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- 31.08.2008
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Villa zur Hoffnung
Wer je die flamme umschritt
Bleibe der flamme trabant!
Wie er auch wandert und kreist:
Wo noch ihr schein ihn erreicht
Irrt er zu weit nie vom ziel.
Nur wenn sein blick sie verlor
Eigener schimmer ihn trügt:
Fehlt ihm der mitte gesetz
Treibt er zerstiebend ins all.
Stefan George
Lasse sah aus dem Fenster. Die Abendsonne wärmte noch; gleich würde sie hinter den Dünen verschwinden und rasch der Kühle des Frühjahrabends platzmachen. Es war ein schöner Tag, der nun zu Ende ging, der Abschluss eines erfüllten Wochenendes mit vielen Freunden. Er lud nun schon seit fünf Jahren diesen großen Kreis ein. Früher war er selbst Gast gewesen, war älter geworden, dann starb der Gastgeber und der Stab war an ihn gegangen.
„Wie belebend es doch immer wieder ist!“, entfuhr es ihm.
Hartmut nickte: „Ja, so geht es mir auch. Man lebt geradezu daraufhin. Und dann … reine Erfüllung. Ich kann noch gar nicht glauben, dass es schon wieder vorbei ist.“
„Süß ist es, süß … und dunkel. Süß und schwarz wie Lakritze … in ihrer reinsten Form. Das ist das Geheimnis. Dunkel, aber reine Energie.“
„Sollten wir bald mal wieder nach dem Rechten sehen? Für wann hast Du die Maschine bestellt?“
„Welche Maschine? Die für die Gäste?“
„Ja, die.“
„Die fliegt um neun. Die andere um zehn.“
„Wie hat sich eigentlich Kalle gemacht? Ich meine, Du hattest sicher mehr Gelegenheit, ihn ungestört zu beobachten. Ging für ihn alles klar?“
„Ja, ich denke schon. Es ist immer aufregend, so, das erste Mal. Das erste Mal dabei zu sein.“
„Ja, es ist ja viel Neues. Eigentlich kennt er es ja, er ist ja herangeführt worden, hatte einen guten Lehrer … aber das erste Mal so herum, nicht er als Knabe, sondern … es ist ein Schritt.“
„Ja, es ist ein Schritt.“
„Was macht er eigentlich?“
„Warum fragst Du? Schau doch nach!“
„Tu ich ja. Er ist nicht dabei.“
Beide beugten sich über die Flatscreens, auf denen die Kamerabilder aus den unteren Stockwerken zu sehen waren. Alle Räume waren mit unsichtbaren Kameras ausgestattet; hier oben hatte man das gesamte Reetdachhaus in Kontrolle, auch jeden Kellerraum.
„Er ist nicht da.“
„Er wird die Abendsonne genießen.“
„Ja, dieser romantische Schwärmer … wird Zeit, dass er das Leben kennenlernt.“
„Dazu hatte er ja hier gerade Gelegenheit. Die schönsten Seiten. Wieder tolle, schöne Knaben diesmal. Alle blond.“
„Da ist noch etwas … ich hatte am zweiten Abend das Gefühl, dass dein Sohn sich mit den Jungen verständigen konnte.“
„Wie das?“
„Weiß ich auch nicht. Immerhin war er ja lange mit einigen allein. Man kann die Augen und Ohren nicht überall haben … lange allein.“
„Ja, aber unmöglich, dass die sich unterhalten können. Da passiert nichts. Außerdem … er wusste ja, was kommt. Er war ja vorbereitet. Wie sollten die sich verständigen?“
„Mir ist, als hätte ich zwischendurch russisch gehört. Nicht rumänisch. Russisch. Kann dein Sohn russisch?“
„Wieso, das wird auf dem Odilienberg nicht angeboten … wo kämen wir da hin? Nein.“
„War er nicht im Austausch in den USA? Wer weiß, was er da für Kurse … mir ist, als hätte er sie verstanden. Nur so ein Gefühl. Ein mulmiges Gefühl.“
„Hier … iss noch ein Lakritz. Da kommst du auf andere Gedanken.“
„Ja.“
„Schwarzes Lakritz, dunkles, süßes Lakritz. Nicht dieses neumodische bunte Zeug.“
„Du meinst das, was Kalle immer nascht?“
„Wie?“
„Weißt du das nicht? Dein Sohn isst bunte, farbige, poppige Lakritze. Hat er fast immer dabei.“
„Wusste ich nicht. Aber … wo er nur bleibt? Irgendwo muss er sich ja rumtreiben. Klär´ du das mal. Ich werde runter gehen, die Gäste werden sich gleich verabschieden, sie sind schon bei der Garderobe, der Peter vom Wochenspiegel, der Udo vom Arbeitgeber-Verband, unser kleiner dicker Gewerkschaftsboss, sie sind wirklich nicht alle Freunde, aber guck, der Clemens hat schon den Mantel an …“
„Fehlt nur der Schlapphut. Clemens vom LKA.“
„Ich mag ihn auch nicht. Aber er hält uns die Luft rein.“
Lasse geht.
„So, das wär´s. Alle weg zum Flughafen. Und Kalle habe ich auch gesehen, alles klar. Er war sehr vergnügt. Hat ihm scheinbar gefallen, sein erstes Mal.“
„Bleibt er noch?“
„Ja. Das geht klar. Kein Problem.“
„Dann gehe ich mal, die zweite Ladung vorzubereiten.“
„Ja, mach das.“
Lasse setzte sich wieder vor das Fenster. Die Sonne war untergegangen, aber noch immer strahlte der Himmel rötlich hell. Gleich würden fünf SUV mit getönten Scheiben an das Haus heranfahren. Hartmut würde gleich die Knaben aus dem Keller holen und zu den Wagen führen, unterstützt durch die Security-Leute. Deren Maschine wartete schon. Es war nicht weit von Kampen bis zum Flughafen. Die SUV würden in der Dunkelheit über die Munkmarsch fahren, nicht zum Haupteingang auf der Westerland-Seite, sondern von der Wattseite direkt zur Maschine, die schon mit warmlaufenden Triebwerken in Startposition stand. Das Umsteigen der Knaben und ihrer Begleitung war ein Manöver von einer Minute, und die Maschine hebt ab. Und dann … weg. Immer nach Westen. In Newcastle upon Tyne würde es ebenso laufen: die Maschine landet, fünf SUV fahren heran, und dann weg über die Feldwege…
„Lasse, irgendwas stimmt nicht … die SUV sind nicht gekommen!“
„Wieso? Wie geht das? Was ist da los?”
„Sie sind nicht gekommen.”
„Ich habe immer gesagt, Präzision! Präzision ist alles! Die Maschine wartet, die Fahrer in Newcastle warten, … die … die … warten …”
„Ich kann´s nicht ändern.“
„Wo ist Lasse jetzt schon wieder?“
„Nicht gesehen.“
„Wo ist er?“
Hartmut zog die Schultern hoch. Er blickte im Zimmer herum.
„Dass du so was hier offen herum liegen lässt.“
„Was? “
„ Kidney surgery is one of the greatest success stories …”
„Das lag hier nicht rum. Das gehört da oben ins Regal“
“Royal Organ, the leading edge of British science and economy … wenn jemand das sieht!“
„Hier kommt keiner rein.“
„Dein Wort in Gottes Ohr …“
„Ruf mal die Security an. Wo die bleiben. So geht das doch nicht. Ich telefoniere mit dem Piloten, dass es sich ein paar Minuten verzögert.“
„Krieg ich nicht. Nimmt keiner ab.“
„Der Pilot auch nicht.“
„Guck mal da.“ Hartmut zeigte aus dem Fenster. Dort flogen Hubschrauber, gleich drei Stück.
„Werden wohl einen Ausflug machen. Bier holen“, witzelte Lasse.
Hartmut nahm sich Lakritze aus dem Plastikbeutel. Der Beutel war nun leer, er zog ihn glatt und brachte ihn zum Papierkorb. Er war müde, müde vom Tag, der Anstrengung, der vielen Organisation, und … vom Sex. Er war nicht mehr der Jüngste. Als er die Tüte in den Papierkorb werfen wollte, fiel sie prompt daneben. Umständlich bückte er sich, hob sie auf und legte sie in den Papierkorb. Dabei fiel sein Blick auf eine weitere Lakritz-Verpackung. Er hob sie hoch: „Ist die von dir? Nicht doch!“
Lasse erwiderte die Frage mit einem entsetzten Blick. Das war eine Verpackung von buntem Lakritz!
„Er war hier.“
„Ich bin hier.“ Kalle stand in der Tür. Groß, klar und nüchtern stand er da. Lasse und Hartmut saßen und schwiegen. Langsam schritt Kalle zum Fenster. Er sah seinen Vater an.
„So mies wie die Lehrer vom Odilienberg. Zum Kotzen mies. Aber das da“, er wies zu den Unterlagen der englischen Klinik, „das war zu viel. Die Kids erzählen von dem Ferienlager, wo sie hindürfen, und du verkaufst sie für so etwas …“
Das Dröhnen der Hubschrauber nahm zu, rund um das Haus dröhnten sie, umkreisten es, setzten zur Landung an.
„Da du ja einen LKA-Typen dabei hattest, wusste ich, da werde ich nichts. Aber es gibt ja noch das BKA. Ober sticht unter, würde ich sagen … eine Initiation sollte es sein, dieses Ereignis in Kampen. Weiß Gott, das war es. Könnte sein, dass ich jetzt wirklich ein Stückchen erwachsen werde.“