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Serie Vignetten einer Berliner Kindheit - Kassensturz bei Wulle

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03.07.2012
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Vignetten einer Berliner Kindheit - Kassensturz bei Wulle

Berliner Szenen - Kassensturz bei Wulle

Wie üblich herrschte auch an diesem Samstag vormittag in der Lichtenrader Bahnhofstraße ein reges Treiben. Die Frühaufsteher hatten bereits all ihre Wochenendeinkäufe getätigt und waren vollbepackt mit Einkaufstaschen und Getränkekästen auf dem Weg nach Hause. Sie gaben sich mit den gerade erst aus ihren Betten gerollten Langschläfern die Klinken der Ladentüren in die Hand und taxierten die kurz vor Geschäftsschluß einfallenden Massen mit einem Blick, der die moralische Überlegenheit der Frühaufsteher unzweifelhaft zum Ausdruck bringen sollte. Ein Heer von Rentnerwitwen versuchte, teils vergeblich, mit ihren prall gefüllten zweirädrigen Ziehwagen den unzähligen Hundehaufen auszuweichen, welche den Bürgersteig eher einem Minenfeld gleichkommen ließen. Kinder bugsierten ihre Fahrräder durch den in alle Richtungen drängenden Menschenauflauf. Ein Erstklässler weinte, weil er im wirren Durcheinander der vielen Passanten seine Mutti aus den Augen verloren hatte, welche sich für einen Moment durch die kastanienbraunen Kulleraugen des windschnittigen Türken in der Döner-Bude ablenken ließ und daher ein paar Schritte hinter ihrem Sohnemann im Gerangel der Leute zurückfiel. Eine frisch vom Frisör kommende Dame in einem dreiviertel langen hellen Staubmantel keifte laut „Leinenzwang!", als ein großer dunkler Hund leinenfrei mehrere Meter vor seinem Herrchen laufend dicht an ihr vorbeidrängte und dabei seine sabbernde Schnauze mit ihrem hellen Staubmantel in Berührung kam und dabei eine kaum merkliche Schleimspur hinterließ. „Mannomannomann, is‘ doch ‘ne Sauerei“ setzte sie erbost hinterher und drehte sich dann noch mehrmals wild gestikulierend nach dem längst nicht mehr zu sehenden Ungetier und dessen Besitzer um. Gleichzeitig suchte sie mit einem zusammengeballten Tempo-Taschentuch und Allzweckspucke den hellen Staubmantel kräftig wischend von der neu erworbenen Unzier zu befreien, wobei der vorher kaum merkliche Fleck durch ihr Übermaß an Spucke jetzt zu einem unübersehbaren handtellergroßen dunklen Schandfleck angeschwollen war.

Auf der Ladenseite des Bürgersteigs waren vor manchen Geschäften unter stiller Duldung des zuständigen Gewerbeaufsichtsamts Tempelhof-Süd diverse Körbe aufgestellt. Diese boten besonders herabgesetzte Waren feil und verleiteten den einen oder die andere tatsächlich zum Innehalten und Spontankauf. Die höchste Konzentration dieser Krabbeltische, die im Halbschatten der Legalität die eigentliche Verkaufsfläche der Läden erweiterten, befand sich Ecke Zescher Straße unter den roten Markisen der Woolworth-Filiale, die im hiesigen berliner Sprachgebrauch nur mit dem Kosenamen „Wulle“ betituliert wurde. Bei „Wulle“ war „Heute Lager-Verkauf“, wie das keck neben dem Haupteingang plazierte grellgelbe Faltschild im orange Plastikrahmen vielversprechend ankündigte, und gleichzeitig „Schlußverkauf“, wie den großformatigen Fensteraufklebern zu entnehmen war. Bunt gemusterte und abriebfeste Dralon-Tischdecken, übrig gebliebene Weihnachtsartikel, Schrubberbürsten mit oder ohne Stiel, kurz vor dem Verfallsdatum stehende Mundspülmittel, Billig-Blusen und Hornhauthobel aus Edelstahl eiferten so bei dieser Doppelaktion um die Kaufgunst der Passanten. Eine kleine Gruppe von Schulkindern erfreute sich an einem schon leicht zerfledderten Stapel von Comics und Ausmalbüchern, die nach deren detaillierter Einsichtnahme nur noch als lose Blattsammlung zu bezeichnen war. Eine langjährige Frauenfreundschaft wurde im wahrsten Sinne des Wortes einer Zerreißprobe unterworfen, als beide gleichzeitig die letzte Damenstützstrumpfhose „Doreen“ (mit verstärktem Zwickel) zu fassen bekamen und keine sie zugunsten der anderen wieder hergeben wollte.

Das hektische Treiben vor den Läden setzte sich auch innen im Verkaufsraum von „Wulle“ fort. Die im Rautenmuster abwechselnd verlegten schwarzen und weißen Linoleum-bodenfliesen erzeugten zunächst beim Betreten des großen Geschäfts eine leicht desorientierende optische Täuschung, die die diversen Stellregale und Kleiderständer fast unmerklich über dem Fußboden schweben zu lassen schien. Dieser Effekt verstärkte sich, je tiefer man in den Verkaufsraum hinein blickte, und erreichte seinen Zenith ganz hinten zwischen der Garnabteilung und den Reisekoffern, wo die konvergierenden Fluchtlinien des Bodenfliesenmusters eine Fata Morgana von sanft dahinwalzenden Billigprodukten kreierten. Akustisch begleitet wurde das Einkaufsgeschehen von zum Kaufrausch animieren sollender Schlagermusik. Gnadenlos wurde der Verkaufsraum gerade mit dem Hit des jugoslawischen Schnulzensängers Bata Illic, „Ich möcht‘ der Knopf an Deiner Bluse sein“, beschallt. Da die Ausrichtung und Anzahl der Deckenlautsprecher der großräumigen Verkaufsfläche nicht ganz gerecht wurden, ergaben sich im Geschäft gewisse schallfreie Zonen, in denen man sich für einen Moment in der falschen Sicherheit wog, daß man der Musikberieselung glimpflich entkommen sei. So eine Ruheinsel befand sich zum Beispiel zwischen den Ständern mit den auf Reizwäsche getrimmten Damentrikotagen und den Verbandskästen für PKWs und Heimgebrauch. Sobald man jedoch ein paar Schritte in Richtung Schreibwarenabteilung wagte, hatte Bata Illic einen wieder:

„Als ich letzten Samstag zum Hemden kaufen ging,
sah ich in der Boutique eine Textilverkäuferin.
Sie trug die neuste Mode bis oben Knopf an Knopf
und die enormen Formen gingen mir nicht aus dem Kopf.
Ich dachte mir: Wie komm ich ran?
Gab mir 'nen Stoß und sprach das schöne Fräulein an.
Ich möcht der Knopf an deiner Bluse sein,
dann könnt ich nah, nah, nah, nah, nah bei deinem Herzen sein!“

Im Verkaufsraum waren rund zehn Kassen direkt in den einzelnen Abteilungen plaziert. Streng genommen hatte der Erfrischungsstand am Eingang auch eine Kasse, allerdings durfte dort nur Feinschmeckerware wie Bockwurst mit Senf oder „Pommes rot-weiß“ (Pommes Frites mit Ketchup und Mayonnaise) abgezogen werden. Die Kassenstationen befanden sich jeweils auf einem ca. 2 x 2 Meter großen Podest, das ungefähr um die Höhe einer Treppenstufe über dem Verkaufs-bereich thronte. Das Podest war an drei Seiten von einem Kassentisch umgeben, auf dem die Kassiererinnen die Waren sortierten und nach dem Eintippen der Preise in die Kasse eintüteten. Über dem Podest und noch über dem Kopf der Kassiererinnen war ein rotes beleuchtetes Schild mit der Aufschrift „Kasse“ angebracht. Unter dem Kassenschild prangte ein kleineres weißes Schild mit der Anweisung „Unsere Kassiererinnen sind angewiesen, nur von links zu kassieren!“ Offenbar war die Anbringung dieses Schildes notwendig geworden, weil die unversierte Kundschaft zu Stoßzeiten gleichzeitig aus allen drei Richtungen auf die Kasse zustürzte und somit die Frage „So, wer ist jetzt der nächste?“ unbeantwortbar machte. Da das Warnschild aber nur von der vermeintlich korrekten Anstellseite aus sichtbar war, war dieses Problem dann am Ende nun doch nicht gelöst.

Heute bediente, wie fast immer, Frau Pasewalk an der Kasse der Seifenabteilung. Die kurz vor der Rente stehende Aussiedlerin aus Vorpommern bemannte die Seifenkasse bereits seit knapp 20 Jahren und hatte für ihre Stammkunden immer ein paar freundliche Worte übrig: „Schönes Wochenende.“ „Schönen Gruß an ihren Mann.“ „Hoffentlich bleibt’s Wetter so.“ „Ihre Kleene is‘ ja ordentlich jewachsen“. Sie trug, wie alle Kassiererinnen, die zur Dienstkleidung gehörende ärmellose altrosafarbene Polyesterkittelschürze und darunter eine senfbraune Bluse mit Streublumenappliqué, die an den Ärmeln schon recht ausgetragen war. Unter ihren Achseln zeichneten sich dunkle Schweißränder ab, wenn sie den Arm hob. Wenn sie sich besonders ausstrecken mußte, schimmerten die angetrockneten Schwefelkristalle, die sich im Gewebe der senfbraunen Bluse über die Jahre festgesetzt hatten, wie die bunten Orden auf der Brust eines verdienten Generals und bezeugten so unfreiwillig ihren langjährigen Dienst im Namen der Firma Woolworth & Co. Auf ihrer rechten Brust war ein kleines Schildchen mit der Aufschrift „Fr. PASEWALK“ angebracht, und ihre linke Brust wurde von einem kleinen Brandloch in der Kittelschürze verunziert, welches von der abfallenden Zigarettenglut verursacht wurde, die sich in ihrer Frühstückspause verselbständigt hatte. Ihre Fingernägel waren dunkelrot lackiert, allerdings war der Lack ihres rechten Zeigefingernagels vom ständigen Eintippen der Preise in die Kasse bereits abgeplatzt und die durchschimmernde gelbliche Tönung ihres Nagelbetts ließ ihr wahres Alter erahnen.

An der Seifenkasse von Frau Pasewalk hatte sich schon den ganzen Vormittag über eine stete Schlange von Kunden gebildet, die auch besonders jetzt kurz vor Ladenschluß nicht abreißen wollte: eine Mutter mit einem quengelnden Kleinkind auf dem Arm, zwei Schulkinder, ein Bauarbeiter im Blaumann, zwei ins Gespräch vertiefte ältere Damen, von denen eine ganz in Schwarz gekleidet war und eine aschfahle Gesichtsfarbe hatte. Die anstehende Mutter war gerade im Begriff, ein Windelpaket und eine Flasche Sagrotan zur Abrechnung auf den Kassiertisch zu legen, als eine gellende Frauenstimme plötzlich aus dem Nichts ertönte: „Kassensturz! Kas-sen-sturz!“ Die grelle Stimme gehörte der Hauptkassiererin Frau Bross-Franke. Souverän drängte sich Frau Bross-Franke an den wartenden Kunden vorbei, betrat das enge Kassenpodium und drängte mit einem gekonnten Hüftschwung die zusammenzuckende Kassiererin Pasewalk von deren Kasse ab. Dann knipste sie die Beleuchtung des Kassenschildes energisch aus und verkündete an die wartende Kundschaft: „Stellen Sie sich bitte woanders an, hier ist jetzt Kassensturz, ja?“ Die verdutzte Mutter machte einen genervten Gesichtsausdruck, aber vermied direkten Augenkontakt mit den beiden Frauen hinter der Kasse. Sie nahm das Windelpaket und die Flasche Sagrotan wieder vom Verkaufstisch und suchte nach einer anderen Kasse. Der Bauarbeiter und die Schulkinder trollten sich ebenfalls, nur die beiden noch immer ins Gespräch vertieften älteren Damen schenkten der Szene weiter keine direkte Beachtung und führten ihre Unterhaltung unbedacht fort.

Im Gegensatz zum bescheidenen Auftreten von Frau Pasewalk besaß Frau Bross-Franke ein imposantes Erscheinungsbild, welches nicht zuletzt auf ihre auffallende kastanienrot aufgefärbte und leicht zu sauer gekrauste Heimdauerwelle zurückzuführen war. Als Hauptkassiererin war die Mitvierzigerin direkt dem Filialleiter Herrn Schäfer unterstellt und hatte mit diesem die Schlüsselgewalt im Hause. Als Mitglied des Management-Teams war sie vom Tragezwang der altrosafarbenen Polyesterkittelschürzen befreit. Auch sie trug ein kleines Namensschildchen an ihrer Brust, brachte ihre Führungsposition aber unmißverständlich durch ein spiralförmiges Gummiband an ihrem Handgelenk zum Ausdruck, an welchem unzählige kleine Kassenschlüsselchen und ein etwas größerer Geldschrankschlüssel baumelten. Frau Bross-Franke war um mindestens einen Kopf größer als Frau Pasewalk und roch nach gutem Parfüm, welches sie jedesmal wieder großzügig aus den Testspendern auffrischte, wenn sie die Parfümabteilung passierte. Sie trug einen eng anliegenden schwarzen Rollkragenpulli und darüber eine lange dreireihige Zuchtperlenkette, die sich mitunter an ihrem Namensschild verhakte und in solchen Momenten ihre rechte Oberweite malerisch umrahmte. Ihre mit Waschleder paspelierte Bundfaltenhose hatte sie unten in ihre fast kniehohen schwarzen Lederstiefel gesteckt, was den Eindruck hervorrief, als hätte sie einen Ausritt vor sich.

„So, Frau Pasewalk, dann woll’n wa mal...“ begann Frau Bross-Franke, suchte umständlich nach dem passenden kleinen Schlüsselchen an ihrem Handgelenk und steckte es in die Registrierkasse, welche in Begleitung eines kleinen Glockentons aufsprang und das Bargeld preisgab. Dann bediente sie mehrere Tasten an der Kasse, worauf ein langer Kassenbeleg ausdruckte, der die gesamten Tageseinnahmen an der Seifenkasse aufaddierte. „Neunhundertdreizehn fünfundsiebzig also“ summierte Frau Bross-Franke und zog mit dem Fingernagel ihres Daumens einen Kreis um die unterste Position des Kassenbelegs, um die zu erwartende Gesamtsumme zu markieren. „Na, dann zählen Sie mal vor, Frau Pasewalk. Bei Ihnen stimmt’s ja eigentlich immer“ fuhr sie fort. Auf der Stirn von Frau Pasewalk hatten sich einige Schweißtropfen gebildet, die sie sich mit dem aufgetragenen Ärmel der senfbraunen Bluse verstohlen aus dem Gesicht wischte. Sie biß sich nervös auf ihre Unterlippe und nahm mit leicht zitternder Hand die Geldscheine aus der Kasse und sortierte sie auf dem Kassentisch in kleine Häufchen. Erst die Hundertmarkscheine, dann die Fünfziger, dann die Zwanziger, dann die Zehner, und ein Fünfmarkschein war auch mit dabei. „Hundert, zweihundert, dreihundert, vierhundert, vierhundert fünfzig, ...“ Dann kam das Kleingeld an die Reihe. „Neunhunderteins, neunhundertzwei, neunhundertdrei, ...“ Ordentlich türmte sie das Münzgeld in Höhe von jeweils einer Mark auf dem Kassentisch auf und zählte dabei halblaut mit. Je mehr das in der Kasse verbleibende Geld zur Neige ging, desto stockender zählte sie. Die innere Spannung machte ihr sichtlich zu schaffen und rüttete an ihrem Nervenkostüm. Ungeduldig trat Frau Bross-Franke neben ihr von einem Bein aufs andere und herrschte sie schließlich an: „Na, nun machen sie mal ein bißchen hin, wir haben ja schließlich nicht den ganzen Tag hier“. Frau Pasewalk hielt die Luft an und nahm das letzte Münzgeld aus der Kasse. Wie ein erschöpfter Marathonläufer, der kurz vor dem Ziel seine letzten Kräfte mobilisiert, um den Endspurt einzulegen, zählte sie nun hastig zu Ende vor: „Fünfundfünfzig,fünfundsechzig, siebzig, einundsiebzig, zweiundsiebzig, dreiundsiebzig, vier...und...sieb...zig.“ Ihr stockte der Atem. So etwas war ihr noch nie passiert. Sie fühlte die wallende Hitze in sich aufsteigen und gleichzeitig wie der kalte Schweiß ihr den Rücken herunterlief. Unfaßbar blickte sie auf den Kassenbeleg, wo der Eindruck des Fingernagels von Frau Bross-Franke die Gesamtsumme von 913,75 DM immernoch gnadenlos umrahmte. Dann griff sie nochmal in die Kasse, um sich davon zu überzeugen, daß alle Fächer wirklich leer waren. Frau Bross-Franke atmete bewußt hörbar tief ein. Betreten und völlig niedergeschlagen schaute Frau Pasewalk auf den Boden und starrte auf die schwarzen Reitstiefel von Frau Bross-Franke, welche nun von vorne nach hinten auf ihren Reitsohlen wippte. Frau Pasewalk wußte, daß es hier ums Prinzip ging. Es kam nicht auf den fehlenden Pfennig an, sondern darauf, daß ihre Vertrauensposition als Kassiererin auf dem Spiel stand. Innerlich hörte sie bereits die vorwurfsvolle Stimme der Bross-Franke, daß es mit einem Pfennig anfinge und im Zuchthaus ende. So kurz vor der Rente konnte sie sich einen solchen ehrabschneiderischen Schandfleck einfach nicht leisten. Sie stellte sich vor, wie die Kolleginnen sich morgen im Frühstücksraum das Maul über sie zerreißen würden. Ihre müden Augen füllten sich mit Tränen und sie wagte nicht, ihren Kopf zu heben, um Frau Bross-Franke anzusehen. „Frau Pasewalk!“ hob Frau Bross-Franke gerade mit vorwurfsvoller Stimme an und wippte dabei weiter energisch vor und zurück. In diesem Moment blitzte ein nagelneuer Pfennig auf dem Boden direkt unter der Fußspitze von Frau Bross-Franke wie ein Morsezeichen hervor und war im nächsten Moment wieder verborgen, da diese weiterhin vor- und zurückwippte. „Entschuldigung“ sagte Frau Pasewalk, bückte sich rasch und hob den Pfennig bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit vom Boden auf. Sie wischte ihn demonstrativ an ihrer altrosafarbenen Kittelschürze ab, legte ihn auf den Kassentisch und sagte mit leiser, aber triumphierender Stimme: „Neunhundertdreizehn Mark und fünfundsiebzig Pfennige.“ Frau Bross-Franke zuckte mit den Mundwinkeln, zwang sich zu einem mitleidigen Lächeln, kniff Frau Pasewalk spielerisch tadelnd in die Wange und sagte „Immer schön aufpassen mit dem Geld. Sonst können wir hier den Laden bald dicht machen!“ Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zur Elektrokasse.

Frau Pasewalk atmete tief durch und stützte sich noch einen Moment am Kassentisch ab, bevor sie das vor ihr liegende Geld wieder in die Kasse einsortierte. Sie knipste die Beleuchtung des Kassenschildes wieder ein, um zu signalisieren, daß die Seifenkasse wieder im Dienste der Kundschaft stehe. In diesem Moment ertönte von Ferne aus der Richtung der Elektroabteilung eine gellende Frauenstimme: „Kassensturz. Kas-sen-sturz!“

 

Hallo BerlinBoy,

es heisst ja, man soll hier positive Kritik üben. Ich kann an Deiner Geschichte nichts finden, das sich kritisieren liesse. Echt der Hammer! Wie Du das Anfangsszenario vor "Wulle" beschreibst, bis hin zu den Schweissflecken auf der Bluse der Verkäuferin... Du hast es geschafft ein total banales Ereignis in einen spannenden Reisser zu verwandeln. Du schreibst wie ein Profi. Da das eine Serie ist, hast Du vor, Deine Geschichten eines Tages zu veröffentlichen?

 

Hallo BerlinBoy,

und herzlichen Willkommen hier.

Ich kann mich meiner Vorrednerin leider nicht anschließen.

Die Geschichte, die lange Zeit, als solche nichtmal zu erkennen ist - die ersten Absätze dachte ich, es gebe gar keine Handlung - ist extrem zäh und unspannend.

Prinzipiell kann man natürlich auch aus einem Kassensturz eine Geschichte machen - du hast da ja durchaus Konflikt. Aber das Ganze drum rum, müsste gnadenlos gestrichen werden. Die ersten drei Absätze zum Beispiel. Die braucht es nicht, die geben mir nichts. Das ist alles Vorgeplänkle vor der Geschichte. Ich denke, du versuchst da möglichst präzise die Stimmung eines Kauftages einzufangen. Aber das klappt nicht.
Liegt viel an der Sprache:

Wie üblich herrschte auch an diesem Samstag vormittag in der Lichtenrader Bahnhofstraße ein reges Treiben.
Mein Vorschlag zum Kürzen: Wie üblich herrschte diesen Samstagvormittag in der Bahnhofstraße reges Treiben.
Alles was ich rausgenommen habe, braucht es meiner Meinung nach nicht. Da ist jetzt alles drin. Theoretisch kann man sogar das "wie üblich" raus nehmen. Kommt ein bisschen auf den gewollten Effekt drauf an.

Sie gaben sich mit den gerade erst aus ihren Betten gerollten Langschläfern die Klinken der Ladentüren in die Hand und taxierten die kurz vor Geschäftsschluß einfallenden Massen mit einem Blick, der die moralische Überlegenheit der Frühaufsteher unzweifelhaft zum Ausdruck bringen sollte.
Was mir aufgefallen ist: Ist der Unterschied zwischen Frühaufsteher und Spätaufsteher wirklich nur so kurz. Ein Einkauf dauert vielleicht 30 Minuten, also nur im Laden. Das kommt für mich nicht hin.
Noch ne Frage: Ist der Text älter? Wegen dem frühen Ladenschluss und später kommt noch Mark, statt Euro.
Wieder zum Satz:
den gerade erst aus ihren Betten gerollten - ist sehr umständlich und eigentlich sagt Langschläfer schon genug. Kann also raus
kurz - kann auch raus.
der die moralische Überlegenheit der Frühaufsteher unzweifelhaft zum Ausdruck bringen sollte. - Ist sehr passiv und und braucht viele Worte, um was einfaches auszudrücken. Vorschlag: der ihre moralische Überlegenheit zum Ausdruck brachte.

Ein Erstklässler weinte, weil er im wirren Durcheinander der vielen Passanten seine Mutti aus den Augen verloren hatte, welche sich für einen Moment durch die kastanienbraunen Kulleraugen des windschnittigen Türken in der Döner-Bude ablenken ließ und daher ein paar Schritte hinter ihrem Sohnemann im Gerangel der Leute zurückfiel.
Ich würde (fast) alle Adjektive streichen:

Ein Erstklässler weinte, weil er im Durcheinander der Passanten seine Mutti aus den Augen verloren hatte, welche sich für einen Moment durch die Kulleraugen des Türken in der Döner-Bude ablenken ließ und daher ein paar Schritte hinter ihrem Sohnemann im Gerangel der Leute zurückfiel.

Jetzt ist immer noch der Hauptsatz viel kürzer als der Nebensatz, das Gewicht stimmt quasi nicht. Und "Kulleraugen des Türken in der Döner-Bude" ist umständlich.
Einfachster Weg ist wahrscheinlich, zwei Sätze daraus zu machen.

So das sind mal drei Beispiele, weshalb die Sprache für mich nicht funktioniert.
Aber: Selbst in der entschlackten Form sind die Sätze inhaltlich völlig irrelevant. Sie tragen nicht zur Handlung bei. Sprich eigentlich müssten sie alle komplett weg.

Auch die eigentliche Handlung wird durch diese Sätze ewig zerdehnt. Du solltest versuchen, die Sache viel kürzer zu fassen.

Reduzier dich auf einfache klare Bilder: Nimm den Schweiß der Kassiererin und die Kette der Aufsicht. Das ist nicht so abgegriffen wie der Rest und reicht völlig aus. Die Machtposition der Aufsicht kommt am besten über ihr Auftreten rüber, nicht über die Beschreibung ihres Äußeren. Kann also auch raus.

Aber selbst wenn, du deinen ganzen Text wirklich auf das Nötige reduziert hättest - was kaum 1/5 des jetzigen Umfangs wäre - bliebe die Geschichte uninteressant. Der Kassensturz alleine funktioniert so für mich nicht. Das muss in eine Geschichte eingebettet sein, die sich um die Kassiererin dreht. Dann kann das funktionieren als Bedrohung ihrer Existenz, dann leide ich mit ihr. Aber so ist sie mir egal. Ich kenne sie als Figur eigentlich nicht.
Außerdem sind, meiner Erfahrung nach, 5 Cent Differenz vernachlässigbar.

Mein Rat: Lass die Geschichte liegen und versuch eine neue, mit echter Handlung. Dann hast du nicht das Problem uns eine, eigentlich unbedeutende Szene schmackhaft machen zu müssen. Und konzentriere dich auf das nötige. Man muss sprachlich schon sehr gut sein, damit einem Triviales nicht angestrichen wird.

Soweit fürs erste. Ich hoffe du kannst etwas damit anfangen.

Viel Erfolg noch beim Schreiben hier und Gruß,
Kew

 

Danke Euch beiden für die aufschlußreichen Kommentare zu meiner Geschichte. Es war sehr interessant zu sehen, daß sie einem gefallen hat und dem anderen nicht. Literatur ist natürlich immer eine Geschmacksfrage, der eine mag es kurz und präzise, der andere detailliert und ausschweifend. Mir kam es bei dieser Geschichte weniger auf die Handlung an als auf die Beschreibung des Milieus und einiger Formulierungen, die mich selbst belustigten. Ich werde Euer Feedback im Hinterkopf behalten, wenn ich die nächste Folge in dieser Serie schreibe. Ich würde mich freuen, wenn andere Leser auch noch ihre Meinung abgeben würden, ob sie beim Lesen Spaß hatten oder nicht.

 

Hallo Berlin Boy,
der Text enthaelt m.E. viele absolut treffende Beobachtungen zum Milieu, und die kleinen Machtgefaelle zwischen einzelnen Angehoerigen derselben sozialen Schicht sind auf ironisch-kritische Weise dargestellt. Besonders gefaellt mir die Art und Weise, in der die Figuren selbst ihre Stellung im sozialen Gefuege durch bestimmte Attribute oder Insignien zu erkennen geben--ich denke da z.B. an das Plastik-Spiralarmband von Frau Bross-Franke, die Pseudo-Reitstiefel, etc.
Die historische Einordnung der Vignette wird durch die Erwaehnung von Stoffen wie "Dralon" erleichtert, es wird noch in Mark gezahlt, etc. Andererseits: Frau Pasewalk wird als "Spaetaussiedlerin" bezeichnet, und es wird gesagt, sie sei seit 20 Jahren in Berlin. Den Terminus "Spaetaussiedler" gibt es aber, glaube ich, erst seit Anfang der 90er Jahre, oder? Falls das stimmt, dann muesste--20 Jahre spaeter--im Text schon in Euro gezahlt werden. Das soll aber ja sicher nicht sein, der Text spielt eher sicher viel frueher, oder? Koennte man die Marksteine, die die historische Einordnung des Geschehens erlauben, vielleicht noch ein bisschen praezisieren?
Ansonsten: Du schaffst es, die Darstellung zugleich ironisch-kritisch und leicht nostalgisch klingen zu lassen--toll. Die Repraesentationen der Figuren sind gestochen scharf, und Deinem erzaehlerischen Auge entgeht nichts, was mit Milieu oder sozialen Machtgefaellen zu tun hat. Ich wuerde gerne mehr Vignetten lesen--ist da schon `was in Arbeit?

 

Danke, Fishtown, für die hilfreichen Kommentare. Wegen der "Spätaussiedlerin" haben Sie Recht, den Ausdruck gibt es tatsächlich erst seit 1993, da muß ich also nachbessern! Ich werde an dem historischen Kontext noch ein bißchen rumfummeln. Der Bata Illic Schlager war 1976 in den Top Hits, also spielt die Geschichte in den siebziger Jahren, und da hießen die Aussiedler einfach nur Aussiedler. Eine neue Vignette schwebt mir schon vor dem geistigen Auge, und ich brauche nur ein bißchen Zeit, sie aufzuschreiben. Ich werde sie dann sofort hier einstellen.

 

Hallo BerlinBoy,
ich bin neu hier und habe beim Stöbern Deine Geschichte erwischt und gelesen.
Ich muss sagen - Respekt! Man kann sich die kleine Welt, die Du hier erschaffst, wirklich absolut bildlich vorstellen. Ich denke, die meisten so um die 40 können sich damit relativ gut identifizieren. Schließlich werden die meisten Leute mal in so einem Laden gewesen sein, egal ob Berlin, an der Nordsee oder im Südwesten.
Auch Deine Beschreibung der Personen ist, so meine Meinung, absolut treffend. Jeder von uns kennt eine Frau Pasewalk oder auch eine Frau Bross-Franke.
Und wie auch Fishtown schreibt, bringst Du den ganzen sozialen Kontext wirklich prima rüber.
Ich hoffe auf mehr - vielleicht eine Fortsetzung aus der Elektroabteilung? Oder der Pausenraum des Woolworth-Marktes? Da sollen sich ja auch immer tolle Szenen abspielen.
Weiter so!

 

Gute Idee!

Oder der Pausenraum des Woolworth-Marktes? Da sollen sich ja auch immer tolle Szenen abspielen.

Das ist ja eine tolle Idee, ich sollte die Angestellten alle der Reihe nach in die Geschichte einführen. Der Filialleiter Herr Schäfer ist ja schon am Rande erwähnt, der kann noch ausgemalt werden. Danke für den Vorschlag!

 

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