Vier Uhr nachmittags
Als der Zeiger der Uhr am grossen Kirchturm auf drei vorrückt, ahnt Monika nicht, dass ihr nur noch knapp eine Stunde bleibt, bevor sich die überschaubare Realität ihres Lebens auflösen wird. Um drei haben sie vor dem Warenhaus gegenüber der Kirche abgemacht. Sie ist nervös, eigentlich schon seit dem Moment als Steffen sie vor zwei Wochen angerufen hat. Einfach so: Steffen. Mit einem Mal war die Vergangenheit zurück. Sie erkannte ihn sofort am Telefon, diese Stimme kann sie aus tausenden heraushören. Ich weiss, wo du wohnst, sagte er ohne Begrüssung. Er grüsste nie – auch damals nicht, das war ihr zum ersten Mal richtig bewusst geworden. Und dann, ich will dich sehen. Na klar, hatte sie geantwortet; ihre Stimme zitterte. Die Gedanken rasten im Kopf: Was will er von ihr? Wie hat er sie gefunden? Zwei Wochen können lang sein und trotzdem hat sie auf keine der Fragen eine Antwort gefunden.
Als Kind hatte sie sich vor Steffen gefürchtet, weil sein rechtes Auge zuckte und ihm ein verschlagenes Aussehen verlieh. In der Schulzeit hatte sie nur mit ihm zu tun, wenn sie gemeinsam Weihnachtssterne verkaufen mussten. Zusammen klingelten sie sich die Wohnsilos rauf und runter. Er drückte die Klingel, sie sagte den Spruch auf. Monika verkaufte meist mehr, wenn sie allein unterwegs war. Steffen lächelte nie; er verschreckte die Nachbarn mit seinen dunklen Augen und dem düsteren Aussehen. Monika hoffte jedes Mal, er käme nicht, wenn sie unten im Eingang auf ihn wartete. Er kam immer, bis sie ihm schliesslich vorschlug, alleine auf Tour zu gehen, er dürfe nur der Lehrerin nichts verraten. Von da an verkaufte sie zwar alle Weihnachtssterne, das Unbehagen, er könne unerwartet neben ihr auftauchen, wenn sie alleine durch die hohen Treppenhäuser irrte, blieb. Die Vorstellung, er könnte neben ihr auftauchen, beängstigte sie noch mehr, als wenn er einen Nachmittag lang schweigend neben ihr her ging.
Und jetzt steht sie da, gegenüber der Kirche und wünscht sich einmal mehr, er käme nicht. Nervös reibt sie die schwitzigen Hände am Rock trocken und versucht zu vergessen, dass sie eigentlich keine andere Wahl gehabt hatte, als ihn zu treffen. Was will er nach all den Jahren? Warum ausgerechnet sie? Die Gruppe von damals hatte sich ziemlich schnell aufgelöst, nachdem Steffen und Robert nicht mehr da waren. Wie er wohl aussieht, Steffen? Trägt er die Haare immer noch halblang, so dass ihm die dunkelbraunen Strähnen ins Gesicht fallen? Monika blickt sich um, versucht im Menschengewimmel jemand auszumachen, der ihm ähnlich sehen könnte. Der Platz ist belebt, am Mittwochnachmittag dient er hauptsächlich als Treffpunkt für Schüler und Hausfrauen.
„Hallo“. Er ist immer noch gross und hager, hält sich jedoch leicht nach vorn gebeugt, die Haare schütter. Sie hätte nie gedacht, dass er zu jenen gehört, die schon Anfang dreissig das Haar verlieren.
„Hallo“, Monikas Versuch zu lächeln scheitert an seinem eisigen Blick. Sie zupft an ihrem Rock, will sagen, er sehe gut aus und verbeisst sich die Bemerkung in letzter Sekunde. Die Lüge wäre nicht nur unangebracht, sondern auch schlecht gewesen.
„Lange her“, sagt sie stattdessen mit einer Stimme, die sie selbst nicht wiedererkennt. „Wollen wir am Fluss spazieren gehen?“, fragt Steffen und fasst sie am Ellbogen.
„Ja klar, aber ich habe nicht viel Zeit, um vier Uhr muss ich meine Tochter abholen“, Monika wehrt sich nicht gegen seinen Griff, sie kann nicht. Das Wissen um die Vergangenheit lähmt sie. Schweigend gehen sie nebeneinander her.
„Wie alt ist deine Tochter?“, kaum hat Steffen die Frage ausgesprochen, bereut Monika, ihr Kind erwähnt zu haben.
„Sie ist drei Jahre alt. Ich habe kurz nach der Ausbildung geheiratet, da war ich schon schwanger.“ Steffen schweigt.
Sie erinnert sich, dass er auch früher die Angewohnheit hatte, einfach zu schweigen. Dabei fixiert er sein Gegenüber mit durchdringenden Augen. Das war schon damals unangenehm. Monika ist nervös und sucht fieberhaft nach einem unverfänglichen Thema. Seit wann ist er wieder draussen? Wenn sie sich recht erinnert, hat er damals sieben Jahre gekriegt. Mittlerweile gehen sie ziemlich schnell. Steffen hat ihren Arm losgelassen und steuert Richtung Tierpark. Es ist windig, ausser vereinzelten Spaziergängern, die ihre Hunde Gassi führen, sind nicht viele Menschen auf der Strasse.
„Wohnst du in der Stadt?“ Steffen zuckt bloss mit den Schultern. „Warum interessiert dich das? All die Jahre hast du dich keinen Deut um mein Leben geschert.“
„Naja, ich hab nur gedacht, weil du mich angerufen hast…“, Monika verstummt, sie ist unsicher. Was will er bloss von ihr?
Seit dieser Sache ist ihr Leben weitgehend ereignislos verlaufen. Ihr Mann arbeitet in der Verwaltung und sie Teilzeit als Sekretärin in einem Bauunternehmen. Die Mietwohnung ist geräumig und hell, die Nachbarn nicht der Rede wert. Näher betrachtet geschieht in ihrem Leben sowieso wenig Erwähnenswertes. Und genau so mag sie es. Die Tage reihen sich aneinander wie gleichförmige Plastikperlen an einer Halskette. Sie hat die Ereignisse jener Nacht schon lange vergessen und verdrängt, wie einen Albtraum, der zwar in regelmässigen Abständen wieder auftaucht, in der Handlung jedoch vage und verschwommen bleibt. Das unangenehme Gefühl, das er zuweilen zurücklässt, übertönt sie mit lauter Musik oder einem Ausflug in das lokale Einkaufscenter. Steffens Auftauchen hat sie überrumpelt, sie will das Treffen so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„Weißt du, es tut mir leid, wie es damals gelaufen ist, das war nicht recht“, bricht es aus ihr heraus. „Ich …“
Steffen lacht höhnend „Ja, leid tut es mir auch! Immerhin habe ich sieben meiner besten Jahre verloren und die Hoffnung auf eine unbeschwerte Zukunft. Hast du dir jemals Gedanken gemacht, was euer Schweigen für mich bedeutet hat? Wir kennen uns seit wir Kinder waren, und du hast keinen Finger gekrümmt für mich – für die Wahrheit! Nein, du hast bloss die Lügen der Anderen nachgeplappert“, seine Stimme ist schneidend.
Monika zittert. Wie kann sie ihm erklären, dass damals vor allem zählte, was Lukas sagte. Er definierte ihre Welt, ihre Kleidung, die Musik, die sie hörte und wie sie sich ausdrückte. Er war stark, laut und gut gekleidet. Solange sie zu seiner Gruppe gehörte, konnte ihr keiner was anhaben. Die Angst, nicht dazuzugehören, war schon immer das stärkste Gefühl in ihr gewesen – bis zu diesem Augenblick.
Später konnte keiner von ihnen so genau erklären, wie es dazu kam: Lukas hatte als erster das Wort ergriffen, gleich nachdem es geschehen war. Steffen habe Robert gestossen, gab er der Polizistin zu Protokoll und keiner widersprach. Später wurde es immer schwieriger, das Gesagte zu revidieren. Mit jeder Minute, in der Lukas Aussage unwidersprochen blieb, erschien es unmöglicher daran zu rütteln. Zu fünft waren sie gewesen an diesem Abend: Steffen, Robert, Lukas, Maria und sie. Lukas, der starke Mann der Gruppe, der Anführer. Er bestimmte meistens, nicht nur was sie unternahmen, er legte auch die Hierarchie zwischen ihnen fest. Am Abend des Unglücks war er auf Maria aus gewesen. Sie war erst seit kurzem hergezogen und stammte ursprünglich aus Italien. Sie war schön und fröhlich. Maria lachte viel und sprach wenig, das lag vor allem an ihren spärlichen Deutschkenntnissen. Monika hatte sie immer gemocht, den Kontakt zu ihr jedoch verloren, als Maria kurz nach der Urteilsverkündung zurück nach Italien ging. Monika war sich nie ganz sicher, ob Maria überhaupt mitbekommen hatte, was wirklich geschehen war? Bei der Befragung verstummte sie fast völlig, wiederholte nur, was Lukas gesagt hatte und weinte viel.
Mittlerweile ist es halb vier. Sie kommen am Restaurant beim Tierpark vorbei. Die Stühle im Park sind leer, das Gelände verlassen. Es beginnt leicht zu nieseln. Monika wäre gerne eingekehrt, Steffen geht jedoch unbeirrt am Flussufer entlang.
„Weißt du, dass Lukas vor fünf Jahren ums Leben gekommen ist? Sein Motorrad ist mit einem Lieferwagen zusammengestossen. Er war sofort tot.“, sagt Steffen leise.
Monika ist sich nicht sicher, ob er sie überhaupt bemerkt; er scheint in Gedanken versunken, hält die Augen starr vor sich auf den Boden gerichtet, die Lippen ein Strich, einzig die Tränen, die langsam über die Backen rinnen, zeigen Gefühle. Sie hatte nichts von Lukas tödlichem Unfall gewusst, wie Steffen wohl davon erfahren hat?
Verstohlen blickt Monika auf die Uhr, noch eine halbe Stunde und sie ist erlöst. Danach wird Steffen gehen, aus ihrem Leben verschwinden, wie er gekommen ist. Und sie wird sich wieder ihrem Alltag widmen, der Tochter, dem Mann und den Lifestyle-Katalogen, die es ihr erlauben, in der Masse unterzugehen. Nur noch dreissig Minuten muss sie sich mit jener fernen, unglücklichen Episode ihres Lebens herumschlagen und dann ist das definitiv erledigt. Steffen will sie klarmachen, dass sie nichts für ihn tun kann. Er wird doch wohl nicht erwarten, dass sie ihre geordnete Welt wegen dieser abgestandenen Geschichte aufs Spiel setzt? Das würde ja jetzt sowieso nichts mehr ändern. Nein, er soll gehen, ihretwegen nach Neuseeland oder Indien. Das ist das einzige, das sie für ihn tun kann, ist ihm zu raten, sich möglichst weit weg ein neues Leben aufzubauen.
„Du standest ganz nah neben uns, du hast gesehen, dass ich Robert nicht gestossen habe; du musst das gesehen haben“, Steffen spricht mit tonloser Stimme. Sein Blick ist noch immer auf den Boden gerichtet. „Was hätte ich denn tun sollen? Mich beleidigen lassen? Ihr habt sowieso immer über mich gelacht, heimlich, habt gedacht, ich höre es nicht. Habt ihr echt geglaubt, ich sei so doof? Einzig, wenn ich euch nützlich war, habt ihr so getan als wären wir Freunde. Das Dope habt ihr gern genommen, jedoch nicht, ohne mich immer wieder an meinem Platz zu verweisen. Ich war der schlecht geduldete Gast. Robert hatte es doch nur wieder darauf angelegt, sich zu prügeln. Nur hat er nicht damit gerechnet, dass ich wirklich mal zurückschlagen würde. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich das genossen habe, ihm einmal zu verpassen, was er verdiente. Aber gestossen habe ich ihn nicht, das weißt du!“, Steffens Tränen sind versiegt; sein Blick ist kalt und glatt wie ein Kieselstein.
„Ich weiss gar nichts. Es ist viel zu lang her! Was willst du überhaupt von mir?“, Monika spricht schnell. „Was denkst du dir dabei? Du kommst nach einer halben Ewigkeit in mein Leben und ziehst alte Geschichten hervor. Ich habe nichts damit zu tun und will auch gar nichts mit dir zu tun haben. Was passiert ist, ist passiert. Wir haben uns alle verändert in der Zwischenzeit. Kannst du vorwärts schauen? Ich jedenfalls kann nichts für dich tun, gar nichts! Oder denkst du etwa, dass ich mir mein Leben ruiniere nur wegen einer Sache, die schon längst verjährt ist?“ Monika schüttelt den Kopf: „Ich kann dir nicht helfen und sowieso, ich muss jetzt zurück, es ist bald vier.“
Steffen bleibt abrupt stehen, packt Monika am Arm und schüttelt sie. Das Grün der Blätter verschwimmt vor ihren Augen, Regentropfen fallen auf ihr Gesicht. Sie verliert den Boden unter den Füssen; für einen kurzen Moment kann sie Steffens Atem riechen: bitter, nach abgestandenem Kaffee, dann schlägt sie hart auf dem Boden auf. Steffens Gewicht liegt auf ihr.
„Diesmal ist es anders: Du wirst dich nicht mehr hinter deinen Freunden und deiner Familie verstecken. Du wirst mir zuhören.“
Wieder riecht sie seinen Atem. Langsam kriecht Panik in ihr hoch. Monika fängt an zu keuchen, „Ich krieg keine Luft mehr. Geh von mir runter“. Dann – wie in Zeitlupe – spürt sie, wie Steffen von ihr ablässt, sieht wie er nach vorn sinkt; seine Schultern zucken. Ohne zu zögern, erhebt sie sich, greift nach einem Stein und schlägt ihn auf Steffens Hinterkopf, er taumelt, kippt, rollt die schmale Böschung hinunter und schlägt mit dem Bauch im Wasser auf. Sein Gesicht ist unter Wasser. Er rührt sich nicht. Minuten vergehen, es könnten auch Tage sein – oder Jahre. Langsam erfasst die Strömung den reglosen Körper und zieht ihn mit sich fort. Monika lässt den Stein ins Wasser fallen. Sie schüttelt das Laub und den Dreck so gut es geht von den Kleidern. Zum Glück ist das mit der Tochter nur eine Ausrede gewesen, die weilt bei den Grosseltern in den Ferien. Nein, niemand weiss von ihrer Bekanntschaft mit Steffen, geschweige denn von dem heutigen Treffen. Sieben Jahre hatte Steffen gekriegt für Totschlag. Das wird ihr nicht passieren. Bestimmt nicht.