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Villa Hammerstein

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21.01.2003
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Villa Hammerstein

Die Strasse mündete in einen Waldweg. Dies war nicht die Straße nach Kochendorf. Das dichte Laub der Bäume hielt das Licht vom Boden fern. Ich schaltete das Abblendlicht ein und starrte mit zusammengekniffenen Augen durch die Scheiben, entdeckte keine Schneise, an der ich hätte wenden können. Sollte ich rückwärts fahren? Der Wagen fuhr weiter, und es wurde heller, als der Wald in einen Park überging. Die Einfahrt wurde von lebensgroßen Statuen aus Stein umsäumt. Dann sah ich eine Villa und hielt den Wagen an. Ich stieg aus und legte den Kopf zurück, fühlte mich ausserstande zu urteilen, wie alt das Haus war. Daneben ein flacher Bau. Für das Personal? Warum hatte ich noch nie von diesem Anwesen gehört? Die Mauern der Villa waren mit Efeu überzogen, dessen dunkles Grün Erker und andere Vorsprünge den Augen verbarg. Erker, welche die rigide gotische Architektur durchbrachen. Ich hörte Klänge eines Cembalos, den Gesang einer Frau. Hinter einem hohen Fenster schien gedämpftes Licht hervor. Dann wurde es auf einmal still. Eine Tür knarrte. Im Eingang der Villa sah ich den Schatten einer weiblichen Gestalt. Sie stand da, ohne sich zu bewegen. Dann rief sie: “Kommen Sie schon. Es wird kalt.”
“Ich stieg die Stufen zum Eingang empor. Die Frau hatte mir den Rücken zugewandt und ging ins Haus zurück. Dann drehte sie sich zu mir.
“Schließen Sie die Tür.” Ich folgte ihr in einen Salon. Eher ein kleines Theater, dachte ich. Stühle standen in Reih und Glied, warteten auf Zuschauer. Ich sah ein Podium und ein Cembalo. An den Wänden standen Öfen, die genügend Wärme abgaben, dass ich meinen Mantel aufknöpfte.
“Entschuldigen Sie die Störung, ich heiße Monika Hammerstein, möchte nach Kochendorf und bin vom Wege abgekommen.”
Die Frau rückte zwei Stühle an einen der Öfen heran.
“Setzen Sie sich. Ich habe selten Gäste hier.” Wir sahen uns an.
“Was ist mit dem Cembalospieler?”, fragte ich. “Haben Sie gesungen?” Die Frau nickte.
“So eine schöne Stimme”, fügte ich hinzu. Die Frau lächelte. “Oft hat man es mir gesagt, doch ich höre es heute genau so gern wie damals. Ich bin die Liesel”, und sie gab mir die Hand.
Gedeckte Farben wären angemessener, dachte ich, als ich ihr buntes Kleid betrachtete. Was war nun mit dem Cembalospieler? Das Alter der Frau konnte ich nicht einschätzen. Sie hielt sich gerade und es war, als schimmere jugendliche Frische aus ihrer pergamentfarbenen Haut hervor. Doch war sie alt. Falten hatten sich über ihr Gesicht gelegt, und ihre zu einem Knoten zurückgekämmten Haare waren schlohweiß.
“Der Cembalospieler? Dort ist er, Teradeus mit seiner Tochter Tera.” An der gegenüberliegenden Wand standen ein Mann und ein junges Mädchen. Wo war die Tür?, fragte ich mich. Das Mädchen trug ein grünes Kleid, so grün wie die Farbe ihrer Augen. Sie war um die zwanzig, blond und lächelte mich an. Doch es war der Mann, der mich in seinem Blick hielt. Er war hoch gewachsen, trug einen dunklen, altmodischen Anzug und ein buntes Tuch um den Hals. Flammendrote Haare fielen auf seine Schultern, bleicher Teint, grüne Augen, die sich in meine Seele zu bohren schienen. Er war schön wie ein Engel.
“Ich-ich, ich wollte nach Kochendorf,” stammelte ich und wusste nicht, was ich mit meinen Händen machen sollte.
“Haben Sie das nicht schon einmal gesagt?”, fragte Liesel, während ich meine Augen nicht von dem Mann, hieß er tatsächlich Teradeus?, wenden konnte.”
“Papa,” sagte das junge Mädchen. “Lassen wir die beiden allein. Liesel hat sicher viel zu erzählen.”
Ich drehte mich zu der Frau, die sich Liesel nannte. Sie hielt zwei Gläser Rotwein in ihren Händen, von denen sie mir eines gab. Verdutzt betrachtete ich das Glas in meiner Hand, dann wandte ich meinen Kopf und sah, Tera und Teradeus waren verschwunden.
“Zum Wohl”, meinte Liesel und nahm einen Schluck. “Machen Sie es sich gemütlich, lehnen Sie sich zurück. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.”

Die Villa der Schwestern Hammerstein lag wie ein schlafendes Tier unter dem bleichen Licht des Mondes, als Liesel hustend die Decken zur Seite schob und sich von der Pritsche erhob. Fünf Uhr morgens. Liesel erwachte immer um diese Zeit. Ein Ofen bullerte in der Ecke. Ihre Hände tasteten nach den Zündhölzern. Das warme Licht der Kerze schien auf rußige Wände und Liesel schob das Buch, in dem sie bis tief in die Nacht gelesen hatte, unter ihr Kopfkissen. Dann schlüpfte sie in ihr Kleid.
Liesel sah an sich hinunter. Ihr einziges Kleid. Es platzte an den Nähten und bei Tageslicht war grau, was einstmals fröhliche Farben gewesen waren. In einer Woche war das Jahr vorbei und sie würde ein neues bekommen. Die Schwestern Hammerstein hatten es ihr zum Jahresfest versprochen.
Der Kohlenkeller lag neben ihrem Raum. Liesel schaufelte Kohle in einen Eimer und trug ihn in die Villa. Eine halbe Stunde dauerte es, und sie hatte alle Öfen angeheizt. Eine weitere halbe Stunde verging, bis es hell genug war. Sie holte Wasser aus dem Brunnen und wusch sich hinter den Pferdeställen. Liesel reckte sich in der frostigen Luft. Ein junges Mädchen in einem Kleid, dessen heller Stoff grau geworden war. Das kalte Wasser ließ ihre Wangen glühen. Die Augen ruhten wie zwei blaue Seen in ihrem Gesicht, und als sie später in der Gesindestube eine Scheibe vom Brotlaib schnitt, Speck und Käse auf legte, da dachte sie: So schlimm ist das Leben nicht. Es war einer der wenigen Augenblicke, in dem sie ihren Kummer verdrängen konnte, der wie Mehltau auf ihrer Seele lag.
Ställe ausmisten, Holz hacken, in der Küche helfen, Waschen, Arbeit auf dem Feld. Sie hörte nie auf. Arbeit, für Verpflegung und Logis.
In den letzten Monaten war es vorgekommen, dass marodierende Banden eingefallen waren und sich über die Mägde her gemacht hatten, ohne dass die Schwestern Hammerstein einen Finger krümmten. Dann nahmen die Banditen die Pferde mit, und die Mägde mussten sich vor den Pflug spannen. Pferde waren rar, Männer gab es nicht. Der Majordomus, war er ein Mann? Sie zogen als Söldner durch die Lande. Männer, die mordeten, brandschatzten, plünderten, schändeten. Die hohen Frauen, sie hatten keine Ehre im Leib. Sie boten ihre Mägde an, damit man sie in Ruhe ließ. Oft hatte Liesel sterben wollen, doch dann sagte sie sich, ich bin nicht die Einzige. Junge Frauen, die nicht in der Stadt lebten, waren Freiwild. Es waren schreckliche Zeiten. Oft hatte sie fortlaufen wollen. Wohin? Die Pfeffersäcke von Donnerstadt hatten ihre Tore dicht gemacht und ließen keinen Menschen ein.

Liesel schickte sich an, die Ställe auszumisten. Als sie den Mist auf die Karre lud, kam der Majordomus in den Stall. Er sah sich um und rümpfte die Nase.
“Liesel,” meinte er und sah an ihr vorbei. “Liesel, laufe zur Guten Frau, der Herrin Henriette geht es schlecht.”
“Was hat sie denn?”
“Es steht dir nicht an, danach zu fragen. Sage der Guten Frau, sie solle so schnell wie möglich kommen.”
Liesel kannte den Weg. Sie eilte in ihren Keller, zog derbe Stiefel über ihre Füße, warf sich eine Decke über die Schultern, lief durch den Park und verschwand im Wald. Sie nahm den Weg der Postkutschen und Pferdewagen. Wenn sie diese oder Reiter kommen hörte, huschte sie in den Wald und versteckte sich hinter einem Baum, bis sie wieder allein war. Einmal war ein Fahrender Händler vorbei gekommen. Mit seinen schönen Stoffen, Töpfen und Pfannen, und Liesel dachte wieder an die schönen Kleider, die sie sich hätte nähen können. Dann schüttelte sie die Gedanken ab, ging bis zur hohen Eiche, die sich vor ihr in den Himmel reckte. Wo hörte sie auf? Liesel wusste es nicht. Das Geäst des Baumes war so dicht, dass es Liesel den Blick nach oben verwehrte. Dort ging sie tiefer in den Wald hinein, bis sie vor einer Lichtung stand. Das kleine Holzhaus dort schien aus einem Märchenbuch. Keine Insekten summten, kein Vogel zwitscherte, kein Windhauch fuhr durch die Bäume, und Liesel wurde unbehaglich zumute. Zögernd öffnete sie die Gartenpforte und ging furchtsam auf das Haus zu. Ihr Blick glitt über die Kräuterbeete, in denen Pflanzen mit blauen, glockenartigen Blüten hinter ihr her zu sehen schienen. Andere kannte sie: Brennnesseln, Fingerhut, Basilikum, Rosmarin. Eine Katze sprang vom Brunnen und strich um ihre Beine. Liesel blieb stehen, beugte sich hinab und fuhr dem Tier mit der Hand über das schwarze Fell, als die Tür auf ging und ein junges Mädchen heraus kam. Es war in Liesels Alter, wohl um die zwanzig herum. Das blonde Haar wippte auf ihren Schultern.
“Tag, Liesel. Willst du zu Mutter?”
Liesel richtete sich auf und nickte nur.
“Komm rein.” Das Mädchen drehte sich um und humpelte ins Haus. Die Fenster des Zimmers waren verhangen, Feuer loderte im Kamin. Eine Frau kam aus einem Sessel hervor und ging auf Liesel zu. Ein roter Umhang verdeckte ihre hohe Gestalt. Dunkle Haare umrahmten ihr bleiches Gesicht, fielen über ihre Schultern. Kühl blickte sie auf Liesel hinab, die verlegen vor ihr stand. Sie dachte an das, was man über die Gute Frau erzählte. Nonne sei sie gewesen, habe sich mit dem Teufel eingelassen und sei deswegen aus dem Konvent verbannt worden.
“Du brauchst mir nichts zu sagen. Herrin Henriette, nicht wahr?”
Liesel nickte.
“Ich gehe, Tera,” wandte sich die Gute Frau an ihre Tochter. “Liesel bleibt bei dir, bis ich zurück bin. Du weißt. Berühre nichts, was dir schaden könnte.”
“Ja, Mutter.” Tera hinkte zu einem der Sessel.
“Setz dich doch.” Tera deutete auf die Kissen neben sich. Liesel sah zum Kamin hinüber. Auf dem Sims lagen vertrocknete Eidechsen, Hasenpfoten, standen Mörser aus Steingut. Neben dem Kamin wurde ein mannhohes Brett durch ein rotes Tuch verdeckt. War es eines?
Tera folgte Liesels Blick. “Es ist ein Spiegel. Mutter hat mir verboten, hinein zu sehen.”
Liesel sagte nichts. Tera blickte auf den Spiegel, dann sah sie Liesel an.
“Lass es uns gemeinsam tun.”
“Ich weiss nicht, Tera. Wenn Deine Mutter gesagt hat… .”
Tera sprang auf rannte auf den Spiegel zu und zog das Tuch weg.
“Tera!”, rief Liesel. Doch die antwortete nicht.
Liesel stellte sich neben sie und starrte mit geweiteten Augen auf die Gestalt, die ihnen aus dem Spiegel entgegen sah. Sie war nackt. Brandwunden überzogen ihre Haut. Sie trug den Kopf unter ihrem Arm. Grüne Augen leuchteten aus dem zernarbten Gesicht. Teras Augen. Tera taumelte.
“Ein Dämon!”, ächzte sie. “Ich bin ein Dämon!” Sie fuhr fort, in den Spiegel zu starren. Liesel schob Tera zur Seite und stellte sich davor. Sie sah sich nicht.
“Närrin,” schrie Tera. “Es ist ein Dämonenspiegel!”. Sie riss einen Mörser vom Kaminsims und schleuderte ihn gegen das Glas.
“Mutter, wie konntest du nur!”. Tera schrie es in den Raum hinein. “Mutter, wie konntest du nur!” Ihre Stimme wurde immer leiser, als sie in einer Ecke des Zimmers kauerte, dann hörte Liesel nur noch ihr Schluchzen. Liesel setzte sich neben sie, hielt sie in ihren Armen.
“Dann ist es also wahr”. Liesel zog Tera noch enger an sich.
“Die Geschichte über Deine Mutter.”
“Wäre ich doch nie geboren worden!”, schluchzte Tera. Tränen rannen ihr die Wangen hinab. “Ich bin ein Dämon.”
“Doch nicht in unserer Welt.” Sage das Richtige!, ermahnte sich Liesel. Noch nie hatte sie sich so unsicher gefühlt.
“Hier bist du Tera, ein hübsches, junges Mädchen. Und so wird es auch bleiben.” Sie hielten sich umklammert und starrten in das Feuer. Dann schlief Liesel ein.

Jemand rüttelte ihre Schulter.
“Was habt ihr gemacht!” Die Gute Frau stand über sie gebeugt. Der Schein des Kaminfeuers zuckte über ihr Gesicht. Es schien den ganzen Raum auszufüllen.
“Mutter, wie konntest du nur!” Tera klammerte sich noch enger an Liesel. “Mein Vater, ein Dämon! Wie konntest du es zulassen!”
Die Gute Frau warf sich weinend zwischen die Scherben des Spiegels.
Tera sprang auf und griff nach ihrem Mantel. Während die Gute Frau auf dem Boden kniete, mit fieberhaften Bewegungen versuchte, die Scherben des Spiegels zusammen zu fügen, verschwand Tera in einem anderen Zimmer und kam mit einem Buch hervor.
“Wir gehen”, raunte sie Liesel zu, dann liefen sie aus dem Haus.

Liesel fasste Tera an die Hand, als sie sich zu ihrem Keller vortasteten.
“Bleib stehen. Ich mache Licht”. Liesel zündete zwei Kerzen an und stellte sie auf den Boden. Tera sah sich um.
“So lebst du hier. Wer tut dir das an?”
“Die Schwestern Hammerstein. Ich kann hier schlafen, und es gibt was zu essen.”
Tera kauerte sich auf den Boden und öffnete ihr Buch.
“Ich will meinen Vater sehen. Dazu brauchen wir einen Kreis.”
“Kohlenstaub”, murmelte Liesel und holte einen Eimer aus dem Kohlenkeller.
Sie schüttete das schwarze Pulver in einem Kreis auf den Boden. Mit großen Augen sah Liesel zu, wie Tera das Buch aufschlug und die Beschwörungsformel sprach. Sie hielten den Atem an und warteten. Nichts. Nichts rührte sich. Liesel und Tera sahen sich an und fassten sich an den Händen. Sie lasen die Formel gemeinsam. In dem Kreis entstand ein Leuchten, dann verblasste es wieder.
“Tu es.” Tera drückte Liesel das Buch in die Hand.
Liesel las die Invokation. Hitze schoss ihr ins Gesicht, als Feuer den Kohlenstaub entzündete und im Kreis empor loderte. Dahinter bewegte sich eine Gestalt, die kaum von den Flammen zu unterscheiden war. Sie trug den Kopf unter ihrem Arm.
“Was willst du?”, fragte der Kopf mit einer Stimme, die Liesel an das quietschende Brunnenrad erinnerte.
“Antworten”, rief Tera. “Du bist Teradeus, mein Vater. Wieso hast du meinen Ruf nicht befolgt?”
“Dämonen lassen sich nicht von Dämonen kommandieren.”
“So bin ich ein Dämon?”
“Du bist meine Tochter.”
Liesel sah, wie Tera schluckte.
“Wieso hat sich meine Mutter mit dir einlassen können?”
Das kreischende Lachen Teradeus brach sich an den Wänden und Liesel bedeckte sich ihre Ohren mit den Händen.
“Es sind die äußeren Werte, die zählen.” Seine Gestalt wandelte sich in die eines jungen Mannes. Sein Gesicht glich dem eines Engels. Ein gefallener Engel? Er war grösser als die beiden Mädchen. Die Farbe seines Haares glich flackerndem Kaminfeuer. Teradeus lächelte, doch Liesel wich zurück, als sie das unmenschliche Funkeln seiner Augen sah.
“Und im Inneren bin ich so wie du? Ich kann es nicht glauben”, rief Tera.
Teradeus antwortete nicht, dann fragte er: “Was willst du?”
Wie schön er ist, dachte Liesel. Teras Augen besaßen das gleiche Grün.
“Welche Eigenschaften habe ich?”, fragte Tera.
“Finde es heraus. Du hast das Buch”, dann verschwand Teradeus in den Flammen.

Tera blieb vor dem Kreis stehen, auch als das Feuer erloschen war. In ihrem Gesicht arbeitete es. Dann ging sie zu dem kleinen Kellerfenster und starrte in die Dunkelheit. Ihre Schultern zuckten. Tera ein Dämon. Ich kann es nicht glauben, dachte Liesel. Sie spürte Teras Verzweiflung wie körperlichen Schmerz, als sie zu ihr ging und ihr einen Arm um die Schultern legte.
“Willst du mir helfen?”
“Was kann ich denn tun?”
“Kannst du dich unsichtbar machen? Könnten wir nicht meine Arbeit aufteilen? Die gewonnene Zeit benutzen wir, um aus dem Buch zu lernen.”

Sie lagen bäuchlings auf dem Boden, hatten Buch und Kerzen vor sich, übten die ganze Nacht. Zauberformeln. Wie bewege ich Gegenstände mit der Kraft des Willens? Wie mache ich aus Wasser Wein, nehme Menschen die Erinnerung? Es gab so viel zu lernen. Tagsüber bewältigte Liesel die Arbeit in der Hälfte der Zeit. Wo immer es ging, machte sich Tera unsichtbar und ging Liesel zur Hand.
“Wieso isst du plötzlich so viel?”, wunderten sich die anderen Mägde, wenn Liesel ein paar Scheiben Brot mehr abschnitt, Käse und Wurst einpackte und mit nahm.
“Dann arbeite ich schneller,” antwortete sie und füllte sich einen Krug mit Wasser. Tera verrichtete die Arbeiten ohne zu klagen, doch nachts, wenn sie in dem Keller auf der schmalen Pritsche schliefen, hörte Liesel ihr Schluchzen, wie sie im Traum nach ihrem Vater rief, und sie fühlte, dass Tera in dieser Welt nicht mehr glücklich war.
“Vielleicht ist es dort gar nicht so schlimm, wie es aussieht,” hatte sie einmal gesagt.

Dann stand das Jahresfest vor der Tür und der Majordomus kam, um Liesel zur Probe abzuholen. Liesel hatte die schönste Stimme weit und breit. Die Schwestern Hammerstein gaben ihr das neue Kleid nicht umsonst. Mit ihm würde Liesel ein Glanzlicht des Abends sein, wenn sie vom Cembalo begleitet, den Gästen vorsang. In dem Bad der Schwestern Hammerstein durfte sie sich waschen und salben. Vor den Proben. Vor dem Fest. Dort lag das neue Kleid und Liesels Herz hüpfte vor Freude. Dann schlug die Traurigkeit wieder über ihr zusammen. Sie wusste, nach einem Monat würde es so verblichen aussehen wie das alte.
Den Mann am Cembalo hatte sie schon einmal gesehen und Liesel rannen Schauer den Rücken herunter. Teradeus. Wie schön er ist, dachte Liesel. Die Beine schienen ihr nachzugeben, als er auf stand und auf sie zu kam. Er gab ihr ein Blatt Papier.
“Der Text, Liesel. Ich habe ihn für das Fest präpariert. Ein Wort ist es. Wer es hört oder liest, wird um Mitternacht in Stein verwandelt.”
“Behalte den Zettel!”, schrie Liesel und wandte sich um. “Ich will weiter leben”, fuhr sie mit leiser Stimme fort. “So schwer es mir auch fällt.”
“Liesel.” Die einschmeichelnde Stimme Teradeus lieβ Liesels Herz stärker klopfen. “Liesel.” Teradeus drehte das Mädchen zu sich herum. Sein Kopf näherte sich ihrem Gesicht. Sie merkte gar nicht, dass sie plötzlich den Zettel in ihrer Hand hielt. Die grünen Augen füllten Liesels Gesichtsfeld aus, und wieder gaben ihre Beine nach. Dann dachte sie an den Körper mit den Brandwunden, die Gestalt ohne Kopf und das kreischende Lachen. Teradeus seufzte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, und lieβ sich auf den Stuhl fallen.
“Liesel, ich empfinde etwas für dich, soweit ich überhaupt empfinden kann. Dankbarkeit. Weil du meine Tochter nicht im Stich gelassen hast. Lies das unterstrichene Wort in dem Gedicht rückwärts, dann geschieht Dir nichts”.
Teradeus blickte zu ihr empor. “Fangen wir an.”

Zu dem Jahresfest der Schwestern Hammerstein kamen die geistlichen Obrigkeiten und Pfeffersäcke aus der Stadt. Sie lieβen es sich nicht nehmen, mit ihren sechspferdigen Gespannen vorzufahren. Ein paar kräftige Burschen rollten Fässer der Städtischen Brauerei in den Saal, während die benachbarten Bauern frisch abgefüllten Wein herantrugen.
Kurz vor Mitternacht lagen die meisten der Gäste unter dem Tisch. Die Schwestern Hammerstein gehörten nicht dazu. Sie tranken Wasser. Und als Henriette den Glanzpunkt des Abends verkündete, zog sie Liesel auf das Podium.
Diese war sich nicht bewusst, wie bezaubernd sie in ihrem neuen bunten Kleid aussah. Sah nicht, dass die Männer ihr bewundernde Blicke zu warfen. Ihre Hand hielt den Zettel umkrampft. Hilflos blickte sie auf Teradeus, der die ersten Töne anschlug. Wo war Tera? War sie unsichtbar unter den Gästen? Sie musste sie warnen. In wenigen Minuten war es Mitternacht. Dann begann sie zu singen. Das Gedicht Ulrich von Huttens.

“Ich hab’s gewagt mit Sinnen
Und trag’ des noch kein’ Reu’ –
Mag ich nit dran gewinnen,
Noch muss man spüren Treu’!
Darmit ich mein’:
Nit ei’m allein –
Wenn man es woll’ erkennen –
Dem Land zugut!
Wiewohl man tut
Ein Pfaffenfeind mich nennen.

Da lass’ ich jeden lügen
Und reden was er will… ”

Plötzlich sprang der Pfarrer von seinem Sitz und brüllte mit hochrotem Kopf: “Wer hat das Gedicht ausgesucht? Das ist ein Affront gegen die Kirche!”
“Ruhe da! Sing weiter!” schrien andere, doch Liesel hielt sich hinter einem Pfeiler versteckt. Wieviel Minuten noch bis Mitternacht?
“Teradeus!”, kreischte eine Frau. “Warum hast du mich verlassen?” Liesel lugte hinter dem Pfeiler hervor und sah, wie die Gute Frau auf den Mann am Cembalo zu lief. Wieviel Minuten noch bis Mitternacht? Liesel hielt den Zettel vor die Augen. Das Wort steckte in der ersten Strophe. Wo war Tera? Die Glocke der Hofkapelle fing an Zwölf zu schlagen und Liesel sagte das unterstrichene Wort rückwärts auf.

“Es muss die Gute Frau gewesen sein. Nur sie hatte diese Macht, oder?” Liesel blickte fragend auf die anderen Mägde, die um die steinernen Figuren herum standen.
“Wir können sie nicht wieder lebendig machen. Stellen wir sie als Skulpturen in den Park.”
Mit vereinten Kräften zogen und schoben die Mägde die Figuren in den Park, während sie die restlichen Gäste ihren Rausch ausschliefen ließen, um sie am nächsten Morgen in ihre Kutschen zu setzen. Und Liesel dachte an das Buch, das in ihrem Keller lag. Doch sie wusste: alles hatte seinen Preis.

“Und diese Liesel sind Sie?”, fragte ich. Die Frau lehnte sich zurück und sah mich aus halbgeschlossenen Augen an.
“Hammerstein? Monika Hammerstein, hatten Sie gesagt?”
“Ja. Henriette war eine Uhrahne. Sie lebte vor fünfhundert Jahren. Wie kommt es, dass Sie dann noch….” Ich sprang auf und knöpfte meinen Mantel zu.
“Es ist kurz vor Mitternacht. Monika, nachdem ich Ihnen den Text des Liedes vorgelesen habe, sollten Sie sich nicht fragen, ob er noch immer seine Wirkung hat?”
“Sie meinen, um Mitternacht werde ich zu Stein?”
Liesel ging zum Cembalo und gab mir ein Stück Papier.
“Hier ist er. Es ist besser, Sie gehen jetzt. Nehmen Sie den Text mit, und kommen Sie in einem Jahr wieder vorbei, wenn Sie können.”
Bevor ich aus dem Salon lief, blickte ich mich noch einmal um. Teradeus. Wie gern hätte ich ihn noch einmal gesehen. Dann dachte ich an seine Tochter.
“Was ist mit Teras Mutter?”
“Sie ist schon vierhundert Jahre tot.”
“Liesel, und Sie?”
“Ich auch. Doch ich komme jedes Jahr hierher, um zu singen und mir ein neues Kleid zu holen. Ist es nicht herrlich?” Dabei drehte und wendete sie sich wie ein junges Mädchen.

Ich sitze in meinem Wagen, starre auf den Zettel. Die Innenbeleuchtung ist zu schwach und ich habe meine Lesebrille zu Hause gelassen. Wie lange noch bis Mitternacht? Der Zettel enthält alle Strophen des Gedichtes. Ich weiss, das Wort ist in der ersten, doch keines davon ist unterstrichen. Ich muss alle rückwärts lesen. Bin wie gelähmt. Ich schaffe es nicht. Zurück in die Villa, denke ich mir und öffne die Tür. Dann sehe ich. Mein Wagen steht auf einer Waldlichtung, und ich höre: Die Glocken der Kirche aus dem nächsten Dorf schlagen Mitternacht.

Haben Sie die Geschichte gelesen? Auch das Gedicht? Machen Sie es nicht wie ich. Warten Sie nicht, bis es Mitternacht sch….


 

Wow, krasse Sache! Man kann sich alles sehr gut vorstellen, schön erzählt. Lies die Story zur Kontrolle noch mal durch, irgendwo war ein n zu viel. Der Schluss ist echt spitze. Viele Grüße
Dryad

 

Danke. Sehe mir die Geschichte noch mal durch. War meine zweite Fantasy-Geschichte. Hoffe, dass ich noch besser werde. Wenn hier noch was zu meckern ist, nur her damit.

Gruss,
Claudio

 

Einmal steht da Lisa statt Liesel, ist aber die gleiche Person gemeint oder? "sechspferdig" ist ein komisches Wort... bin aber nicht sicher, ob's nicht doch existiert. Sonst fällt mir nichts mehr auf. Gruß,
Dryad

 

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