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Villón- König der Diebe
Villón- König der Diebe
1
Sein eleganter Körper glitt durch die aufgesägten Gitter der Gefängniszelle. Er warf einen prüfenden Blick hinter sich, um sich zu versichern, dass sein Mithäftling, dieser einfältige Allán, wirklich bewusstlos ist. Dann schlich er leise durch den Gang bis zu der Eckbiegung, die ihn endlich aus der am schwersten bewachten Zone des Gefängnisses, der Bastille, bringen sollte. Hinter der Ecke befand sich eine schwere Eisentür, bewacht von zwei Gardisten.
Kinderspiel, dachte Villón.
Er brach aus ein Stück Stein aus der Mauer und schlich sich zurück zu seiner Zelle. Dort holte er weit aus und warf das Stück durch das Loch im Gitter gegen die Mauer. Sofort reagierten die zwei Gardisten.
„He! Hast du das auch gehört?“
„Ja! Schnell, lass uns nachsehen!“
„Auf!“
Die beiden liefen mit der Grazie und Leichtigkeit einer defekten Dampfmaschine um die Eckbiegung auf die Zelle zu. Villón kletterte die drei Meter hohen Gitterstäbe empor. Er legte seinen Körper horizontal und wartete, bis die Gardisten in die Zelle kamen.
Und tatsächlich, die Narren fielen darauf rein. Sie liefen ungestüm in die große Zelle.
„Allán? Allán?“
Die beiden schritten auf Allán zu und Villón ließ sich leise von den Gitterstäben gleiten. Ohne ein Geräusch zu verursachen setzte er auf den Boden auf und schlich sich an einen Gardisten an.
Die Schlüssel von seinem Bund zu stehlen, während er ratlos zwischen Allán und seinem Gardistenfreund hin- und herblickte, erforderte Fingerspitzengefühl und Übung, vor allem, da er nicht viel Zeit hatte, bis die unterbelichteten Dumpfbacken sich auf die Suche nach der Quelle des Geräuschs machten- auch ihre Dummheit hatte Grenzen.
Als Villón mit einem Lächeln auf dem Gesicht den Schlüssel im Schloss leise umdrehte, hörte er die Gardisten bereits aus der Zelle laufen. Er öffnete die Eisentür und schloss sie wieder, wobei er wieder zusperrte.
Ich hoffe nur, dieser Schlüssel funktioniert bei allen Türen in diesem Drecksloch, dachte Villón.
Die übrigen Gardisten zu überlisten, war kein Problem für ihn. Er hatte genau diesen Tag für seinen Ausbruch gewählt, da er wusste, dass heute die beiden Obergardisten, die den Hochsicherheitstrakt im Keller sonst bewachen, frei hatten. Nein, sie waren heute nicht da, sondern die beiden Aushilfen, dumme Tölpel, die nicht mal einen Dieb erkennen würden, wenn er ihnen die Nase aus dem Gesicht stehlen würde.
Wie sich herausstellte, funktionierte der Schlüssel für alle Schlösser in der Bastille. Bei Sonnenuntergang war er im Fenster des dritten Stocks zum inneren Hof angelangt. Er musste den Umweg aus dem Keller in den dritten Stock gehen, sonst hätten die Wachen in der Haupthalle und den ersten beiden Stockwerken Ragout aus ihm gemacht.
Draußen liefen die Wachen routiniert ihren üblichen Weg über den Platz, während Villón aus dem Fenster blickte und über einen möglichen Fluchtweg von hier aus nachdachte. Sein Blick schweifte über den ganzen Hof, bis er bemerkte, dass unter ihm gerade ein Gardist zum Fenster rausschaute.
Komm her, du Idiot, dachte Villón. Deine törichte Dummheit werde ich dir austreiben. Wenn du wieder aufwachst, wirst du dir schwören, in Zukunft aufmerksamer zu sein.
Er ließ sich aus dem Fenster fallen und landete am Kopf des Gardisten. Der hatte keine Gelegenheit mehr zum schreien, da sein Hals gegen den unteren Rand der Fensteröffnung gedrückt wurde. Villón hangelte sich geschickt durch das Fenster nach innen.
Ha! Die Uniform hatte genau seine Größe. Er zog den Idioten in eine Mauernische und entkleidete ihn, um ihm dann seine eigenen Lumpen anzuziehen. Anschließend bekleidete er sich selbst mit der Uniform. Mit einem Spitzbubenlächeln warf er den Mann aus dem Fenster. Lauthals brüllte er: „Ein Ausbrecher! Er ist durch das Fenster gesprungen und ohnmächtig liegen geblieben! Schnell! Ein Ausbrecher im Innenhof!“
Natürlich rannten alle Wachen sofort zu dem Kerl, der noch immer bewusstlos am Boden lag. Auch Villón hatte sich hinunter begeben. Er nahm einen Gardisten am Arm und sagte zu ihm: „Vielleicht war er nicht alleine. Soll ich im äußeren Hof nachsehen, ob da noch jemand ist?“
„Nein“, sagte der Gardist kopfschüttelnd, „er könnte die Wachen dort niemals überwinden.“
„Aber, man muss sich vorstellen, dass er bis hierhin gekommen ist. Wäre es da nicht denkbar, dass diese schlauen Hunde noch weiter vorgedrungen sind? Oder dass der Eine diesen hier mit Absicht hinausgeworfen hat, um selbst unentdeckt fliehen zu können?“
Der Gardist blickte zu Villón auf und runzelte die Stirn. Er war etwas älter, hatte einen Geiernase und eine Narbe, die von der Stirn bis zur Wange führte. Allerdings war er noch im Besitz seines rechten Auges.
“Ja… das wäre gut möglich. Sie sind ein schlauer Bursche!“ Nun blickte er freudig.
„Ich danke. Hoffentlich legen sie ein gutes Wort beim Direktor für mich ein!“
„Sicherlich! Nun aber laufen sie zum Außenhof und sagen den Wachen dort Bescheid, sie sollen Ausschau nach einem verdächtigen Kerl halten!“
Villón antwortete mit „Jawohl“ und wollte gerade losgehen, als der Gardist seinen knochigen Finger in den Rücken des getarnten Ausbüchsers drückte.
„Warten Sie, Junge! Sind Sie neu hier? Ich diene Ihrer Majestät nun schon gut vierzig Jahre in der Bastille, doch Sie erblicke ich hier zum ersten Mal.“
„Ja, ich bin erst heute in den Dienst Ihrer Majestät getreten. Hat man euch nichts von einem Neuen erzählt?“
„Nein, das hat man nicht. Das verwundert mich jetzt etwas…“
„Lassen wir das. Hier liegt ein Problem vor, das eindeutig so schnell wie möglich geklärt werden muss. Reden wir doch später weiter!“
„Gut!“ Der Gardist gab Villón die Hand in einem kräftigen Händedruck, welchen dieser natürlich erwiderte.
„Also, bis denn! Ich gehe nun wieder meiner Pflicht nach!“
Villón salutierte und lief durch den Innenhof. Die Gardisten hatten den im Fliegen noch nicht sehr geübten „Ausbrecher“ wieder in die Bastille gebracht. Er selbst hatte schon die Lösung für das Grande Finale seines Ausbruchs vorbereitet. Die Tore zum Außenhof wurden nach dem Anklopfen geöffnet. Sofort berichtete er der Wache, sie würden Alle auf der Stelle im Innenhof gebraucht werden, und die Tore zum Außenhof sollten schnellstmöglich verschlossen werden.
Die Wache salutierte und gehorchte. Alle, bis auf Villón und zwei weitere Gardisten stürmten in den Innenhof.
“Schnell, schließt die Tore!“
Augenblicklich gehorchten die loyalen Diener ihrer Majestät.
„Was ist mit Dir?“, warf eine Wache ein.
„Ich soll mich hier umsehen!“, schnauzte Villón den Gardisten an. „Glaubt mir, so gerissen wie diese Hunde sind, braucht es drei Mannen ihrer Majestät! Mindestens! Wenn nicht sogar vier oder fünf!“ Die Betonung des Wortes „wenn“ brachte Villón beinahe zum Lachen. Als die Tore heruntergelassen waren, liefen die Beiden durch den Außenhof und sahen in jeder Nische der umliegenden Mauern nach, ob nicht irgendwo ein ausbüchsender Gefangener kauerte. Villón sah, dass die Außentore, die aus der Bastille führten, schlampig geschlossen wurden, weshalb sie einen kleinen Spalt geöffnet waren.
“Dort! Er ist durch die Tore geschlüpft!“
Sofort liefen die Wachen auf zu den Toren. „Ihr Narren habt sie nicht ordentlich verschlossen!“
Villón schlüpfte selbst hindurch und bat die Gardisten, ihm zu folgen. Wie passend, dass gerade ein Brotdieb vom Marktplatz aus von einem Bäcker zur Bastille verfolgt wurde. Schnell wandte Villón sich an die beiden Gardisten.
“Wie gut, dass es immer noch engagierte Untertanen gibt, die die Übeltäter wieder dahin zurück jagen, wo sie hingehören! In die Bastille!“
Mit einem hämischen Grinsen liefen die beiden Wachen dem jungen Mann in den Lumpen nach. Dieser wandte sich panisch um, sah den wütenden Bäcker, und blieb unschlüssig stehen. Als er Villón erblickte, weiteten sich seine Augen.
„Das ist Villón! Das ist Arsen Villón! Der Schwerstverbrecher!“
Villón sprang lachend von der Brücke in den Burggraben der Bastille. Er schwamm durch den ganzen Graben bis zur Rückseite, wo er wieder heraus stieg und in das Verbrecherviertel rannte. Dorthin, wo ihn diese Idioten niemals finden würden.
2
„Verdammt!“, rief Gardist Rofi. „Arsen Villón, direkt vor meiner Nase, und ich lobe ihn auch noch!“
Die beiden Gardisten, die den unglaublichen Ausbruch des Arsen Villón meldeten, konnten sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Erst, als Jacques Rofi wieder aufblickte, ließen sie ihre Mine erneut in eine neutrale Position gleiten. Er strich sich über die Narbe, so wie immer, wenn er konzentriert nachdachte. Dann sah er dem linken Gardisten ins Gesicht.
„Wo ist er hin?“
„Monsieur, wenn wir das wüssten, würden wir ihn schon jagen. Er ist im Verbrecherviertel, aber das ist groß, und er ist der „König der Verbrecher“! Er kennt jeden Winkel, jeden Gang und jede Gasse! Seine Kontakte zur Unterwelt reichen bis zum meistgesuchten Verbrecher Paris´, Monsieur de Barón.“
„Meistgesuchter Verbrecher Paris´ ist Villón selbst!“, brüllte Rofi den Kerl an.
„Selbstverständlich, Monsieur…“, wisperte dieser kleinlaut zurück.
Nachdem er lange und gründlich nachgedacht hatte, wandte sich Rofi zum Fenster um. „Bringt mir seinen Zellengenossen, diesen… Allán. Ich will ihn verhören.“
„Jawohl, Monsieur.“
Mit diesen Worten und einem spöttischen Lächeln verließen die beiden Gardisten das Büro von Monsieur Jacques Rofi, stellvertrender Leiter des Bastille, der gerade eben Arsen Villón mit einem Lob aus der Bastille geschickt hat.
„Ah! Arsen Villón, Meisterdieb- und Ausbuchter!“, sagte Leer mit einer spöttischen Verbeugung. „Hast du dich extra für mich so schick gemacht?“
Leer war ein Mädchen von zwanzig Jahren, deren kleines Zimmer Villón nach langer Zeit wieder aufsuchte.
„Weist du… zu jedem Anlass die passende Tracht.“ Mit diesen Worten zog er die Unform aus und öffnete Leers Kleiderschrank.
„Bitten brauchst du ja um nichts, nicht wahr?“
„So ist es!“, schnaufte er und warf ein sauberes Hemd und eine Hose auf Leers Bett.
Gott sei dank, dachte er, dass sie eine Vorliebe für Männerkleidung hat.
Er ging auf sie zu und nahm sie in die Arme.
„Nein… das letzte Mal bist du einfach verschwunden…“
Leer war vor sechs Jahren allein aus England nach Paris gekommen, um Schauspielerin zu werden. Allerdings konnte sie sich nicht mehr leisten als dieses schäbige Zimmer im Ghetto, aber das war ja angesichts der Summe, mit der sie in Stadt kam, und ihrem Alter damals, auch kein Wunder. Niemand kannte ihren Nachnamen oder wusste, ob sie wirklich „Leer“ hieß. Diesen englischen Namen -„Leer“- sprach Villón äußerst gerne aus, obwohl es natürlich kein gewöhnlicher Name war. Woher der Name kam, wusste er nicht. Auch wollte Leer es ihm nicht sagen, oder aber sie selbst wusste es nicht. Niemand kannte Leers Geheimnis, niemand wusste um ihre Vergangenheit. Sie war vor sechs Jahren einfach da.
Damals ging sie von einem Vorsprechen nach Hause, wobei ihr einige Diebe auf den Fersen waren. Villón kam gerade selbst von einem Einbruch zurück und huschte über die Dächer, als er sah, wie sich drei dreckige Gauner einem jungen Mädchen näherten. Er sprang von dem Dach herunter und lehrte den Halunken eine Lektion -überfalle nie wehrlose kleine Mädchen- und brachte die junge Dame dann nach Hause. Seitdem kroch er immer wieder bei ihr unter, da sie, wie er behauptete, in seiner Schuld stünde. Ihrer Meinung nach war diese Schuld schon längst beglichen, dennoch kam er allerdings immer wieder zu ihr, wenn er in Schwierigkeiten steckte, und nicht selten zog er sie in diese Schwierigkeiten mit hinein.
Aber ihre Beziehung war nicht nur geschäftlicher Art. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, seit Leer fünfzehn war, landeten sie im Bett, und nicht immer geschah das freiwillig. Des Öfteren machte Villón Leer betrunken und vergewaltigte sie dann, aber er entschuldigte sich am nächsten Tag dafür, mit der Versicherung, es nie wieder zu tun. Doch dem war nicht so, immer wieder geschah es. Dennoch ließ Leer Villón immer wieder bei sich ein, denn irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie tatsächlich noch in seiner Schuld stand. Erklären konnte sie sich dieses Gefühl nicht, doch das war auch nicht wirklich nötig. Er kam einfach manchmal für eine Nacht bei ihr unter, und, wenn es beiden gefiel, manchmal auch zwei oder drei.
Jetzt küsste Villón Leer stürmisch auf den Mund, aber sie wehrte sich ebenso ungestüm. Schließlich konnte sie sich aus seinem Griff befreien.
„Du Bastard! schnaubte sie ihn an. „Du verdammter Mistkerl!“
„Es tut mir leid…“, flüsterte er. Er blickte reuevoll zu Boden und rieb sich mit der rechten Hand den Nacken. Dann drehte er sich um und wisperte noch mal „Tut mir leid, Leer…“
Sie legte ihren Kopf schief.
Verdammt!, dachte sie. Er ist so verdammt liebenswürdig!
Dann ging sie auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. „Komm her.“
Villón drehte sich um und blickte ihr tief in die Augen. Sie lächelte und sagte: „Hier bist du sicher.“
„Ja. Aber ich will dich nicht noch mal gefährden. Ich habe dir schon so viel Ärger gemacht…“ Wieder blickte er zu Boden. Sie öffnete ihr Kleid. Dann sagte sie „Nun komm schon her…“
3
Der Mann nahm den Geldbeutel von Rofi gerne an.
„Kein Problem“, raunte er. Dann wartete er. „Wenn ich es nicht schaffe, schafft es keiner“, setzte er hinzu.
„Das weis ich“, antwortete Rofi und sah ihn an. „Deshalb bin ich zu ihnen gekommen.“
Der Mann sprach wieder: „Mein Maulwurf ist sehr verlässlich… na ja, für mich jedenfalls. Villón und diese Rotzgöre, die er immer bumst, werden den Einbruch nicht überleben.“
Er drehte sich um und verließ die Gasse. Langsam schritt er der Bastille entgegen, während Rofi in die andere Richtung ging. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Mein Name wird in die Geschichte eingehen, als derjenige, der Arsen Villón zur Strecke gebracht hat, dachte er.
Arsen Villón hatte in seiner Karriere hunderte von Diebstählen begangen, und genau so oft war er auch aus dem Gefängnis, gestern sogar aus der Bastille ausgebrochen. Er hatte alle wertvollen Gemälde von Paris schon einmal gestohlen, außer der Mona Lisa. Und der Mann würde dafür sorgen, dass dies sein nächstes Ziel sein würde…
„Passt wie angegossen!“ Villón sah seinen neuen Anzug im Spiegel an. Der Mantel wehte um seinen Smoking, jedes Mal, wenn er sich wandte. „Ja, das wird den Vogel abschießen!“
„Komm jetzt!“ Leer war genervt. Villón stand nun schon fünfzehn Minuten vor dem Spiegel und bewunderte den Anzug, den er sich von dem letzten Rest von Leers Geld gekauft hatte. Er wollte sich auf einer Party von Barón seinen Teil der Beute des letzten Einbruchs abholen. Für diesen Einbruch war er in die Bastille geworfen worden.
Sie hatten ihn auf einer Straße erwischt. Ausgerechnet diese Nacht hatte es eilig, deshalb war er durch die Gassen statt über die Dächer geflohen. Und ausgerechnet diese Nacht waren sie schneller als er, waren überall, in jeder Ecke. Verdammte Gardisten. Diesmal hatte Rifo die Jagd angeführt, er war ihm schon seit Jahren auf den Fersen. Immer und überall waren seine Spitzel zu sehen, die durch das Verbrecherviertel Paris zogen wie Spione. Doch er ließ sich nie ohne Verkleidung blicken. Genau diesesmal hatte er natürlich alle Kontakte aufberufen, alle seine Verbündeten gegen ihn eingesetzt. Diese Verbündeten waren meistens ehemalige Diebe, die Villón nur zu gut kannten und ihn um jeden Preis in der Bastille sehen wollten, aus welchen Gründen auch immer. Mal war es der Betrug um das Diebesgut, mal hatte er einen ihrer Freunde verraten. Aber Villón hatte ebenso viele Freunde wie Feinde, und Rifos Aufgebot an Verbündeten konnte er locker überbieten. Er war der persönliche Freund und Hofnarr des Verbrecherkönigs von Paris, Monsieur Barón.
Und zu genau dem wollte er nun. Denn Barón war der Partner von Villóns letztem Diebstahl, ihm konnte er noch das Geld überreichen, bevor er gefangen genommen wurde.
Leer hatte einen Teil des Geldes abgeholt. Eigentlich wollte Villón das ganze Geld auf einmal, aber Barón gab es Leer nicht mit. Villón musste persönlich kommen.
Der Mann, der in der Ecke saß, wartete, bis Villón durch das Foyer schritt, mit dieser Göre im Schlepptau. Wie hieß sie noch gleich? Leech? Lee? Leer! Ja genau, Leer. Die beiden gingen sehr schnell zu Barón, der in seinem roten Sessel neben einem Fenster saß und die Regentropfen beobachtete, die an die Scheibe tropften, während er eine dicke Zigarre rauchte. Villón trug einen feinen Frak und einen wehenden, schwarzen Umhang, und so schien er in der Fülle der anderen Gäste von Baróns Party unterzugehen.
Der Mann sah, wie Villón und Leer, er in gelassener, müder Haltung, sie elfengleich, bei Barón angekommen waren.
„Also, gib mir das Geld, und dann verschwinde ich wieder.“
„Wieso hast du es so eilig, Villón?“ Barón sah zuerst Villón an, dann wanderte sein Blick zu Leer.
„Ich habe das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, und dass von sehr unangenehmen Gestalten. Ich zog mir die Blicke von einigen sehr seltsamen Männern zu, als ich durch das Foyer gegangen bin. Unter anderem von dem da!“
Er zeigte mit seinem behandschuhten Finger auf den Mann in der Ecke. Er hatte den Zylinder tief in das Gesicht gezogen.
„Ach, der! Mein persönlicher… Geschäftspartner. So wie du.“
„Nein, jetzt nicht mehr.“
„Jetzt nicht mehr?“
„Jetzt nicht mehr.“
Leer wurde von einem Mann gepackt. Er hielt ihr ein Messer and die Kehle. Wie auf Kommandos verließen alle Gäste das Foyer nach draußen in den Regen.
„Ah… du willst Spielchen spielen?“, flüsterte Villón. Er blickte auf den Mann, der Leer festhielt.
„Keine Angst, Kleine. Er tut dir nichts.“ Dann sah er wieder zu Barón. „Sehr geschickt. Ladest mich zu einer inszenierten Party ein, nimmst eine mir unbedeutsame Person als Geisel, engagierst diesen Killer“, er zeigte wieder auf den Mann in der Ecke, „und das alles nur, um mir meinen Teil der Beute wegzunehmen?“
Barón stand lächeln auf. „Nun, ganz so einfach ist es nicht. Weißt du, es gibt da noch jemanden, den du vergessen hast. Nicht wie sonst, jemand aus deiner ereignisreichen Vergangenheit. Es gibt noch eine weitere, dir bisher unbekannte Spielfigur.
Villón, welche Gemälde hast du schon einmal gestohlen?“
„Alle.“
„Wirklich alle?“
„Nun ja… die Mona Lisa liegt unter besonderem Verschluss im Louvre.“
„Genau. Niemand konnte die Mona Lisa bisher stehlen. Alle sind gescheitert, ausnahmslos.“
„Moment mal… du willst, dass ich sie stehle… Das ist nicht dein Ernst!“
Barón sah Villón mit dem Gesichtsausdruck an, mit dem auch Lehrer sehr gute Schüler ansehen.
„Ich will sie haben. Ich will sie mehr als alles Andere. Dafür bekommst du deine kleine Freundin wieder.“
Villón sah mit abfälligem Blick auf Leer.
„Sie bedeutet mir nichts.“ Mit diesen Worten schlug er dem Mann, der sie gepackt hatte, schnell ins Gesicht, nahm das Messer an sich und schritt vor Leer hin.
„Kleine Nutte!“
Er drückte ihr das Messer mit einem Augenzwinkern in den Bauch. Der Mantel umwehte die beiden kunstvoll wie in einem Gemälde. Er flüsterte ihr noch etwas ins Ohr, dann drückte er fester zu. Sie sank zusammen.
„Was… du… Judas!“ Barón war außer sich.
„Villón verschränkte die Arme, nachdem er Leer in einen Sessel gelegt hatte.
„Jetzt habe ich keinen Grund mehr, die Mona Lisa zu stehlen. Aber… ich werde es dennoch tun. Für… sagen wir… das doppelte der Summe des letzen Mals.“
„Aber… das ist Wahnsinn!“
„Ja… und das bin ich: wahnsinnig.“
Villón hob Leer vom Sessel auf, schlang die Arme und sie und spazierte mit ihr hinaus.
Zufrieden erhob sich der Mann aus der Ecke. Er verstand.
3
Am nächsten Abend stieg Arsen Villón, Meisterdieb, in den Louvre ein. Zuerst näherte er sich dem Gebäude über die Dächer. Dann öffnete er mit einem Diamantschneider die Glaskuppel in der Mitte des Dachs. Der Einstieg war kein Problem für ihn- mit einer im Mantel integrierten Art „Fallschirm“. Er schlich sich an den Wachen vorbei, hin zur Mona Lisa.
Kinderspiel, sie aus der Halterung zu nehmen und in den Salon des Louvre zu bringen, wo er es in eine Mauernische legen würde und einfach darauf wartete, das Monsieur Barón es dort abholt.
Doch so kam es nicht. Plötzlich gingen alle Lichter im Raum an. Diese neumodischen Gaslampen. Villón, der gerade im Begriff war, hinauszugehen, drehte sich um. Der Mann, den er im Foyer gesehen hatte, dieser Killer, stand am Ende des Raumes, vor ihm stapelten sich die Leichen der Aufseher.
„Sehr geschickt“, sagte Villón in verzweifelten Spott. Ob er gegen diesen Killer eine Chance hat?
Der Mann nahm seinen Zylinder ab. Sein Gesicht war von Narben übersäht.
“Bestaillé“.
„Villón. So, nachdem wir die Formalitäten erledigt hätten, kommen wir zum Geschäft.“
Villón zog seien Degen. Bestaillé tat es ihm gleich. Die beiden schritten aufeinander zu.
Barón sah aus einer Mauernische, wie Villón und Bestaillé die Säbel rasseln ließen. Beide waren sehr geschickt, schnell in der Reaktion, und äußerst kraftvoll. Doch Villón war Bestaillé in einem unterlegen: Erfahrung. Obwohl der „König der Diebe“ bereits sehr geübt war, konnte Bestaillé auf gut vierzig Jahre Erfahrung zurückblicken. Jetzt hatte der Killer Villón fast so weit, ihn zu entwaffnen.
Villón hatte seine Chance verpasst. Er hätte Bestaillé jetzt locker die Kehle aufschlitzen können, doch er tat es nicht. Mit Absicht. Er wollte Barón, den er natürlich längst bemerkt hatte, glauben lassen, er würde unterliegen. Und als Bestaillé zum finalen Schlag ausholen wollte, da knallte es hinter ihm. Er brach aus Mund und Nase blutend zusammen. Leer stand mit der Pistole hinter ihm. Barón huschte aus der Mauernische hervor.
„Hallo, Barón, sie alter Schweinehund.“
„Wie…“ Barón war sprachlos.
Jetzt sprach Leer mit ihrer süßesten Stimme.
„Villón kam wieder einmal für einen Raub, den er für sie begangen hat, hinter Gitter. Wieder konnten Sie ihre Kontakte ausspielen, weil sie einen Maulwurf in Polizeikreisen hatte, den Ihnen der da besorgte.“ Sie deutete mit der Pistole auf Bestaillé. „Das taten Sie natürlich, um Villóns Anteil an der Beute zu bekommen.
Jetzt war dies wieder einmal der Fall, und Sie griffen sich seinen Anteil. Aber Villón konnte fliehen, und dies vor den Augen ihres Kontaktes, Rofi, da er nicht wusste, wie Villón aussieht. Nun ja, jetzt tut er es ja.“ Sie kicherte. „Also, diesmal wollten Sie Villón endgültig töten. Aber da er schlauer ist als Sie es je sein werden…“
„Bin ich ihnen durch die Finger geflutscht. Jetzt steht nur noch die Frage, wer ihr Kontakt in der Polizei ist.“
„Nicht in der Polizei.“
„Ah!“ Leer hatte ihren Finger erhoben. „Dieser Gardist! Ich hab ihn ein paar Mal im Verbrecherviertel herumschleichen sehen. Der, von dem ich dir erzählt habe.“
Barón lächelte. „Ja, dieser Rofi. Sie sind aus der Bastille entkommen, er hat Sie sogar noch gelobt.“
Villón schien der Kerl wieder einzufallen. Er musste hämisch grinsen.
Barón sprach jetzt. „Nun, auf seinen Wunsch hin habe ich ihre Ermordung in Auftrag gegeben. Sonst hätte er unseren Kontakt aufgelöst.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber wieso lebt sie noch?“
Villón erklärte es ihm.
Er hatte sich seinen Finger aufgeschnitten, Leers Hemd aufgeritzt und das Blut darauf verwischt, während der Mantel die beiden deckte. Dann hatte er Leer sein Geheimzeichen für solche Situationen gegeben, das Augenzwinkern. Anschließend flüsterte er ihr noch ins Ohr, sie solle sich tot stellen, fertig war der perfekte Mord. Anschließend besprachen sie noch alles für die heutige Nacht. Dies alles hatte er nur abgezogen, damit er vor den Augen seiner Verschwörer skrupelloser aussieht.
„Sie sind ein wahrer Teufel!“
„Ja. Aber jetzt entschuldigen Sie mich. Ich muss gehen.“
Villón nahm Leer bei der Hand und warf die Mona Lisa Barón zu. Er fing sie nicht, und sie prallte an ihm ab und fiel zu Boden. Dann wandte er sich noch zu dem hilflosen Barón um.
„Sagen sie diesem Rofi, dass ich ihn irgendwann wieder treffen werde. Irgendwann.“
Villón und Leer spazierten aus dem Louvre, während Barón unschlüssig in der Eingangshalle stand und die Wachen, die Bestaillé nicht getötet hatte, auf ihn zustürmten. Es gelang den Polizisten, den „Dieb der Mona Lisa“ an Ort und Stelle gefangen zu nehmen. Doch da waren der „König der Diebe“ und das freche, kleine Mädchen, schon über den Dächern Paris.
*Ende*