem Maul hinter mir. Ein Piratenkahn schaukelte im Wasser und der Drachenkopf am Bug nickte mahnend auf und nieder. Dahinter, über eine Brücke zu erreichen dann das prominente Riesenrad, wo auch Viola war. Der grüne Schal hing an ihr herunter und leuchtete im Mondschein, ähnlich einer Ölspur, die in der Sonne flimmert. Sie winkte mich zu sich. Auf Zehenspitzen rannte ich in ihre Richtung. Als würde ich leiser über den bröckelnden Asphalt rennen, wenn ich nur die Spitzen meiner Füße nutzte.
In ihren Augen erkannte ich vage das gleiche Gefühlsgemisch was auch in mir tobte. Die Gondel, die gerade am Boden war, sah gut aus. Nicht gut in dem Sinne, aber gut für ihr Alter oder die Tatsache, dass hier lange Zeit niemand mehr war, um sie instand zu halten. Der Lack war abgeplatzt und die wenigen Reste, die noch vorhanden waren, hatten eine helle Farbe. Es war aber unmöglich, sie zuzuordnen. Als ich in Richtung der Gebüsche sah, fiel mir auf, wie der Nebel langsam daraus hervorkroch. Mit einem Mal war ich mir nicht mehr sicher. Hatte ich hatte Angst vor dem Nebel dort? Wieder dachte ich an Tschernobyl und an die vielen Toten. Ich mahnte mich zur Ruhe. Viola war aufgeregt. Sie wollte unbedingt in die Gondel und zog mich nach sich. Doch es war windstill.
Vorsichtig rüttelte der Wind an den Gondeln und manchmal bewegten wir uns ein wenig. Wenn es nicht winden würde, säßen wir morgen noch hier. Ich hockte zusammengekauert auf dem Boden der Gondel und rauchte dicke, selbstgedrehte Zigaretten. Viola starrte über die Brüstung hinaus in eine Richtung, die ich nicht zuordnen konnte. Vielleicht schaute sie auch in sich hinein. Sehr wahrscheinlich sogar, denn hier draußen gab es nichts zu sehen außer dem Nebel und den vielen dürren, kahlen Ästen. Warum fürchtete ich mich plötzlich so sehr?
Als der erste Wind kam, war es vielleicht gegen ein Uhr Nachts. Einmal hatte ich Stimmen vernommen, aber nur leise. Wir wollten unentdeckt bleiben, also zogen wir die Köpfe ein. Aber wir rauchten weiter. Es wäre schlimm gewesen, wenn in dieser Nacht jemand die gleiche Idee gehabt hätte wie wir. Niemand gesellte sich zu uns und wir warteten. Dann knarrte das Riesenrad und setzte sich mühselig unter lautem Quietschen in Bewegung. Wir wurden gegen den Uhrzeigersinn höher getragen, so ungefähr auf 2 Uhr.
Violas Augen lachten. Fast genauso hatten wir uns das vorgestellt. Sie hielt ihren Schal aus der Gondel und ließ ihn wehen. Ihr langer und blasser Hals war so schön und ihr Haar glänzte silbern, als hätte es keine Farbe, wie im Traum. Ich fühlte mich frei und leicht, obwohl wir jetzt auf 2 Uhr gefangen waren und uns auf den Wind verlassen mussten. Und der Wind war nicht gerade ein verlässlicher Geselle. Der Nächste kam erst etwa eine Stunde später, und es war derjenige, der uns auf den Zenit brachte, der uns dahin trug, wo wir sein wollten. Wir kannten die Zeit nicht, es hätte auch keine Stunde sein können. Ich konnte Zeiten noch nie gut einschätzen, ich hielt mich zu oft in der Ungewissheit auf.
Viola wurde unruhig. Zunächst dachte ich, dass sie wieder runter wollte. Aber sie wollte noch höher. Sie setzte einen Fuß auf die Balustrade der Gondel und zog sich am oberen Geländer hoch. Es schaukelte angenehm. Ich sank zurück und lehnte den Kopf an das kalte Metall. Sie zog sich auf das Dach. Ich lächelte noch, als ich ihre Füße verschwinden sah. Es rumpelte, sie hatte sich offensichtlich aufgestellt. „Man kann hier so viel sehen!“ rief sie zu mir hinunter. Ich regte mich nicht. Der Blick musste weit streifen, sie musste wohl den ganzen Nebel zwischen den dunklen Wegen sehen, wie er vom Mond sichtbar gemacht wurde, sie musste die Sicherheitsmänner auf ihrem Weg sehen, vielleicht über die ganze Stadt, vielleicht sah sie all die Lichter leuchten. Vielleicht sah sie aber auch all das nicht, sondern richtete den Blick in den Himmel. Die Sterne sehen, das taten wir beide gerne. Sicher reckte sie ihren langen Hals und hoffte die Atmosphäre zu küssen.
Langsam richtete ich mich auf, ich wollte nicht wackeln und ihren Moment mit Angst zerstören. Ich blickte über das Geländer und schnippte meine Zigarette weg. Ich verfolgte das schwache Glimmen, bis ich es nicht mehr sehen konnte. Eine Minute verging, in der ich daran dachte, wie die Glut starb. Und Viola? Wer weiß, was sie dachte.
Der Wind kam wieder. Ziemlich heftiger, kalter Wind, vielleicht direkt aus Sibirien. Mein Atem stockte, das Rad setzte sich ziemlich heftig in Bewegung. Noch wollte ich ihr zurufen, sie solle sich flach auf die Gondel legen und wieder hinein gleiten, da hörte ich die Stille und dann sah ich sie fallen.
Sie fiel direkt an mir vorbei, ich spürte fast den Luftzug, doch bewegte sich meine Gondel unablässig selbst. 9 Uhr, 8 Uhr, 6 Uhr und wieder hoch und runter. Ich konnte sie nicht sehen, ich sah sie nicht liegen. Plötzlich war mein Blut wieder flüssig, aber so kalt, meine Hände zitterten und mein Magen war flau. Ich schrie immer wieder ihren Namen, ich hoffte so sehr auf eine Antwort, aber die Melodie des Riesenrades war zu laut und schluckte meine Stimme. Ein Zipfel ihres Schals pendelte über mir und ich griff ihn und zog ihn an mich. Er roch nach ihr, nur viel kälter. Die Stille war zu undurchdringlich um Platz für Leben zu lassen.
Stunden hat es gedauert bis ich wieder unten war und aussteigen konnte. Ich suchte sie und nicht weit vom Riesenrad entdecke ich sie. Asphalt und Sand waren vollgesogen mit Blut. Ich sah die Röte nicht, ich sah es schwarz. Sie war grausam entstellt. Ihre Glieder standen in abartiger, unmenschlicher Weise von ihr ab. Mein Puls überschlug sich, ich musste mich direkt neben ihr übergeben. Dieser Horror und dann noch die Panik nicht zu wissen, was ich nun tun sollte.
Vorsichtig berührte ich sie, aber sie war schon ganz kalt. Ich fühlte nach dem Puls, aber da war keiner. Ich hoffte, ich machte es falsch, ich hoffte, dass da noch Leben in ihr drin war. Ich weinte. Ich weinte so viel und so heftig. Die Tränenbahn fror an meinen Wangen zu Eis. Eis, überall. Immer wieder wehrte ich mich gegen das heftige Übergeben.
Ich schrie also. Ich schrie aus voller Kehle so laut ich konnte um Hilfe. Ich schrie, dass ich am Riesenrad sei. Ich schrie so lange bis ich Schritte hören konnte und dann heulte ich nur noch. Ich schluchzte so laut und sandte all meine Angst in die Nacht hinaus. Ich wusste, dass ich jetzt verdächtigt werden würde. Sofort scharten sich die Wachleute um Violas zierlichen, zertrümmerten Körper. Keiner sorgte sich um mich.
Innerhalb von Minuten konnte ich aus der Ferne Blaulicht sehen. Und da kamen sie alle: Polizei, Notarzt, Krankenwagen. Und alle kamen sie vergebens. Sie war tot. Und sie war schon tot, als sie den Boden berührte. Alles war gebrochen. Sie war zerbrochen. Und dann fragten sie mich, ob ich sie gestoßen habe. Und ich musste überlegen, ob ich sie gestoßen habe. Ich konnte nichts sagen, ich wusste es nicht mehr. Es hagelte Vorwürfe: „Warum macht ihr denn so dummes Zeug?“ aber darauf konnte ich auch nicht antworten. Es gab keinen Grund. Für nichts in dieser Nacht gab es einen Grund.
Sie stellten mir Fragen, die ich nicht beantworten konnte, weil ich stumm war vor Angst, das Falsche zu sagen. In diesem Moment wäre alles, was ich hätte sagen können, das Falsche gewesen.
Ich könnte nun weiter beschreiben, wie mir Fragen gestellt wurden und wie ich schwieg. Und ich könnte schreiben, wie mir unterstellt wurde, sie gestoßen zu haben. Aber das tue ich nicht. Stattdessen will ich mich lieber an unser Leben zusammen erinnern.
Es war Frühling als ich das erste Mal auf sie traf. Zwischen uns hat es sofort gefunkt. Sie war wie eine Naturgewalt, so herzzerreißend charmant, dass ich ihr nicht wiederstehen konnte. Aber so phantastisch sie auch war, bekam ich sie doch nie zu fassen. So wurde ihr Bild eingebrannt in mein Verlangen, mehr von ihr zu haben als andere, mehr von ihr zu wissen als der Rest der Welt.
Ich war verliebt. Ich hing an ihren Lippen. Und sie tanzte in Kreisen um mich herum und ich freute mich auf die Zukunft.
Sie roch wie der Sommer, noch nie hatte mich eine Person so bezaubert wie sie. Ich sah ihr in die Augen und ich verlor mich darin. Sie zog mich sanft in ihre Seele hinein und ich ertrank so gern darin. Doch ich wusste nicht, dass es allen so ging, dass Viola nicht zu fassen war. Wir verbrachten viel Zeit auf unserem Balkon, auch mit anderen. Wir tranken viel und lachten laut und lauter, bis uns die Tränen liefen und darüber hinaus und dann begossen wir unser Lachen mit Bier und lachten immer weiter. Ich hatte noch nie einen schöneren Sommer. Und ich vergaß mich immer mehr, wenn sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog; ihre kleinen, geraden, weißen Zähne entblößte und sie sich in einer lachenden Koloratur verlor. Obwohl sie von so zierlicher Gestalt war, hatte sie eine tiefe, fast rauchige Stimme. Wenn sie mir dann in die Augen sah und mich in sich hinein zog, vergaß ich alles um mich her, hörte nur sie, sah nur sie und war ganz atemlos.
Mit den kälteren Temperaturen zog es uns nach Drinnen und die Freiheit, die ich gefühlt habe, begann ihren Glanz zu verlieren. Eifersucht und Depression tanzten langsam ihren Tango in meinem Herzen. Ich wollte sie nicht teilen mit den Anderen und sie wollte nicht mir gehören.
Ich könnte nun die Geschichte meiner Eifersucht erzählen und wie ich meine Arme fester um sie schlang. Stattdessen will ich aber...
Mein Atem setzt wieder ein. Ich sehe wie wir auf dem Riesenrad sind, dort oben. Und bevor ich mich erinnern kann, flieht sich mein armer Kopf in die Ohnmacht. Und als ich erwache, habe ich wieder das Bild vor Augen; ihre Füße die vom Gondeldach lugten; die kleinen, blauen Riemchenschuhe. Waren sie blau? Die schmalen Fesseln, die hervorstehenden Knöchel mit den prallen Adern unter der Oberfläche. Ich spürte noch den Nachdruck ihrer Oberschenkel an meinen Fingern, das nachgiebige Fleisch und die gespannte Haut. In meiner Erinnerung ein Rocksaum, der mein Handgelenk kurz streifte.
Ich liege und betrachte meine Hände. Blut klebt noch daran. Violas Blut oder meins? Wie kann Blut an mir kleben, ich kann mich nicht erinnern sie angefasst zu haben. Schwindel kommt wie die Gezeiten über mich, schwillt an und wieder ab. Ich fühle mich eigenartig aufgelöst. Ein Stöhnen entflieht mir.
In meinem Traum werde ich befragt, in meiner Auflösung immer wieder, Tag um Tag, bis ich nicht mehr kann und meine Erinnerung unkonstruierbar wird. Immer wieder senkt sich mein Blick auf meine abgebrochenen Fingernägel. Eine Stimme sagt: „Wir wissen doch beide, was passiert ist.“ Und dann Ohnmacht. Unter meinen halb geschlossenen Lidern rollen meine Augen unkontrolliert in ihrem Höhlen umher, bis eine Berührung mich wieder erweckt. Ein Mensch berührt mich. Er ist erschreckt, seine hochgezogenen Schultern verraten ihn. „Überall Kotze.“ bemerkt er. Ich drehe mich weg, kann sein kleines, aschfahles Gesicht schlecht ertragen und auch die Kinderfinger, die unnötig meine Schulter packen. Diese viel zu zarte Berührung, die unweigerlich elektrisierend wirkt.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem mich die Liebe traf. Ich hatte die ganze Zeit schon auf den Moment gewartet, an dem alles klar ist. Ich wusste, er würde kommen. Wir waren alte Bekannte. Ich war unruhig. Dieser eine Blick dann, durch den ganzen dämmerigen Raum irgendeiner Lokalität traf mich heftig. Kitschig aber trotzdem nicht unwahr klatschte mir die Liebe mit flacher Hand ins Gesicht und dann traf sie mich in die Magengrube, so entwaffnend hart, dass ich nach Luft japsen musste. Gleichzeitig drängte es mir ihr Haar zu nehmen und zu essen, sie zu essen. Jeden Zentimeter ihrer Haut abzulecken, meinen Mund auf ihren Mund zu legen und ihren Atem auszusaugen.
Auch jetzt stellt sich der Hunger ein, bei all meiner Lähmung. Ihr Duft in meiner Nase ist so stark, dass Blut daraus hervorschießt, viel zu überraschend und viel zu viel. Mich aus der drohenden Ohnmacht windend ergießt sich ein Feuerwerk von Momentaufnahmen über mir. Blitzend sehe ich die Neuronen hinter meinen Augen, tief in meinem Kopf brennen und verbrennen.
Meine Hände schwitzen und ich spüre wieder den festen Spann ihres Fußes in meiner Handfläche, als der Schuh abstreifte. Nackte Haut auf meiner Haut, nackte Angst in meinen Händen, krampfende Finger, der fallende Schuh, kein Aufschlag zu hören, kein Schreien zu hören, nur Rauschen in meinem Ohr, nur Taubheit, kein Gefühl in der Umlaufbahn, doch Angst überall, den Wind nicht spüren, nur den Auftrieb.
Schwitzende Hände bei all der Ruhe und immer mehr Flackern bei all der Ruhe, es brüllt in die Ruhe und immer wieder der fliegende, grüne Schal. Wie kommt der Schal in meine Hand?
Ein Moment der Ruhe, eine kleine Entspannung wenn sich die Hände entkrampfen.
Diese unendliche Stille in unserer Gondel, sie in meinen Armen, ihr Gesicht fest an meiner Brust.