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Vier Minuten

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16.10.2014
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Vier Minuten

Ich zog mein Handy aus der Tasche, um nach der Uhrzeit zu sehen. Noch fünf Minuten, bis der Bus kommen würde. Ich steckte mir eine Kippe an. Raucher sterben früher, warnte mich die Zigarettenschachtel. Nicht das Schlechteste, dachte ich. Scheiß Tag. Scheiß Woche. Scheiß Leben! Der Nieselregen schwoll zu einem Wolkenbruch an. Das fehlte gerade noch! Als würde die Kälte nicht schon reichen! Ich hasste Regen, Nässe allgemein. Wahrscheinlich würde ich durch die wenigen Schritte, die ich gleich unter freiem Himmel zur Bustür würde gehen müssen, schon bis auf die Haut durchnässt werden. Die Straße ertrank unter reißenden Bächen. Ich starrte aus dem Unterstand der Haltestelle hinaus auf den Vorhang aus Wasser, da es sonst nichts zu sehen gab und ich auch nichts sehen wollte. Bei schönem Wetter hätte ich mich vielleicht kurz umgedreht, um einen Blick durch die Rückwand aus Plexiglas zuwerfen, hinunter auf das Panorama mit der Rheinbiegung. Das hob die Laune zugegebenermaßen. Manchmal. Aber sicher nicht heute. Die Stadt war immer noch zu geizig für ein höheres Geländer gewesen. Darum konnte manch ein Selbstmörder den Abhang anderweitig nutzen und war genau von dieser Stelle aus zu seinem letzten Flug gestartet. Ich hatte mir das auch mal überlegt, aber inzwischen hatte ich keine Lust mehr auf Drama. Ich hatte zu fast gar nichts mehr Lust. Der Regen hatte die Passanten von der Straße gescheucht. Gut. Ich wollte keine Gesellschaft. Ich wollte mit meiner Kippe alleine sein. Plötzlich flammte der Himmel auf. Jetzt gewittert es auch no... Ein Donnerschlag, nein, eine Explosion rammte mir eine Druckwelle in die Ohren. Ich zuckte zusammen, mein Puls raste. Fast wäre mir die Kippe aus dem Mund gefallen. Meine Trommelfelle sirrten, mehrere Sekunden lang, so dass ich das Prasseln des Regens kaum noch hörte. Der Blitz musste in unmittelbarer Nähe eingeschlagen sein! Wie knapp war ich dem Ende entkommen? Ich sah mich um. Neben dem Unterstand, da, wo der Bürgersteig aufhörte und das Gestrüpp anfing, war ein Krater. Er maß vielleicht einen halben Meter im Durchmesser und war vorhin eindeutig noch nicht dagewesen. Inmitten eines Rings aus frisch aufgeschüttetem Erdreich klaffte das Loch. Rauchschwaden stiegen daraus hervor und taumelten zwischen den Regentropfen in die Höhe. Durch den angrenzenden Bürgersteig zog sich ein gezackter Sprung. Ich nahm einen tiefen Zug aus der Kippe. Da zuckte etwas im Krater. Der Starkregen verwischte die Sicht, doch da war es wieder: Eine längliche, graue Kreatur bog und wandte sich über den Rand des Lochs. Es war ein Wurm – nein, eine Raupe! Eine hässliche, fette Raupe! Sie plumpste vom Kraterrand auf den Boden und kräuselte sich zwischen den Grasbüscheln. Furcht und Erstaunen rangelten hinter meinen Augen um die besten Plätze, nach draußen schauen zu können. Das Geschöpf reckte sich wie ein gebogener Zeigefinger nach oben und erstarrte. Es zeigte auf mich. Das Ding hatte keine erkennbaren Augen, und doch war mir, als würde es mich mit seinem Blick fixieren. Mir standen die Haare vom Kopf bis zu den Schenkeln zu Berge. Gerade, als mein Fluchtinstinkt vorsichtig die Hand hob um zusagen: Ich bin übrigen auch noch da!, schoss die Raupe nach vorne. Wie eine Flipperkugel schnellte sie im Zickzack über den Boden, um die Stütze des Unterstandes herum, stieß gegen meinen rechten Schuh und verschwand in meinem Hosenbein. Wie von einem Stromschlag getroffen sprang ich zurück. Die Kippe fiel hinunter. Ich schüttelte mein Bein in der Luft, als wollte ich es abwerfen.
Igitt! Igitt! Igitt!!
Ich schrie und hyperventilierte gleichzeitig. Das Ding arbeitete sich an meinem Bein hoch. Dutzende spitzer Füßchen bohrten sich rhythmisch in meine Haut. Ich sprang rücklings gegen den Glaskasten mit den Fahrplänen. Es schepperte. Ich ließ ein Trommelfeuer aus Schlägen meiner flachen Hände auf mein Hosenbein niederprasseln, vergeblich. Das Ding näherte sich meinen sensiblen Körperregionen. Ich warf mich auf den Boden und zappelte wie ein auf dem Rücken liegender Käfer, der in eine heiße Pfanne gefallen war. Ich erlebte ein ekelerregendes Kitzeln, als die Kreatur weiter empor kroch. Zum Glück an meinen Juwelen vorbei, über den Hosenbund hinweg und an meiner Flanke hinauf. Sie passierte meine Achseln. Ich rollte mich hin und her, ich kreischte. Die Raupe trat unter meinem Kragen ins Freie und krabbelte meinen Nacken hinauf. Und hinein in die Haare. Ich wollte sie mit den Händen von mir herunterwischen, doch das fette Ding klammerte sich in meine Kopfhaut als sei es festgeschraubt. Ich schlug meinen Hinterkopf auf den Asphalt, immer wieder und wieder, in der Hoffnung, das Ding könne abfallen oder platzen. Aber es tat beides nicht. Ich lag wimmernd auf dem Boden, als mich plötzlich eine Klarheit durchströmte, die tief aus meinem Inneren heraufgesogen zu werden schien. Eine Woge der Wärme und Wachheit durchfloss mein Gehirn, der alles Schmuddelwetter der Welt nichts anhaben konnte. Einen Augenblick später war sie verebbt. Die Raupe löste sich und purzelte auf den Asphalt. Befreit von dem Gewicht katapultierte ich mich in die Aufrechte und stolperte so weit wie es ging von der Kreatur weg. Diese lag nun am einen Ende des Unterstandes und ich stand am anderen. Mein ganzer Körper bebte vor Ekel und Angst. Ich starrte das Ding an. Möglich, dass ich schluchzte. Das Wesen veränderte sich: Es rollte sich zu einem kleinen C zusammen und bekam eine raue Oberfläche. Wie ein weggeworfener Mini-Croissant lag es da und rührte sich nicht. Die Raupe hatte sich verpuppt! Ich tastete meinen Hinterkopf ab, ob die Kreatur ein Loch hineingebohrt hatte. Nein, zum Glück nicht. Nur ein Kribbeln spürte ich noch, das wurde aber immer schwächer. Der Croissant blähte sich auf, veränderte seine Form ... zu der eines Embryos! Keine drei Herzschläge später war er zu einem Säugling herangewachsen. Mit schiefen Augen und etwas zu pummeligen Ärmchen und Beinchen, aber unverkennbar menschlich. Noch während er wuchs und die ersten blonden Haare auf dem Köpfchen sprossen, öffnete sich der Mund. Ein Fiepen, dann ein Quieken, schließlich das Kreischen eines Neugeborenen quoll daraus hervor. Das Wesen schlug die Augen auf. Stahlblaue Pupillen beäugten mich.
Eine Quäkstimme formte Worte:
„Hallo Mensch von der Erde, ich grüße dich!“
„Ha- hallo“, stotterte ich.
Meine Panik wich Neugierde.
Der Säugling rappelte sich auf die Beine. Als er stand, hatte er sich zu einem pausbackigen Kleinkind entwickelt.
„Ich bin ein Entdecker vom Planeten Ghdsddfkzebejjlmdrkldt...“
Das Ding drehte seine Pupillen in Richtung seines Mundes, mit dessen Lippen es bizarre Verrenkungen vollführte.
„Aber die Sprechorgane eurer Spezies haben offenbar Schwierigkeiten, diesen Namen korrekt wiederzugeben.“
Das Kind lächelte mich an und stakste einen Schritt auf mich zu. Die Freundlichkeit, die das Wesen ausstrahlte, linderte meine Angst weiter.
„Wenn du von einem anderen Planeten kommst, woher kennst du dann unsere Sprache?“, traute ich mich zu fragen.
„Wenn wir mit einer neuen Spezies Kontakt aufnehmen, dann immer erst auf physischem Wege, um deren DNA zu replizieren. Damit generieren wir einen passenden Körper für die jeweilige Umwelt. Und dann auf telepathischem Weg. Dabei nehmen wir eine Probe der Nervensignale. Dann kennen wir schon einmal alle grundlegenden Themenschwerpunkte unserer neuen Freunde. Und ich freue mich, alles andere auch bald zu lernen!“
Der Junge grinste mich weiter mit seinem schiefen Mund an, dann schrie er plötzlich.
„Aaaaaaaaaargh...! Etwas ist in meinem Mund!!“
Er riss seine Kiefer bis zum Anschlag auf und steckte seine Stummelfinger in den Mund, als wolle er seinen Arm verschlucken. Er ließ seine Fingerchen am Oberkiefer entlangwuseln. Ein kleiner Zahn leuchtete aus dem Mund hervor, dann noch einer, und noch einer.
„Ääääääh! Aaaaaaah!“, machte das Wesen. Inzwischen hatte es fast die Größe eines Vorschülers erreicht.
„Fühlt ihr so Schmerzen? Habt ihr immer solche Schmerzen? Warum habt ihr solche Schmerzen?!“
„Du bekommst deine Milchzähne. Das passiert bei Menschen in diesem … Alter.“
Das Wesen beugte sich vornüber und schnaufte heftig, dann beruhigte es sich.
„Wenn wir eine neue DNA integrieren, müssen wir mit dem individuellen Lebenszyklus ganz von vorne beim Juvenilstadium beginnen und ihn dann bis zum natürlichen Erliegen der Vitalfunktionen durchleben. Aber eure Spezies scheint sich außergewöhnlich schnell zur Adultform zu entwickeln!“
Erneut griff er in seinen Mund, schien auf seinen Fingern herum zu lutschen. Er zog etwas kleines Weißes heraus und legte es sich auf die Handfläche, während noch ein Speichelfaden daran hoch zum Mund führte. Er beäugte den herausgefallenen Milchzahn mit seinen Glupschaugen, dann blickte er fragend zu mir.
Nun tat mir das Wesen fast leid, als ich sah, wie überfordert es mit seiner neuen Existenz war.
„Du kriegst gleich wieder neue Zähne. Aber sonst tun wir das so nicht“, sagte ich.
„Habe ich etwas verkehrt gemacht?“
„Nein … ja … ich meine: Richtige Menschen brauchen viel länger, um so groß zu werden.“
„Viel länger? Wie viel länger? Mehr als doppelt so lang?“
„Oh ja. Wir brauchen so lange, dass man nicht einmal sehen kann, wie wir wachsen!“
„Oh nein! Dann wurde der Alterungsprozess nicht korrekt repliziert! Ausgerechnet!“
Das Wesen stöhnte, krümmte sich nach hinten, dann nach vorne. Es bleckte sein neu entstandenes Gebiss. Ihm war aber wohl nicht danach, Zähne schon wieder zum Thema zu machen. Mit einer Stimme, die während des Redens immer weniger quäkte, sondern stufenlos in eine tiefere Tonlage abrutschte, klagte es:
„Die Alterung lässt sich nicht rückgängig machen!“
Er humpelte mit seinen verschiedenlangen Beinen einen weiteren Schritt auf mich zu, so dass er mit seinem nackten Körper genau vor mir stand. Er gestikulierte mit seinen mittlerweile lang und dürr gewordenen Armen und rief:
„Sag bitte schnell! Bei meiner jetzigen Alterungsrate, wie lange habe ich noch zu leben?!“
Sollte ich die Wahrheit sagen? Das deformierte Gesicht befand sich mit meinem jetzt auf Augenhöhe. Unter den zu groß geratenen Augen, dem asymmetrischen Mund und den Haaren, die über das ganze Jugendalter hinweg zu einer langen Mähne gewuchert waren, erkannte ich plötzlich mein eigenes Antlitz, verdeckt von dieser Maske aus unzulänglich verarbeiteter DNA. Bald würde er mein jetziges Alter erreicht haben, und danach bekäme ich eine Aussicht auf mein Gesicht im Greisenalter, wenn auch etwas verzerrt.
Ich sagte zu meinem Klon:
„Puh, ja, also da muss ich schätzen...“
Wie groß war denn eigentlich der Lebensanteil, den man als Jugendlicher verbrachte? Ich rechnete achtzig durch zwanzig, was natürlich nur grob war.
„Also etwa ein Viertel hast du schon rum“, verkündete ich. „Seit du hier runtergekommen bist ist etwa eine Minute vergangen, also ...“
Das Wesen schlug seine Hände gegen die Schläfen.
„Oh nein, oh nein, oh nein! Ich habe keine Zeit mehr! Meine Forschungsmission ist es, so viel von eurer Existenz wie möglich zu durchleben! Schnell, sage mir, welche signifikante Erfahrung deine Spezies in dieser begrenzten Zeitspanne durchleben kann!“
Ohne es zu wollen, fiel mir ein versauter Witz über zwei Eintagsfliegen ein. Schnell verstaute ich ihn wieder. Meine Hände taten, worauf sie in einer mental angespannten Lage konditioniert waren: Sie kramten Kippenpackung und Feuerzeug aus der Manteltasche und steckten eine Zigarette zwischen die Lippen.
„Tja, weißt du ...“
„Was machst du da?“, unterbrach mich das Wesen.
„Ich stecke mir eine Zigarette an. Rauchen nennen wir das.“
„Wozu macht ihr das? Nein, sag mir vorher, wie es sich anfühlt! Nein, lass es mich auch versuchen!“
„Nee, das ist eigentlich was Schlechtes. Ich versuche es mir abzugewöhnen, weil Raucher früher...“
Ich erkannte die Absurdität meiner Ausführung.
„Aber es macht Spaß. Hier, nimm dir auch eine!“
Ich streckte ihm die offene Schachtel entgegen, gierige Finger fummelten eine Zigarette daraus hervor. Mich genau musternd, steckte sich mein Klon das Filterende in den Mund. Ich gab ihm Feuer.
„Nein, du musst dran ziehen, die Luft durch die Kippe saugen. Guck, so!“
Er machte es mir nach, sog die Luft aber so heftig ein wie ein Staubsauger. Ich hatte zuvor noch nie eine Zigarette so schnell abbrennen sehen. Weiße Schwaden umwölkten seinen Kopf, als wäre er ein Andengipfel. Ein Husten, das nur einen Spalt breit vom Erbrechen entfernt war, schüttelte den frischen Körper.
„Das macht euch Spaß?!“
„Ja okay, die erste Kippe schmeckt nie so gut.“
„Dann gib mir die Zweite!“ , bettelte mein Klon.
Mittlerweile stand ein Mann besten Alters vor mir, mit einem mächtigen Vollbart, in dem sich bereits die ersten grauen Spitzen zeigten.
Der Klon rauchte zum zweiten Mal. Er hustete jetzt kontrollierter.
Mit der Gabel aus Zeige- und Mittelfinger nahm er die Kippe aus dem Mund und drehte sie vor seinen Augen zu allen Seiten.
„Ich verstehe, warum ihr das tut! Mit dem Gift darin provoziert ihr euren Körper zu einer Abwehrreaktion, wodurch sich euer Empfindungsspektrum erweitert!“
„Äh, ja … genau so machen wir das!“
Er steckte die Kippe zurück in den Mund und inhalierte daran, als wolle er die ganze Welt einsaugen. Diesmal schien er das Husten zu genießen. Sein Blick wanderte aus dem Unterstand heraus, hinein in den Regen. Die Lust an der Freude strahlte in seinem Blick, während ein Stiel aus Asche vom orangenen Filter herabfiel, der einsam zwischen den Lippen stecken blieb. Sein Lächeln bildete kleine Fältchen in seinen Augenwinkeln, und daraus wurden die ersten Furchen eines gereiften Gesichtes.
Das Wesen sagte: „Eine beeindruckende Natur habt ihr! Das viele Wasser! Es umgibt euch einfach überall!“
„Du hast leider Pech gehabt, bei diesem Mistwetter zu landen, wo es auch noch so arschkalt ist. Wenn die Sonne scheint, ist dieser Planet viel schöner!“
„Aber Wasser, das vom Himmel fällt, ist doch schön genug! Kann ich noch eine Zigarette haben?“
Ich steckte ihm auch diese an, dann sprang er, nackt wie er war, hinaus in die Fluten.
„Haha, juhuu! Was für ein Stimulus!“ Das Wesen hüpfte und tanzte wie ein ausgelassener Welpe, reckte seine nackte Brust gen Himmel und schüttelte seinen Leib durch, sodass die abprallenden Regentropfen in alle Richtungen gewirbelt wurden. Dann sprang es in den reißenden Bach, der sich vor dem Bordstein an der Haltestelle angestaut hatte.
„Hey, pass auf!“, protestierte ich, als mir der Schwall aus Wasser entgegen spritzte. Das Wesen lachte nur, aber es war kein gemeines Lachen.
„Komm auch hier raus ins Wasser! Es ist nass, es ist kühl!“ Er warf den Kopf in den Nacken, nahm die Kippe aus dem Mund und gurgelte die hereinströmenden Fluten in seinem aufgerissenen Rachen.
„Nein danke! Ich möchte gern trocken bleiben, Nässe mag ich nicht. Außerdem ist das mein Arbeitsanzug, der soll nicht eingesaut werden!“
„Warum denn nicht? Hier ist doch alles nass!“ Der Klon hielt inne, um einen Freudenzug von der Kippe zu nehmen, bemerkte dann aber, dass sie nicht mehr brannte. Während er mich fragend ansah, wirkte es, als würde der Regen die Farbe aus der langen, vor Nässe triefenden Mähne des Neuankömmlings herauswaschen. Aber es war nur der natürliche Alterungsprozess, der das Haar grau und schließlich weiß werden ließ. Ich sagte zu dem Wesen:
„Deine Zigarette ist jetzt nass, dann brennt sie nicht.“
„Achso, ja … Aber ich will einen Stimulus. Einen, der auch im Wasser funktioniert!“
Er humpelte wieder auf mich zu und stellte sich vor mich. Die vertikale Grenze zwischen Regen und Trockenheit trennte uns wie die Scheibe eines Spiegels.
„Aber mach schnell! Ich glaube, meine Zeit läuft ab!“
Das Gesicht, das unter der Schicht aus Deformation und Alter immer noch meines war, sah mich flehend, ja gierig an. Was für eine Forderung! Ich musste improvisieren. Wie viele Minuten – oder waren es nur noch Sekunden? - hatte ich denn überhaupt noch, um ihm seinen Wunsch zu erfüllen? Rings um seinen Schädel fielen ihm nun büschelweise Haare aus. Sie fielen auf den wasserbedeckten Asphalt, wo sie Strähne für Strähne hinweggeschwemmt wurden. Mein Klon verwandelte sich vor meinen Augen in ein gekrümmtes Gerippe, überzogen von ausgedörrter, fleckiger Haut.
„Keine Ahnung! Essen finden wir zum Beispiel ganz toll, also wenn's schmeckt … Moment, ich habe noch eine angefangene Tüte NicNacs in der Manteltasche … Ach nee, ist leer.“
„Nahrungsverwertung ist völlig sinnlos, durch das rasante Wachstum hat mein Metabolismus auf Notfallchemosynthese umgestellt. Ich brauche was anderes! Schnell!“
Da hatte ich eine Eingebung. Einen Traum, den ich mir selbst nie getraut hatte, wahr werden zu lassen. Den Traum zu fliegen. Ich sagte zu dem Greis:
„Ich wüsste da was.“
Ich zeigte durch die Plexiglasscheibe hindurch den Abhang hinunter.
„Stell dich da hin, wo es den Hang runter geht. Du musst nur über die Balustrade klettern.“
Ohne zu fragen, gehorchte der alte Mann. Ich fürchtete schon, dass er die paar Meter um den Unterstand herum nicht mehr schaffen würde, zumal sein Humpeln jetzt schwerfälliger und langsamer geworden war. Doch er hatte noch die Energie eines Kindes. Mit seinen dürren Armen drückte er die noch dürreren Zweige neben dem Unterstand zur Seite, überwand die für diesen Ort lächerlich niedrige Brüstung und trat vorsichtig auf den schmalen Streifen zwischen Geländer und Abgrund. Seine bloßen Füße bohrten sich in das durch den Wolkenbruch zu Matsch gewordene Erdreich. Er drehte seinen kahlen, von Altersflecken übersäten Kopf zu mir hin und blickte mich mit einer Mischung aus Vorfreude und Ehrfurcht an.
Konnte ich das wirklich verantworten? In diesem Fall schon, entschied ich.
„Und jetzt … spring nach vorn!“
Ich hatte es unzählige Male in meiner Fantasie getan, und jetzt tat es das Wesen, aber ganz real. Mit der letzten Kraft, die seine Waden noch aufzubringen vermochten, schleuderte sich mein Klon hinaus ins Bodenlose. Nicht sehr weit zwar, und er war augenblicklich meinem Sichtfeld entschwunden. Doch ich meinte, durch das Prasseln des Regens ein Jauchzen gehört zu haben. Einen Moment lang fühlte ich mit dem Wesen, wie es zusammen mit den Regentropfen durch ein Stück des Himmels glitt. Vielleicht würde es den Aufprall auf dem Fluss gar nicht mehr mitbekommen, denn bei seinem Alterungstempo dürfte es ohnehin nur noch Sekunden gehabt haben. Würde mein Klon genauso schnell verwesen, wie er herangereift war? Ich stellte mir vor, wie sich sein Körper während des Sturzes auflöste und er wie aufgewirbelter Staub ein Stück weit über der Wasseroberfläche mit dem Regen tanzte, bevor sich seine Spur im Wind verlor. Fast hätte ich nachgesehen, ob und wo er gelandet wäre, aber dazu hätte ich raus an das Geländer gehen und mich vollkommen einweichen lassen müssen. Außerdem würde der Bus gleich kommen. Es würde nicht mal mehr für eine Kippe reichen. Dabei hätte ich jetzt dringend eine nötig gehabt! Da sah ich den Bus die Straße hinauffahren. Es grenzte an Gehässigkeit, wie er beim Bremsen volle Breitseite durch den Bach am Bordstein fuhr. Ich bekam zum zweiten Mal eine Dusche aus Gossenwasser. Ich fluchte leise und ermahnte mich, beim nächsten Dreckswetter nicht wieder meinen Schirm zu vergessen. Der Bus senkte sich ab und öffnete die Tür. Ich hastete die zwei Schritte durch den Regen ins Fahrzeug hinein und zückte mein Monatsticket. Als ich einen freien Sitz suchte, dachte ich nochmal an meinen Klon und dass er nicht lange genug existiert hatte, um je den Sonnenschein kennen gelernt zu haben. Trotzdem war ihm das so wunderbar egal gewesen! Ich hingegen hatte viele sonnige Tage gesehen, und dennoch erschien mir mein Himmel stets bewölkt. Vielleicht würde ich eines Tages meinem Klon folgen, einfach losfliegen vom Rand der Klippe und mich auflösen im Regen.
Ich strauchelte, als der Bus beschleunigte.

 

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