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Vierundsechzig
„Sechsundzwanzig, dreiunddreißig, fehlen noch sieben bis zum zweiten Stock“, murmelte Herr Falter.
Er meinte nicht die Stufen, die er flott bewältigte, äußerst energisch für einen Mann Mitte Fünfzig, er summierte die Wertigkeiten seiner Angestellten.
Jeder, der bei der Falter & Co GmbH beschäftigt war, hatte in seinem geistigen Gebäude einen Wert zugewiesen bekommen, der sich aus dem Alter, der Anzahl von Krankentagen, den geleisteten Überstunden, der Haarfarbe, dem gefahrenen Auto, der bei der Weihnachtsfeier konsumierten Menge an alkoholischen Getränken, sowie der Stellung im Betrieb zusammensetzte.
Bonus – und Maluspunkte gab es für Sportlichkeit bzw. Übergewicht, Körpergeruch, Glatzenbildung und Haare auf den Händen bei männlichen Mitarbeitern. Herr Falter war der Ansicht, dass Haare auf den Händen bei Männern etwas äußerst Positives waren, sie deuteten auf einen hohen Testosteronspiegel hin.
Es war nun 8 Uhr 15, er zählte die Wertigkeiten von Personen, die er beim Vorbeigehen in den offenen Büros sah, aber auch jene, die er nur entfernt hörte, wobei er sich dabei ertappte, dass er etwas schwindelte, um auf die gewünschte Mindestzahl zu kommen.
Er kam im zweiten Stock an und ihm fehlten noch sieben Punkte. Verärgert zog er sein Telefon hervor und rief seinen Assistenten an.
„Zweiter Stock, angetanzt“, knurrte er.
Sein Assistent schaffte es, die Treppen aus dem fünften Stock in unter dreißig Sekunden zu bewältigen und schlitterte auf seinen Lederschuhen um die Ecke.
Herr Falter beobachtete ihn aufmerksam, das Gesicht eine undurchdringliche Maske. Der Assistent war außer Atem, schwitzte und füllte ganz eindeutig seinen Anzug zu gut aus.
Das musste Konsequenzen haben. Falter schloss kurz die Augen, betrat sein Gedankengebäude, betrat den Raum Vier auf der rechten Seite der Eingangshalle, durchquerte es, ohne auf die Türen rechts und links zu achten und fand im nächsten Zimmer seinen Assistenten, seine Wertigkeit, um genau zu sein. Er korrigierte sie anhand der Tabellen für Körpergewicht und Sportlichkeit. Nach kurzem Zögern ließ er die Tabelle für Körpergeruch unangetastet, obwohl er den Geruch von Schweiß deutlich wahrnehmen konnte, den der Assistent ausströmte.
„Ich sollte meine Großzügigkeit nicht übertreiben“, murmelte er.
„Ich habe sie nicht ganz verstanden, Herr Direktor“, sagte der Assistent, noch immer etwas atemlos. Wieder ein Punkt weniger für mangelnde Sportlichkeit.
„Ich fragte sie, wie viele Tage sie krank waren, bis zum heutigen Tag“, sagte Falter scharf.
Der Assistent zog die Schultern hoch und überlegte kurz.
„Ich hatte im März die Grippe, da war ich drei Tage im Bett, sie erinnern sich, das war ja fast eine Epidemie…“
„Das genügt“, unterbrach ihn Falter. Drei Tage, gut, das war im Rahmen, eigentlich. Er beschloss, den Punkt für mangelnde Sportlichkeit wieder zu addieren. Er würde den Assistenten einfach pro Tag mehrmals die Treppen rauf – und runter jagen, dann konnte er das vor sich selbst vertreten. Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals wegen seiner Güte. Nicht weich werden! schalt er sich.
Falter räusperte sich und musterte den Assistenten wieder scharf, der nun schon wieder schwitzte, sollte er den Punkt für mangelnde Sportlichkeit…nein, Schluss jetzt.
Er deutete auf das Büro zu seiner Linken, eine offene Konstruktion, wie überall im Haus. Zwar waren die einzelnen Abteilungen getrennt, jedoch nur durch niedrige Mauern, über die man bequem in die anderen Büros sehen konnte.
„Na, bemerken sie nichts? Was sehen sie?“, fragte er den Assistenten, der seine Summe nun auf Dreiundfünfzig gebracht hatte, was wieder ein Dilemma bedeutete: Primzahlen waren ärgerlich, dieser geschenkte Punkt bei der Sportlichkeit fiel ihm bereits jetzt in den Rücken, widerliche Nachgiebigkeit. Zornig stampfte er mit dem Fuß auf.
Der Assistent zuckte zusammen und spähte verzweifelt in das Büro.
Menschen arbeiteten dort vor Bildschirmen, telefonierten, es herrschte eine gewisse Geschäftigkeit.
„Ich … Herr Boskic telefoniert im Stehen?“
„Im Stehen und LAUT. Die Lautstärke in diesem Stock ist unerträglich! Es klappert überall von diesen Tastaturen, wie soll sich hier jemand konzentrieren können?“, sagte Falter laut.
Die Leute drehten sich um, sahen den Direktor und tippten so leise wie möglich weiter. Der stehende Telefonist ließ sich so langsam wie möglich auf seinen Stuhl nieder, um etwas Widerstand zu demonstrieren.
„Nun, die Büros sind zueinander offen, die Lautstärke summiert sich, Herr Falter. Wenn mehrere Leute gleichzeitig telefonieren, kommt es klarerweise zu etwas Lärm. Wir könnten natürlich…“
Der Direktor achtete nicht mehr auf den Assistenten, er war mit Analyse, Bewertung und Summierung beschäftigt.
„Neunundachtzig, Hundertvierunddreißig, Hundertachtzig, Zweihundertzwölf, Schnitt: Dreiunddreißig“, murmelte er und kniff die Augen zusammen.
„Wie bitte?“, fragte der Assistent verwirrt.
„Der Wasserspender ist am Montag aufgefüllt worden. Heute ist Mittwoch. Er ist zu achtzig Prozent gefüllt. Na, was sagt uns das?“, fuhr Falter den Assistenten an.
Der überlegte sorgfältig. Er konnte jetzt nicht blöd kommen und sagen: „Wir sollten die Mitarbeiter dazu anhalten, mehr zu trinken, es erhöht ihre Gesundheit und ihre Leistungsfähigkeit.“
Er musste endlich einmal punkten.
Der Assistent ging zu der niedrigen Mauer, die das Büro begrenzte und starrte hinein, dann drehte er sich um und sagte: „Zwanzig plus Neunundsechzig, das wären dann Neunundachtzig.“
Direktor Falter lächelte erfreut, aber auch etwas verwirrt.
„Wieso Neunundachtzig?“, fragte er milde.
„Zwanzig Prozent fehlen vom Inhalt des Wasserbehälters, während laut der Anzeige des Kaffeeautomaten dieser noch zu neunundsechzig Prozent gefüllt ist, zusammen ergibt das Neunundachtzig, Herr Falter“, sagte der Assistent.
Der Direktor sah auf seine Schuhspitzen und der Assistent sah sich bereits den Schreibtisch räumen.
„Sie sind ein schlauer Kopf, mein Junge, aber sie haben noch das Ungestüm der Jungend, sie schießen zu schnell, wenn ich das so sagen darf“, sagte der Direktor lächelnd und legte dem Jüngeren den Arm um die Schulter.
„Der Kaffee, wie würden sie dieses Getränk im Gegensatz zu Wasser bewerten? Positiver oder negativer, wobei wir Wasser der Einfachheit halber als Grundwert gelten lassen?“
Der Assistent richtete sich auf, so dass sein Brustbein knackte.
„Ich bewerte Kaffee gleich wie Wasser. Kaffee erhöht die Konzentrationsfähigkeit und vertreibt die Müdigkeit, andererseits mag er die Verdauung anregen, was zu vermehrten Toilettenpausen führen kann. Wasser ist dagegen vorzüglich geeignet, die Bitterkeit, die unser schlechter Kaffee hat, zu neutralisieren, sowie den Durst zu löschen, den man beim Trinken des Kaffees bekommen kann. Die beiden Getränke befinden sich in einer Synthese“, sagte der Assistent selbstbewusst.
„Sie vertreten einen ganzheitlichen Ansatz? Interessant! Sie kleiner Esoteriker!“, rief der Direktor und klopfte dem Assistenten kumpelhaft auf die Schulter.
„Ich versuche nur zu analysieren, zu bewerten und mich nicht ablenken zu lassen“, sagte der Assistent mit der Stimme eines Mannes, der den Kubikwürfel zum ersten Mal geknackt hatte.
„Was sagen sie zu dem stehenden Boskic, der gerade telefoniert?“
„Fünfunddreißig, fallend. Er telefoniert beim stehen, ist aber sportlich und sein Wasserglas ist gefüllt. Andererseits …“
„Ja, ja?“ insistierte der Direktor.
„Sehen sie seine Hautfarbe – sie scheint mir zu rötlich, möglicherweise zu hoher Blutdruck. Was wäre ihre Bewertung, Herr Direktor, bin ich weit weg von einer angemessenen Bewertung?“, sagte der Assistent und schlug demütig die Augen nieder.
„Nein, nein. Fünfunddreißig ist gut, er ist ein Dreiunddreißiger, sie haben das mit dem Blutdruck sehr gut bemerkt. Ich merke gerade, was für ein interessanter Gesprächspartner sie sind! Sie sind ab heute ein Vierundsechziger! Sie werden es noch weit bringen!“