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Vier Komma Fünf

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30.09.2018
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Vier Komma Fünf


Für Sarah, über die man sehr wohl eine Geschichte schreiben kann.

Wir betreten das Restaurant und mein Gehirn springt in den Aufmerksamkeitsmodus. Was passiert wo? Wie viele Menschen sind anwesend? Wo ist die Dichte am größten und vor allem: Wo ist eigentlich unsere Gruppe? Ein Blick nach links erübrigt die laute Aussprache der Frage; durch das gekachelte Fenster sehe ich Max´s Kopfform und die blonden Haare, die mir verraten, dass Marie bei ihm ist. Der Kerl mit der Brille muss Lee sein; der einzige andere mit einer Brille bin nämlich ich und ich bin ja nun hier. Neben mir steht Felix, er scheint sich auf meine Beobachtungsgabe zu verlassen und wartet meine Reaktion ab. Früher hätte ich nie auch nur einen Fuß in ein Restaurant gesetzt, ohne nicht mindestens eine erwachsene Person bei mir zu haben. Aber jetzt setze ich mich in Bewegung, geradewegs auf den kleinen, abgeschiedenen Raum zu.


Als ich die Tür öffne, gibt mein Hirn Signal und ich verstehe sofort. Was ist anders? Kein Kellner, der uns zu unseren Plätzen führt, keine Kleingruppen, auf die ich zu warten und die ich zu uns zu weisen habe. Kein Eckplatz an der Wand, der in Frage kommen könnte, denn einer befindet sich direkt neben der Tür, in dessen Angeln ich gerade stehe, der andere am Fenster. So oder so: Man wird mich sehen können. Wenigstens ein Platz an der Wand? Dann müsste ich neben Marie sitzen. Gut, dafür hätte ich die anderen Tische im Blick.


Ich winkle meinen Arm leicht an und grüße; die anderen grüßen zurück. Ich blicke in die Runde. Marie, Lee, Max. Wie erwartet. Ich gehe in die Mitte des Raumes und verschaffe mir erneut einen Überblick über die Sitzgelegenheiten. Ich muss mich entscheiden. Mein Hirn scheint sich leicht zusammen zu ziehen; das Gefühl wird auch dann nicht besser, als ich mich auf einen Mittelplatz setze, der mir Sicht auf die Tür bietet. Ich ziehe meine Jacke aus und lege die Tasche aus Pferdefell auf meinen Schoß. Dabei merke ich, wie mein Beanie verrutscht. Es sitzt nicht gerade? Dann muss es weg. Ich fahre mir durch meine Haare und ärgere mich, dass ich die zwei letzten Stunden nicht mit Duschen verbracht habe. Hoffentlich fällt das niemandem auf. Ich prüfe die Lichtverhältnisse. Vielleicht habe ich Glück.


Ich merke, dass Max mich anspricht, reagiere aber nicht auf seinen Witz sondern versuche, mich an diesen Raum zu gewöhnen. Aus dem Augenwinkel bemerke ich jedoch, dass Marie lacht. Ich nehme das mittlerweile zweite, silberne Buch hervor, dann schließe ich die Augen. Das hat drei Gründe. Die Geschehnisse aus Berlin sind jetzt gute vier Wochen her und so ziemlich jeder ist sich einig gewesen, Marie´s Absturz unter den Tisch zu kehren. Ich habe mich darüber geärgert, an der Entscheidung allerdings auch nichts ändern können, weshalb sie letzten Endes auch durchgesetzt wurde. Und weil diese Erlebnisse trotzdem irgendwo hin mussten, habe ich sie ins Internet gestellt. Im Nachhinein nicht die beste Idee, einen Nervenzusammenbruch, einen Absturz und ein Liebesgeständnis für jeden zugänglich zu machen, zumal mich nur eines dieser Themen direkt betrifft. Trotzdem bereue ich meine Entscheidung nicht. Und das Feedback, sowohl im Internet als auch privat bestätigt mich. Aber jetzt sehe ich dieses Lachen, welches mir dann Klarheit gegeben hat, als ich psychisch dem Ende nahe war und ich will es nicht mehr sehen.


Zweitens kann ich mich jetzt auf die Physis des Raumes konzentrieren. Ich versuche, die Formen der Ausstattung zu erfühlen. Wie mit einem Scanner taste ich den Raum Zentimeter für Zentimeter ab, lausche aufmerksam allem, was in diesem Zimmer Geräusche macht. Als erstes bemerke ich Tische. Dann sind nur wenig Menschen in diesem Raum. Da ist Aschenbecher; gelöschte Zigarette. Ich atme einmal bewusst tief ein. Nein, die ist schon länger aus. Aber zumindest wird mir eine Sache jetzt klar. Ich sitze in einem Raucherzimmer. Aber da ist noch mehr. Bilder. Chaplin, wie ich später feststelle, neben anderen mir jedoch unbekannten Personen. Das letzte Bild, welches direkt vor mir hängt, habe ich schon beim Setzen bemerkt. Es ist der dritte Grund, weshalb ich meine Augen geschlossen halte. Es zeigt eine Weinflasche und der Titel, der sich durch das Bild zieht lässt mich paranoider Weise denken, jemand würde mich bewusst ärgern wollen. Im Ernst: Wer hat den Chardonnay da hingehangen?

Als ich meine Augen öffne, schaue ich zuerst auf die Tür, die sich gerade öffnet. Zwei Mädchen betreten das Zimmer, jünger als wir. Das sind diejenigen, die nach dieser Sitzung die Zeitungsgruppe verlassen. Sie wünschen uns einen guten Abend und wir erwidern den Gruß. Dabei fällt mir der nervöse Gesichtsausdruck der beiden auf. Sie gehen an mir vorbei und setzten sich auf die mit schwarzem Kunstleder gepolsterte Bank. Da stimmt was nicht, da muss wer anders sitzen. Aber dieser jemand ist noch nicht hier. Seltsam, sie weicht eigentlich nie von Marie´s Seite. Wollten sie nicht gemeinsam hier auftauchen? Ich gehe meine Erinnerungen durch. Hatte Marie ihr nicht vorgeschlagen, sie abzuholen? Doch! Ich bin mir sicher, dass das so war.


Max tippt mich erneut an und ich will ihn anschnauzen, dass ich seine Witze nicht hören will, doch besinne ich mich eines besseren; er bittet mich nur, den Tisch neben mir an den unseren zu ziehen, damit die beiden Mädchen sich setzen können. Ich tue wie mir geheißen, dann ordne ich meinen Platz. Da sich keine Wand rechts von mir befindet, kommen Buch und Handy diesmal in die linke Ecke, was mich leicht irritiert. Warum muss heute bloß alles so anders sein? Kein normaler Raum, keine normale Sitzordnung, kein normaler Platz, keine normale Anordnung der Gegenstände...Mein Gehirn verkrampft etwas mehr und ich versuche, es zurechtzuweisen. Dann schaue ich erneut zur Tür und warte.


Nach meiner Rechnung fehlen 5 Personen. Herr Achzieger kommt nicht, macht 4. Dann fehlen jetzt nur noch unsere Lehrkraft, die zwei Jungs und sie. Glücklicherweise darf ich meiner Rechnung -1 hinzufügen, denn die Tür fliegt auf und herein kommt eine Frau mittleren Alters mit mausgrauem Haar. Das ist Frau Brinkmann, die Leiterin der Zeitungsgruppe und nebenbei auch meine Deutschlehrerin. Eine sehr gute Deutschlehrerin. Ich hatte bisher nur zwei schlechte Deutschlehrkräfte, ansonsten hatte ich immer Glück. An mein erstes Jahr Grundschule kann ich mich nur bedingt erinnern. Ich weiß nur, dass ich Max da kennengelernt habe. Die folgenden 5 Jahre war meine Deutschlehrerin meine Lieblingslehrkraft. In der Unterstufe am Gymnasium hatte ich Herrn Bock, der zwar sehr streng aber dafür lustig war. Seinen Merksatz über Präpositionen habe ich immernoch im Kopf. Leise flüstere ich die Worte: “Ohne Präposition wäre der Satz: Ohne Präposition wäre der Satz nicht möglich. nicht möglich.”, und lache dabei kurz auf. “Was?”, fragt Max. “Nichts”, antworte ich.


In der Mittelstufe hatte ich mehrere Deutschlehrer. Da war die eine, über die sich alle lustig gemacht haben, weil sie etwas rundlicher war. Ich mochte sie ebenfalls nicht, das hatte aber nichts mit ihrem Aussehen zu tun. Mir ging diese schmierige Stimme gegen den Strich, und ihre Art zu reden. Ich rufe alte Erinnerungen wach und höre eine Stimme, die eher bei Babys als bei Jugendlichen angebracht wäre. Aber wer bin ich, das zu beurteilen? Danach hatten wir den besten Deutschlehrer überhaupt. Herrn Engel. Er wirkte zwar immer etwas verpeilt, hatte aber trotzdem Ahnung, von dem, was er sagte. Seine Unterrichtsmethoden waren die besten, die ich bisher miterlebt habe und den Tee, den er uns in den letzten Stunden mitbrachte, trinke ich immer noch sehr gerne. Und er mochte David Bowie. Einmal kam er in die Klasse gesprintet und hat “ WE COULD BE HEROES!” gebrüllt. Ich habe dann “JUST FOR ONE DAY!” zurück gebrüllt. Einen Monat vor Mittelstufenabschluss verschwand Herr Engel allerdings spurlos und wir bekamen eine sehr verbitterte, junge Lehrerin, die ich absolut nicht ausstehen kann. Das mag damit zusammenhängen, dass sie meine Familie für bekloppt hält. Jedenfalls hat sie alles, was Herr Engel groß gemacht hat über Bord geworfen und den schrecklichsten Unterricht aller Zeiten gehalten und das sage ich als jemand, der Mathematik absolut nicht ausstehen kann. Zum Glück kamen dann schon bald die Ferien. Wobei...Glück war das vielleicht doch nicht so wirklich. Schließlich habe ich da erfahren, dass…


“Wollen wir anfangen?”, fragt Frau Brinkmann und reißt mich aus meinen Erinnerungen. “Sarah fehlt noch”, sagen Marie und ich gleichzeitig. Sie lächelt mir kurz zu. “Dann warten wir noch.” Wo bleibt sie denn? Ich schaue in die Runde. Max, Lee und Felix blödeln mit einer Serviette herum. Marie lacht. Die beiden Mädchen, zwei Jahrgänge unter mir unterhalten sich, scheinen aber nicht mehr so nervös wie vorhin. Neben ihnen befindet sich ein kleines Fenster, hinter dem sich die Veranda befindet, von der aus Felix und ich das Restaurant betreten haben. Jetzt steht da ein Mann, kahl geschorener Kopf, Lederjacke, Vaporizer am Mund. Als er ihn wegnimmt, bläst er eine große, weiße Wolke Dampf in den schwarzen Himmel. Ich halte instinktiv die Luft an, bis ich merke, dass ich diese ja gar nicht einatmen kann, er ist draußen und ich bin hier drin. Normalerweise halte ich immer die Luft an, wenn mir jemand mit einem Vaporizer begegnet. Ich drehe den Kopf weg und sehe die drei leeren Plätze. Hoffentlich sind es bald nur noch zwei. Ich schaue aus der großen Fensterfront, die die Außenwand ersetzt. Autos. Menschen. Fahrräder. Da steht meins. Dann schaue ich zu Frau Brinkmann. Sie hat sich derweilen ihren Beutel genommen und auf dem Tisch neben mir entleert. Kleine, farbige Karten, Permanentmarker...ich ahne, was gleich passieren wird. Aufregen kann ich mich darüber nicht, denn endlich öffnet sich die Tür ein letztes mal.


Ein Mädchen betritt den Raum. Durchschnittlich groß, dunkelbraune Haare, nussbraune Augen, spitze Nase. Sarah. Ich atme erleichtert, jetzt sind zumindest alle aus der EC da und Marie ist nicht mehr alleine. Marie´s Augen leuchten auf, als sie sie bemerkt und begrüßt sie. Max, Lee und Felix heben gleichzeitig die Hand. “Jetzt sind wir aber komplett”, sagt Frau Brinkmann freudig und begrüßt Sarah mit einem Händedruck. Ich brauche eine Weile, bis ich alle Eindrücke geordnet habe. Nein, es fehlen zwei Jungen, der Händedruck scheint nicht fest gewesen zu sein; dass hätte man an den Adern auf dem Handrücken gesehen, das Pärchen in der Ecke lacht und Max macht wieder einen dummen Witz. “Dann können wir anfangen.” Sarah geht an den Tischen vorbei zum Fenster und setzt sich neben die beiden Mädchen. Das Bild, was sich mir offenbart, hat etwas Melancholisches. Ein Mädchen, dass an einem Tisch, der leicht abseits der anderen steht und nicht neben ihrer besten Freundin sitzt…”Du sitzt so isoliert, lass uns doch den Tisch hier mit ranholen.” Kaum hat Frau Brinkmann das ausgesprochen, da stehen die beiden Mädchen und ich auch schon am Tisch und ziehen ihn zu uns. Ich blicke auf und warte eine Reaktion ab. Sarahs Gesicht ist puterrot angelaufen. “Das war schon okay so”, meint sie und schaut verschämt zu uns. Sie ist bescheiden, das sind nicht viele Menschen. Und nett ist sie.


Frau Brinkmann ignoriert sie und richtet das Wort nun an alle. “Ich will sie zunächst mal alle begrüßen zu unserer Sitzung im neuen Schuljahr und auch der letzten Sitzung, der diese beiden beiwohnen werden.”. Sie weist auf die beiden Mädchen. “Die beiden machen das jetzt schon drei Jahre sehr engagiert und haben sich nun berechtigterweise dazu entschlossen, aufzuhören.” Dabei greift sie in die Tasche und holt zwei rote Pralinenschachteln hervor. “Und dafür möchte ich mich bedanken.” Sie reicht sie den beiden und lächelt, Max klatscht kurz. “So, nichtsdestotrotz sind die beiden hier, obwohl sie morgen früh eine Deutscharbeit bei mir schreiben.”


“Sind sie nun vollständig?” Eine relativ junge Kellnerin kommt ins Zimmer und lacht leicht verdutzt, als sie uns sieht. “Ja, es sind alle da”, antwortet Frau Brinkmann. “Darfs denn schon was zu trinken sein?” Mir fällt auf, dass ich die Speisekarte bisher noch nicht mal angefasst habe und ziehe sie zu mir heran. “Keinen Wein”, ruft Lee und lacht. Sofort verkrampft mein Kopf und ich starre auf das Bild vor mir. “Ein stilles Wasser”, meine ich und meine Laune sinkt rapide. Die erste Runde Getränke bezahlt Frau Brinkmann, alles andere geht auf unsere Rechnung. Die Kellnerin bedankt sich und verlässt den Raum mit drei Colas, vier Wasser, einer Rhabarberschorle und einem Bitter Lemon auf ihrer Liste. Und mir wird klar, was ich gleich zu essen bestelle. Ich erinnere mich an das Restaurant in Berlin zurück und ein kleiner Kloß setzt sich in meinem Hals fest. Ich blicke zu Marie. Sie lacht immer noch. Ich reiße mich zusammen und schlucke den Druck in meinem Rachen herunter. Ich spüre ein Augenpaar auf mir und sehe mich um, finde aber niemanden, der mich anschaut. Ich muss mich geirrt haben.


Gegen viertel nach sieben kommt die Kellnerin mit unseren Getränken zurück, hat aber Begleitung dabei, welche sich als relativ unfreundlich herausstellt. Sie nimmt meine Wasserflasche vom Tablett und knallt sie ohne Untersetzer auf den Tisch. Ich sage nichts. Ich bin ohnehin sehr ruhig, da ich mit Schreiben beschäftigt bin. Neben privaten Eintragungen in mein Buch, führe ich jetzt nämlich auch Protokoll. Ich lausche den Gesprächen der anderen, lache hier und da über den einen oder anderen Witz und wundere mich dann, warum ich das tue. Das Gefühl, beobachtet zu werden kommt dabei auch ein paar Mal auf, verfliegt aber immer dann, wenn ich mich nach einem aufleuchtenden Augenpaar umsehe. Ich nehme mir die Flasche, öffne sie und fülle mein Glas bis zur Hälfte. Es ist ein einfaches Cola-Glas, welches man auch zuhause stehen haben könnte. Erneut erinnere ich mich an das Restaurant in Berlin zurück, an das Weinglas, welches man mir brachte und verweile einen Moment in meinen Gedanken dort. Schließlich nehme ich voller Hoffnung einen Schluck aus dem Glas. Tatsächlich. Da ist dieses Gefühl wieder. Kalte Flüssigkeit, die sich auf den Lippen ausbreitet. ”Wissen sie schon, was sie essen möchten?”, fragt die Kellnerin uns von der Seite. Ich bleibe bei meinem Entschluss; die haben da zwar Schnitzel Wiener Art, meine Leibspeise aber ich möchte dieses Bild, dieses Gefühl nicht kaputt machen. Obwohl mein Hirn in meinem Kopf auf Hochtouren arbeitet, bin ich tiefenentspannt. Ich erfreue mich an dem Gedanken, dass das hier nicht Berlin ist; dass ich mich in guter Gesellschaft befinde. Selbst wenn ich es versuchen würde, ich könnte nicht aufhören, stumm in mich hinein zu lächeln. Und doch liegt da diese gewisse Melancholie in der Luft.


Um 19:20 Uhr teilt Frau Brinkmann schließlich die bunten Papierkärtchen aus, gibt jedem einen Marker und bittet uns, Gedanken und Vorschläge aufzuschreiben. Sofort höre ich die Fasern übers Papier kratzen, trotz der Musik und den Gesprächen an den anderen Tischen, kann ich dieses helle Schaben der Stifte vernehmen. Aber ich schreibe nichts. Mir fällt nichts ein. Also frage ich mich, warum ich überhaupt hier bin. Weil ich in der Zeitungsgruppe bin. Ich bin immer Mittwochs dafür zuständig, dass die Zeitungen, die ins Sekretariat geliefert werden, schließlich auf den Tischen in der Zeitungsecke neben der Cafeteria landen und die alten in einer Kiste im Regal neben dem Sofa dort verschwinden. Aber darüber brauche ich nicht nachzudenken. Diese Aufgabe ist eine der einfachsten, die es gibt. Selbst in Videospielen sind Lieferquests, bei denen man ein Objekt von Punkt A zu Punkt B bringt, die am schlechtesten bezahlten, weil sie so stupide sind. Ich mache das, weil ich sonst nichts zu tun habe. Aber ich wünsche mir dafür nichts. Ich habe keine Erwartungen an dieses Projekt, was nicht heißen soll, dass ich es nicht gut finde. Es ist eben einfach existent und ich bin ein Teil davon. Also bleibt mein Zettel leer.


Unser Essen kommt einundzwanzig Minuten nach der Bestellung und wir müssen unsere Besprechung pausieren. Die beiden Mädchen aus dem achten Jahrgang haben nichts bestellt. Max hingegen hat sich ein Hamburger Schnitzel mit Pommes bestellt, welches sogar noch ein weiteres mal auf dem Tisch landet. Neidisch werfe ich einen Blick zum Fleisch hinüber und sehe, wie Marie sich eine Pommes von seinem Teller nimmt und lachend aufisst, werde dann aber von meinem Essen abgelenkt. Ein verdammt großer Teller wird in den Raum getragen und vor mir serviert. Darauf befindet sich eine Pizza. Ich habe in Berlin das erste mal eine Pizza im Restaurant gegessen und erinnere mich, wie riesig die war. Aber jetzt schaue ich auf den Teller vor mir und ahne, dass ich meine These von der größten Pizza der Welt widerrufen muss. Das Ding ist riesig. Also so richtig riesig. Ich lege mein Buch und Kugelschreiber auf meinen Schoß, damit ich über meine Maxi-Pizza Hawaii herfallen kann. Doch ich merke schnell, dass das nichts wird. Der Anfang ist immer das schwerste beim Pizza essen. Wenn der Teig zu hart ist, bekommt man die Pizza nicht ordentlich aufgeteilt. Und dieses Problem habe ich jetzt. Also pule ich die Ananas von der Platte aus Teig, rolle die Schinkenstückchen zusammen und überlege, wie groß der Umfang dieser Pizza sein muss.


Jetzt erst, nach einer gefühlten Ewigkeit der Ungewissheit habe ich sie gefunden. Die Quelle der Sirenengeräusche draußen auf der Straße, die mein Hirn seit genau siebzehn Sekunden fordern. Ein Krankenwagen jagt an der Fensterfront vorbei und blendet mich mit seinem Blaulicht. Frau Brinkmann hat gerade die Aufgaben neu verteilt. Ich bin jetzt immer montags für die Zeitungen zuständig. Max eigentlich auch, aber da ich ihm so gut wie möglich aus dem Weg gehen möchte, habe ich mir vorgenommen, die Zeitungen immer als erster abzuholen und wegzubringen. Desweiteren ist meine Aufgabe, die Müllbox im Regal zu entleeren, jetzt an Sarah und Marie weitergegeben worden. Max, der am Montag zu Ikea geht, sucht nach einer neuen Couch und Marie bringt wohl Zeitschriften mit. “Was denn für Zeitschriften?”, hat Frau Brinkmann gefragt. “Öh...alles Mögliche eigentlich. Mode, Gaming…”. An der Stelle habe ich dann ausgesetzt, weil ich Marie eigentlich nicht für eine Zockerin gehalten hätte und diese Information zu viel war. Jetzt sitzen sie alle auf ihren Plätzen und schauen auf ihre Handys. Schade eigentlich. Sie unterhalten sich zwar, schauen sich aber nicht an. Ich muss mich daran erinnern, dass ich das auch kaum mache aber ohnehin nur ungerne Gespräche führe und deshalb nur ungerne Augenkontakt halte. Ob das eine Ausrede ist? Apropos reden. Neben mir ist noch eine andere Person unnormal still. Sarah, die meiner Meinung nach immernoch zu weit abseits sitzt, schaut ebenfalls auf ihr Handy, sagt aber kein Wort. Ich erinnere mich daran, dass sie mit Marie etwas später in die Klasse kam und mich beschleicht erneut dieses seltsame Gefühl, was ich da schon hatte. Die beiden sind offensichtlich beste Freundinnen, allerdings wirkt Marie lebhafter und aktiver. Ich stelle mir ein Szenario vor, in dem Sarah nur als Maries Schatten durch die Gegend wandelt und bin erschüttert, wie stark sich dieses Bild in meinem Kopf schon festgesetzt hat. Daran muss ich etwas ändern.


Ich muss gestarrt haben. Ich muss unweigerlich gestarrt haben, ansonsten würde sie mich nicht so angucken und mir zuwinken. Es ist eines dieser Zwei-Sekunden-Lächeln, dass sie mir schenkt. Eines dieser Lächeln, bei denen die Personen die Wangenknochen hochzieht, sodass es nur wie ein Lächeln aussieht. Am besten noch ein Doppelpeace dazu und das Bild eines Menschen, der Nervosität und Angespanntheit überspielen will ist komplett. ”Könntet ihr die Handys nicht für heute Abend wegtun?”, fragt Frau Brinkmann und ich bin froh, dass sie das ausspricht. Erstens, weil dieser Abend nicht dazu gedacht ist und zweitens, weil mich dieser Satz von Sarah und damit von meiner unangenehmen Gedankenschleife ablenkt. Ich beschäftige mich mit zu vielen Dingen, die irrelevant sind, zumindest sagt das mein Vater immer. Ob das Unwohlsein eines Mitmenschen irrelevant ist?


Die eigentliche Sitzung ist beendet; alles, was jetzt noch passiert, sind Privatgespräche. Ich bin in sowas nicht gut, deshalb schreibe ich einfach weiter in mein Buch, was um mich herum passiert. Das geht solange, bis ich ein Wort von meiner Seite vernehme. Klassenfahrt. Ein Schock durchfährt mich und mein Kopf droht, zu implodieren. Wieder Berlin. Warum nur immer Berlin?


Stop. Die Welt um mich herum verstummt und ich höre nur noch mich selbst in meinen Gedanken. Es gab auch noch andere Klassenfahrten. Ich überlege einen Moment. Ich habe Recht. “Felix, wie hieß der Ort mit dem Windsurfen und Segeln, wo wir waren?”, frage ich, ohne zu beachten, dass er eigentlich etwas sagt. Er braucht einen Moment, um zu verstehen, dass ich mit ihm spreche. “Heiligenhafen”, antwortet Max. Ich frage nicht, warum er das weiß; zu dem Zeitpunkt war er noch gar nicht in unserer Klasse, geschweige denn auf unserer Schule . Ich erinnere mich an den See mit dem Kiesstrand, der Holzhütte, in der sie die Tests geschrieben haben, die Neoprenanzüge, die immer nass gerochen haben, die kalten Klamotten. Samir.


Ich weiß noch, dass ich auf dem Steg gesessen und gemalt habe. Auf dem See haben sich die Kajaks wie kleine, schwimmende Bananen hin und her bewegt. Und irgendwann hat sich eins nicht mehr bewegt. Dafür aber die Person darin. Das war Samir, der mit den Armen gewedelt hat, um auf sich aufmerksam zu machen. Als ich dann schließlich verstanden habe, dass er da nicht mehr wegkommt, habe ich mir selbst ein Kajak geschnappt und bin rausgerudert, mit dem Plan, sein Boot an meins zu binden und ihn mit an Land zu ziehen. Dummerweise hab ich das Seil vergessen. Das ist mir aber erst dann aufgefallen, als ich eins gesucht habe. Die Kajaks hatten kleine Seile am Kiel festgeknotet; die hatte ich dann benutzen wollen aber die Knoten gingen nicht auf. Also hab ich das einzige gemacht, was mir einfiel. Ich habe Samir gesagt, er solle mein Boot an der Leine festhalten und unter keinen Umständen loslassen. Dann bin ich aus meinem Kajak und ins eiskalte Wasser geklettert, hab dann die Leine an seinem Boot festgehalten und versucht, uns schwimmend an Land zu ziehen. Im Nachhinein wäre es schlauer gewesen, zurück zu paddeln und den Rettungstypen zu holen aber auf die Idee bin ich irgendwie nicht gekommen. Den Rest kann man sich denken. Hat etwas länger gedauert und als wir dann endlich an Land waren, war mir so kalt, dass ich meine Beine nicht mehr gespürt und mich in die Toilette übergeben habe. Lee und die anderen haben mich dann als “Helden” gefeiert. Hat sich aber irgendwie nicht so angefühlt.


Frau Brinkmann ist bereits gegangen und nun verabschieden sich auch die beiden Achtklässlerinnen. Trotzdem habe ich noch ein Fünftel meiner Pizza übrig, die mittlerweile kalt geworden ist. Nachdem sie den Raum verlassen haben, bemerke ich, dass mich wieder jemand anzustarren scheint. Aber diesmal bin ich schlauer. Wer auch immer mich da anstarrt, die Person ist so schnell, dass sie immer dann wegschaut, wenn ich nach ihrem Blick suche. Also muss ich mich vorbereiten und schneller sein. Das geht aber nur, wenn ich weiß, wohin ich gucken muss. Das wiederum bekomme ich aber nur hin, wenn ich eine Ahnung habe, wer mich denn da anschaut. Es ist paradox. Also das Ausschlussverfahren. Mein Hirn krampft ein bisschen vor sich hin und es kribbelt unangenehm in meinem Kopf, als ich beginne, mir so unauffällig wie möglich einen Überblick zu verschaffen. Zu meiner Linken sitzen Max und Lee, ihnen gegenüber Marie und Felix. Sie bewegen sich hin und wieder ein bisschen. Direkt vor und rechts von mir sitzt niemand, allerdings sitzt Sarah mir schräg gegenüber. Sie bewegt sich nicht, aber ich kann ein Handy ausmachen. Ob mich jemand von hinten anstarrt? Wo sitzen denn Menschen? Links hinter mir sitzen die meisten. Ich überlege. Menschen in Gruppen würden nur jemanden anstarren, wenn sie über ihn reden. Aber was ich vernehmen kann, sind laute Gespräche über Fußball. Also rechts. Ich bereite mich vor. Ich entspanne mein Genick, damit es nicht allzu sehr leidet, wenn ich es gleich herumreiße. Ich zähle runter. Drei. Ich schließe die Augen. Zwei. Ich konzentriere mich auf die Richtung, in die ich gleich schauen werde. Eins. Ich reiße die Augen auf und bewege meinen Kopf nach rechts. Null.


Ich starre in zwei haselnussbraune Augen, mir schräg gegenüber. Sarah schaut mich etwas verdutzt an, setzt dann aber sofort ihr Lächeln auf und scheint so zu tun, als wäre nichts gewesen. Aber dieses Spiel spiele ich nicht mit. Ich vergewissere mich, dass auch wirklich niemand anderes zu mir schaut. “Jetzt kannst du dich aber mit zu uns setzen”, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. “Ja, jetzt schon”, sagt sie und betont das JETZT, als würde sie auf etwas Offensichtliches hinweisen wollen. Als ich das bemerke, muss ich an Lightman denken. “LIE TO ME” hat mich fast alles gelehrt, was ich über Verhalten weiß, früher konnte ich das nicht. Lightman hat die Körpersprache beobachtet, um zu erkennen, wer was denkt; Foster die Sprache. Das zusammen mit meinen Beobachtungen haben es einfacher gemacht, mit ihnen zu reden. Aber gerade will ich wissen, warum sie das macht. Da ist nur Lightman wichtig. Ich beobachte Sarah, wie sie ihre Sachen nimmt, sich aufrichtet und zu Marie rutscht. Siebeneinhalb Sekunden. Das ist verhältnismäßig langsam. Nun sitzt Sarah mir genau gegenüber. “Hi.”, sagt sie.


“Na wie gehts?”, sage ich, immer noch mein aufgesetztes Lächeln tragend. “Joa”, antwortet sie und zuckt mit den Achseln. In ihrem Gesicht regt sich nichts. “Muss ja.” Sie wirkt so unentspannt. “Schmeckt´s?”, fragt sie und weist auf das, was von meiner Pizza noch übrig ist. “Ist halt kalt, ne?”, antworte ich und starre auf den Teller. Smalltalk liegt mir nicht. War ne doofe Idee, sie herzuholen. Also nehme ich mir mein Buch und schreibe ein paar Zeilen. “Was schreibst du da?”, fragt sie. Sie zieht die Stimme am Ende nach oben: Frage. Betonung auf Tätigkeit: Interesse. Ich blicke auf und schaue sie an. Sie guckt auf das Buch, Augenbrauen hochgezogen, aber keine Skepsis. Sie möchte wirklich wissen, was ich da mache. Ich tue ihr den Gefallen. “Ich dokumentiere den Tag”, sage ich. “Machst du das immer, wenn du da rein schreibst?” Sie zeigt tatsächlich Interesse. Das beruhigt mich ein bisschen. Jetzt habe ich zumindest ihre Intentionen herausgefunden. Ich wäge ab. Darf sie wissen, was ich tue. “Ich schreibe prinzipiell alles auf, was in meinem Kopf vor sich geht”, gebe ich zur Antwort. “Warum das?” Jetzt ist es Skepsis. “Weil es mir beim Verarbeiten von Dingen hilft. Und so kann ich mich an Dinge erinnern, die ich vergessen habe, das mache ich nämlich sehr gerne.” “Du schreibst alles auf?”, immer noch Skepsis, aber die Stimme geht tiefer. “Ja, alles.” “Auch in Berlin?” Ich schrecke auf und sehe ihr direkt in die Augen. “Ja.”, widerhole ich. “Das hat dir bei der Geschichte geholfen, oder?” Jetzt starre ich. Ich weiß zwar, dass sie CHARDONNAY gelesen hat, sie hatte mich nämlich gebeten, ihr die Geschichte per WhatsApp zu schicken, und ich habe auch ihr Feedback gelesen aber dass sie die Geschichte so offen anspricht, überrascht mich. “Was?”, antworte ich und nehme einen Schluck Wasser. “Na die Geschichte über den Abend und Marie.” Ich verschlucke mich und überhöre dabei fast, dass Marie sich einschaltet :“Was ist mit mir?”, fragt sie; ein Gesicht aufsetzt, als wäre sie ein kleines Kind, dem gerade “die Nase weggenommen” wurde. Ein dummes Spiel, welches ich nie verstanden habe. “Nichts”, pruste ich. Aber ich kann sie nicht anlügen. “Wir haben nur über die Geschichte geredet, die ich neulich vorgelesen habe.” Auch Marie kenn die Geschichte. Sie wollte am Montag von mir wissen, wie sie die eine Nacht in Berlin drauf war, also habe ich ihr und Sarah die Geschichte vorgelesen und alles weggelassen, was sie nicht hören musste. Größtenteils, weil ich nicht wusste, wie sie reagiert, wenn ich sage, dass ich ihre Leiden miterlebt habe und zum Beispiel die tote Katze anspreche. Den Teil mit Max habe ich natürlich auch nicht erwähnt. Aber Sarah weiß davon, und wir waren uns einig, dass wir das nicht ansprechen sollten. Ich weiß, dass sie dieses Geheimnis für sich behält. “Über Berlin?” “Ja.” “Wo ich nicht drin vorkam?”, fragt Felix und nervt mich damit ungemein.


Ich weiß, dass Sarah mich nicht in diese Lage bringen will; sie ist viel zu nett, um das zu wollen. Außerdem weiß sie nicht, dass mich sowas unter Druck setzt. Also atme ich einmal tief durch und antworte. “Ich habe ein paar Dinge ausgelassen, auch beim Vorlesen aber das wisst ihr ja.” Ich erinnere mich daran, wie die Traube um mich herum immer größer und die Stimmen immer lauter wurden. Das Ende haben sie alle nicht mehr mitbekommen. “Auch über mich?”, fragt Marie. “Gerade beim Vorlesen ja, aber ich habe dir gesagt, warum.” “Aber ich will das wissen.”, sagt sie. Ich blicke zu Sarah. Besorgnis und Schuld. Derselbe Blick wie in der S-Bahn in Berlin, als wir uns verfahren hatten und sie mir vorher noch versichert hatte, dass sie uns sicher zum GENERATOR bringt. Sie hat mir so leid getan, dass ich meine Panik in der Bahn kaum bemerkt habe. Und das, obwohl die Bahn so voll war. Genauso guckt sie mich jetzt an. Also reagiere ich. “Also gut.” Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Ich beginne, zu schwitzen. “Du hast ja gehört, dass das auch für mich kein leichter Abend war. Und bei der einen Stelle, ich saß halt wirklich nicht mehr im Restaurant. Ich war halt wirklich nicht mehr da, sondern unten in der…”, ich unterbreche den Satz, hole Luft und beginne einen neuen. “Ich weiß ja nicht mal...ich glaube nicht, dass das in der Lobby gewesen ist, ihr könnt ja auch oben gesessen haben.” “Ja, wir waren oben” antwortet Sarah. “Aha, dachte ich mir schon fast.”, sage ich. “So aber ich hab das halt so gesehen. Ich habe das wirklich gesehen, das mit der Katze und der…” “Okay ich habe verstanden.”, sagt Marie und schaut auf den Boden. “Tut mir leid”, sage ich. Ich beuge mich vor. “Genau deswegen habe ich das ausgelassen. Mir war klar, dass du damit Probleme hast und ich muss ja nicht zusätzlich Öl ins Feuer kippen.” “Ist gut. Danke”, sagt sie und beginnt wieder zu lächeln. Auch Sarahs Gesichtszüge entspannen sich. Ich nicke ihr zu. Glück gehabt. Sie versteht.


“Steht da auch was über mich drin?”, fragt Sarah und weist erneut auf das silberne Buch. “Da noch nicht, das ist das zweite davon” “DAS ZWEITE !?”, sie guckt mich überrascht an und zieht die Augenbrauen nach oben. Kein Beigeschmack von Skepsis. “Von den silbernen. Ich hab noch welche mit Kork-Umschlägen, insgesamt habe ich also locker sechs oder sieben.” Sie beugt sich nach vorne und zieht die Augenbrauen noch weiter nach oben. Dann macht sie ein übertrieben beeindrucktes Gesicht und zieht die Lippen dabei ganz seltsam zusammen. Das typische PROPS-GEHEN-RAUS-DAFÜR-Gesicht. Ich habe mal nachgeschaut, was das bedeutet und herausgefunden, dass Probs soviel wie “propper respekt” also Anerkennung bedeutet. Ich habe danach die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und mich gefragt, wer zur Hölle sich sowas ausdenkt. Aber es stört mich schon länger nicht mehr, weswegen es nur leicht an meiner Schläfe ziept, als ich ihren Gesichtsausdruck deute. “Und wie lange machst du das schon?” “Was soll denn die ganze Fragerei?”, werfe ich zurück. “Wie lange?”, fragt sie erneut und lacht. Früher hätte ich das nicht verstanden und ihr gesagt, wie unhöflich sowas ist. Aber heute weiß ich, wie sie das meint. Und als ich bemerke, dass sie an der Rückenlehne der Bank lehnt und feststelle, dass sie jetzt wesentlich entspannter als noch vor einer Stunde ist, gebe ich ohne Bedenken Antwort. “Das dürfte jetzt...joa...ein Jahr wirds schon sein.” “Krass. Wie kommts?” Bei der Frage muss ich schlucken. Ich weiß nicht, ob ich ihr das sagen möchte. Ich kenne Sarah noch nicht so lange, eigentlich gar nicht. Andererseits fällt mir kein anderes Gegenargument ein und nett ist sie schließlich auch. Ich beschließe, ihr eine ehrliche Antwort zu geben. “So lange ging meine letzte Therapie.” “Wieso ging?” “Ist gar nicht so lange her, da habe ich sie freiwillig abgebrochen.” “Und was hat das mit den Büchern zu tun?” “Meine Psychotante hat gesagt, ich sollte das probieren. Und weil ich dann eins zum Geburtstag bekommen habe, hat sich das super ergänzt.” “Stimmt, das passt dann natürlich gut”, gibt sie zu und mir fällt auf, wie angenehm ihre Stimme eigentlich ist. Früher hätte ich ihr das sofort gesagt. Ich habe nur leider gelernt, dass Menschen, vor allem Jugendliche und da vor allem Mädchen auf Komplimente nicht immer wie gewollt reagieren. Ich habe mal einem Mädchen gesagt, dass es schöne Augen hat, ich hatte vorher nämlich noch nie so blaue Augen gesehen. Ich hab erst später verstanden, warum sie mir eine feuern wollte und es für sinnbefreit gehalten. Aber wenn Menschen so reagieren, dann soll es so sein. “Und auch, wenn ich jetzt ausgestiegen bin, ich sehe keinen Grund, damit aufzuhören.” Sarah nickt. “Meine Bücher sind sowas wie mein zweites Gehirn geworden.” “Darf ich mal reingucken?” Ich atme tief durch. Ich mache heute echt so einige Feuertaufen durch. Aber da mir wieder keine Gegenargumente einfallen und ich ihr schon von der Therapie erzählt habe, erscheint mir ablehnen irrational. “Na gut. Klar” sage ich und versuche, zu lächeln. Ich klappe das Buch zu und reiche es Sarah. “Ach so, ihr gibst du es einfach aber ich darf nicht mal kurz reinschauen? Ich verstehe, ICH VERSTEHE!”, sagt Max laut und das Pärchen, dass ich vor einer halben Stunde im Verdacht hatte, es würde mich anstarren, dreht sich verstört nach ihm um. Heute verstehe ich, wie er das meint. Aber mich stört, dass er nicht versteht, wie schwer es für mich ist, es aus der Hand zu geben. Er ist eben ein Idiot denke ich mir, erinnere mich an Berlin und unsere Treffen jeden morgen vor Felix´s Haus, bei denen er immer mindestens eine Zigarette raucht und muss mir vor Schmerzen an den Kopf fassen, weil mein Hirn schon wieder verrückt spielt. “Alles gut?”, fragt Sarah und schaut vom Buch auf. “Geht schon. Sag mal, die Bilder von Berlin kennst du noch nicht, oder?”, frage ich und gebe es auf, dieses Thema aus meinem Kopf zu verbannen; es lässt mich doch eh nicht los. “Nee, die kenn ich nich, außer halt die von meiner Kamera.” Ich muss kurz kichern. Sarah ist nämlich verdammt gut in Fotografie und hat auch sonst ein Händchen für Kunst. Das habe ich deshalb bemerkt, weil ich sie unter psychischen Anstrengungen gebeten habe, mir die SD-Karte auszuleihen, damit ich die Bilder, von denen ich bestimmt die Hälfte geschossen habe, in mein Google-Fotos-Album packen kann. Neben den Berlin-Aufnahmen gab es aber auch noch vier andere Bilder. Ein Buch, aufgeschlagen, mit einer Farbzeichnung und Anspitzerspähne auf den Seiten. Ein simples Motiv, eine fantastische Wirkung. Da es aber nicht meine Aufnahmen waren und ich nur nach Berlinbildern gefragt habe, habe ich sie nicht mit kopiert, auch, wenn ich zugeben muss, dass ich darüber nachgedacht habe.


Ich nehme mein Handy zur Hand und öffne Google-Fotos. Ich navigiere zu meinen Alben und tippe auf das mit dem Klassenfoto, das wir auf dem Bundestag gemacht haben. Das Album öffnet sich und der Titel springt mir entgegen. “BERLIN - DER HORROR MIT LICHTBLICKEN”

Ich drehe das Display zu Sarah und zeige ihr die Bilder; Marie bemerkt das und neigt sich zu ihr, um die sie ebenfalls erkennen zu können. Max, Felix und Lee singen derweil zu einem Lied, das im Radio läuft und ich schaue ihnen dabei zu, wie sie auf ihren Plätzen im Takt wanken. Wüsste ich nicht, dass sie keinen Alkohol getrunken haben, hätte ich sofort darauf getippt.


Als ich merke, dass Sarah sich die Bilder nicht mehr anschaut sondern etwas in mein Buch schreibt, schalte ich das Handy aus und lege es an seinen Platz zurück. “Wow, jetzt darf sie da auch noch reinschreiben. Also wirklich. 10 Jahre. 10 JAHRE!!” Max macht es schon wieder und ich muss mich zurückhalten, ihn nicht zu beschimpfen. “Achso, ich dachte...also wenn das nicht…” “Nee, is okay. Mach nur”, sage ich und merke, wie ich Max ärgern will. Ich tue nur noch selten mir irrational erscheinende Dinge, eben weil sie irrational und damit überflüssig sind. Früher war das schlimmer. Zu Max Verteidigung muss ich aber sagen, dass, wenn ich früher so ein Buch gehabt hätte, es womöglich nie aus den Händen gegeben hätte. Und wenn er es nicht aus Spaß sagen würde, könnte ich sein Argument, dass wir uns 10 Jahre lang kennen auch verstehen. “Ich schaue auf die Uhr meines Handys. “Kannst du kurz noch was für mich aufschreiben?”, frage ich Sarah. Sie nickt. “Wir sind schon zwei Stunden hier.” Sie schreibt es auf und beginnt dann, die Seite mit kleinen Kringeln zu bemalen. Ich schaue ihr dabei zu, wie ihre Hand die immer selben Bewegungen ausführt. Hat was hypnotisches.


Dann fällt mir etwas auf. “Wir müssten dann vielleicht mal zahlen. Mit Rechnung und allem.” Mama hat mir 20 Euro mitgegeben, das reicht gleich zwei Mal für meine Pizza, die ich nun endlich komplett vertilgt habe. Aber um die Preise mache ich mir auch keine Sorgen. Mein Hirn verkrampft erneut, diesmal aber nicht ganz so stark wie eben. Neue Situation...was tun? Auf einmal höre ich mich etwas sagen. Kurz darauf kommt eine Kellnerin in den Raum. “Wir würden gerne zahlen”, sage ich unglaublich höflich und wundere mich darüber. “Was hatten sie denn bestellt?” Wir nennen unser Bestellungen. “Hey.”, höre ich Sarah von der Seite sagen. “Kann ich hier mit Karte zahlen?” “Weiß nicht”, antworte ich und suche blitzschnell nach der einfachsten Lösung. Dabei fällt mein Blick auf die beiden Zehn-Euro-Scheine in meinem Portemonnaie Und dann sage ich etwas, von dem ich selbst nicht glauben kann, dass es passiert. “Die Pizza Hawaii plus die Tomatensuppe der Dame hier gehen auf mich.” Ungläubig merke ich, dass ich aufgestanden bin. Aber jetzt kann ich nicht zurückrudern, also lege ich noch eine Schippe drauf. “Und machen sie Fünfzehn draus.” Ich reiche der Kellnerin die beiden Scheine. Sie bedankt sich, nimmt noch das Geld der anderen entgegen und geht. Ich würde mich gerne darüber freuen, dass ich den Druck des Zahlens nicht mehr habe aber ich bin zu beschäftigt, das, was da gerade passiert ist zu verarbeiten. Entgeistert setzte ich mich wieder und starre ins leere. “Das ist echt super lieb aber ich hätte auch mit Karte zahlen können.” “Wenn das überhaupt möglich gewesen wäre”, ergänze ich ihren Satz. “Aber dann hätte sie das Gerät dafür holen müssen und das hätte länger gedauert als einfach alles mit meinem Geld zu bezahlen. Außerdem will meine Mom, dass ich das Geld ausgebe.” Das ist gelogen. Sie hat es mir gegeben, dass, falls ich es brauche ich es auch habe. Und Sarah hat recht. Theoretisch hätte ich es nicht gebraucht. Egal. Jetzt kann ich es eh nicht mehr ändern. “Das ist echt super lieb”, wiederholt sie und malt weiter ins Buch. Die Seite ist bald mit Kringeln und Dingen gefüllt, die wie kleine Wirbelstürme aussehen.


“Erzähle mir was über dich”, sage ich schließlich. “Was?” “Naja, du wolltest wissen, ob was über dich im Buch steht. Und...naja...du hast ja selbst gesehen, da steht bisher gar nichts.” “Du hast ja auch noch kaum was geschrieben”, sagt Sarah und lacht. “Na dann müssen wir das ändern.” Ich lache auch. Es ist ein ehrliches Lachen. Nicht so eins wie in Berlin, das kam, weil ich keine Kontrolle mehr über mich hatte. Es ist gewollt und als Lachen gedacht. “Was soll ich denn erzählen? Da gibts kaum was.” “Glaub ich nicht. Was hast du denn zum Beispiel in den Ferien…” weiter komme ich nicht. Ferien. Sommer. “Alles okay?”, fragt Sarah und schaut besorgt. “Hey, alles gut?” Ich bekomme keine Luft, also trinke ich den letzten Schluck Wasser direkt aus der Flasche und atme mehrfach tief durch. “Hey, was ist?”, fragt sie erneut. “Ich habe an die Ferien gedacht”, sage ich und lasse mich ein Stücken in den Stuhl sinken. “Was ist mit den Herbstferien?”, hakt Sarah nach. “Nicht die Herbstferien” sage ich. “Die Sommerferien. Da warst du noch nicht auf der Schule. Ergo: Du kennst ihn nicht.” “Wen?”, fragt Sarah verdutzt und legt den Kopf etwas schief. “Ich hasse Ferien. Ich brauche was zu tun, sonst werd´ ich krank.” “WEN kenne ich nicht?” “Meinen alten Deutschlehrer.” “Was ist mit dem?” Ich atme tief aus. “Er ist tot.”


Ich war mit meinen Großeltern unterwegs. Irgendwo bei Brandenburg. Ich hab auf dem Sofa im Wohnzimmer des kleinen Bungalows gelegen und DARK SOULS gespielt. Ich bin einen weiteren der zehntausend Tode gestorben und hatte keine Lust mehr, darum hab ich aufs Handy geguckt. Und in der Klassengruppe hab ichs dann erfahren. Dass Herr Engel tot ist. An Krebs gestorben. Deshalb war er auch die ganze Zeit nicht da und wir durften die Zeit mit dieser anderen da ausharren, bis die Ferien dann dem Elend ein Ende machten. Aber wie ich bemerkt habe, war das Elend nicht zu Ende. Er lag da immer noch im Krankenhaus. Er starb erst später, offenbar kurz nach Beginn der zweiten Ferienwoche. Sarah schaut mich fassungslos an. “Was?” “Ja. Hab ich in den Sommerferien erfahren.” “Wie war er?” “Ich mochte ihn. Gut, das ist untertrieben, er war klasse. Ich habe nie einen besseren Lehrer gehabt, was das Lehren an sich angeht. Grundsätzlich aber kann nur mein alter Klassenlehrer mithalten.” Sie schaut mich immer noch schockiert an. “Bist du nicht traurig?”, fragt sie. “Doch ziemlich”, sage ich und lächle dabei.


“Ich hatte mal `nen richtig beschissenen Deutschlehrer. Der hat sich mit meinem Vater super verstanden, das war das Problem dabei. Aber ich sag dir, der war soo schrecklich.” Sarah hat sich vorgebeugt und stützt sich mit den Ellen auf den Tisch. “Was hat er denn gemacht?”, will ich wissen. “Den schlimmsten Satz auf Erden geäußert.” “Welchen denn?” “Nope. Ich krieg richtig Anfälle, wenn ich das auch nur denke.” Jetzt bin ich neugierig, sie kann jetzt keinen Rückzieher machen. "Nein, jetzt sag", hake ich nach. Sie zögert. Schließlich nimmt sie einen Schluck aus ihrem Getränk, atmet tief durch und schließt die Augen. "Ich habe dich akustisch nicht verstanden."

"Ich wollte wissen, wie der Satz lautet", will ich mich erklären. "Das war er", sagt sie."Jetzt im ernst?" "Ja, ich kann es auf den Tod nicht ab, wenn das jemand sagt." "Gib mir mal mein Buch", bitte ich sie und strecke die Hand aus. Sie reicht es mir und beugt sich vor, um zu erkennen, was ich da schreibe.. Eilig kritzle ich etwas hinein und schließe es, dann gebe ich es ihr zurück. Sie öffnet es auf ihrer Seite, guckt mich seltsam an und lacht dann. "Das musste nicht sein.", meint sie. "Oh doch", erwidere ich. "Wieso denn?" "Falls es in die Geschichte kommt. "Geschichte?" Ich lehne mich in meinen Stuhl und erkläre. "Ich habe schon immer Gefallen am Schreiben gefunden. Mit acht habe ich mal ein Buch geschrieben und veröffentlicht. Und seitdem immer mal wieder, aber nie ernsthaft. Bis halt das mit Marie kam und mir der Vorschlag, im Internet zu veröffentlichen unterbreitet wurde. Und jetzt hab ich nen Lauf und Lust zu schreiben. Du bist doch auch so kunstaffin, oder nicht? Ich hab die Bilder gesehen, auf der SD-Karte." "Naja Kunst ist so ein weit gefächerter Begriff", meint Sarah und kratzt sich am Kopf. Ich lache. "Nein, jetzt mal im Ernst. Erzähl was über dich”, bitte ich sie. “Boa. Was soll ich denn erzählen? Ich bin jetzt nicht so die interessante Persönlichkeit, man kann jetzt keinen Roman über mich schreiben.” “Glaub ich nicht. Erzähl mir was und ich schreib drüber.” Sie lacht und schließt die Augen dabei. Es ist ein ehrliches, fröhliches Lachen. Eins, das ansteckt. “Das wird nichts”, beharrt sie. “Challenge accepted”, lache ich und speichere diesen Gedanken in meinem Kopf ab. Und dann erzählt sie. Sie erzählt, dass sie ursprünglich aus Bayern kommt, was ich schon aus Berlin weiß; da hat sie mir das auf der Stadtrundfahrt erzählt. Sie erzählt von ihrer alten Schule, dem Lehrer mit dem Satz, den ich nicht sagen darf und den Schülern dort. Es ist, als würde sie einen Vorhang beiseite drücken, der das, was sich dahinter befindet, freigibt. Mit jedem Wort entspannt sich die Atmosphäre ein bisschen mehr, bis ich schließlich feststelle, dass das Stechen aus meinem Kopf verschwunden ist. Ein angenehmes Kribbeln gleitet in Wellen an meinem Rücken herunter bis zu den Zehenspitzen, wo es einen Moment verharrt und erlischt, um erneut vom Kopf aus herunter zu rieseln. Ich kenne dieses Gefühl. Ich merke es immer, wenn ich mir ASMR-Videos angucke. Ich wusste gar nicht, dass Gespräche mit Personen ASMR triggern können. Ich mache mir derweil Gedanken, wie ich das alles in eine Geschichte einordnen soll. Denn eins steht fest, eine Biografie will ich nicht schreiben. Die Informationen und vor allem die Zeit habe ich nicht. Ich erinnere mich an CHARDONNAY. Ich habe ein Wochenende gebraucht, um alles aufzuschreiben, zu korrigieren und die Geschichte durchwinken zu lassen. Dann war sie online. Aber das war etwas anderes. CHARDONNAY war ursprünglich nie für die Öffentlichkeit gedacht. Mein Mindset, meine Einstellung und die Situation zu diesem Ereignis waren ganz andere. Und es gab eine Message. Jeder hat verstanden, worum es ging. Das heißt: Fast jeder.


“Hörst du noch zu?”, fragt Sarah und legt den Kopf schief. Ich blicke auf und merke schnell, dass ich sehr irritiert dreinblicke. Sie lacht. “Macht nichts. Ich hab ja gesagt, dass ich nicht allzu spannend bin.” Sie macht diese Anführungsstrich-Bewegung mit den Fingern. Dass ich jedes Wort gehört und noch im Kopf habe, sage ich nicht. Dafür schüttle ich den Kopf. “Doch doch, ich hab mich nur an was erinnert”, sage ich und fasse mir an den Hinterkopf. “An was denn?”, fragt sie. Ich stutze. Jetzt wird es wirklich privat. Ich blicke in die Augen des Mädchens mir gegenüber. Dann sehe ich das Bild , welches über ihrem Kopf zu schweben scheint. Sie weiß von Berlin. Sie weiß, wie es mir da ging. Sie hat ins Buch geguckt und gemalt. Und sie scheint es ernst genommen zu haben. Aber die Vermutung? “Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht…”. “Ich habe mich an meine Psychologin erinnert.” Was auch immer sich jetzt in ihrem Gesicht abspielt, ich brauche einen Moment, bis ich es identifiziere. Es ist Verwunderung. Aber da ist noch weit mehr als nur das. Ist das...Angst?


Auf einmal entspannen sich ihre Gesichtsmuskeln wieder. “Die, die dir das mit den Büchern empfohlen hat?”, fragt sie. Ich nicke. “Was ist denn mir ihr?”, will sie wissen. “Die war kacke”, lache ich. “Hat so gesehen überhaupt nichts gebracht. Die hat nie zugehört...außer dann halt, als ich weg wollte. Da hat sie dann auf einmal ganz aufmerksam hin gehorcht. Gut, sie hat halt Kritik abbekommen, da werden die immer aufmerksam.” “Und das fällt dir ein, während ich meine Lebensgeschichte offenbare?”, lacht Sarah. “Nein”, grinse ich zurück. “Es geht darum, dass sie sich widersprochen hat.” “Inwiefern?” “Naja, sie hat am Ende gesagt, dass ich gesund sei, das Mal davor hat sie noch von atypischem Autismus geredet.”


Irgendwas passiert da. Ich sehe, wie sie nachdenkt, kann ihren Gesichtsausdruck aber nicht einordnen. Zumindest verstehe ich diese Irritation nicht. “Okay”, sagt sie schließlich und nickt. “Hab ich was Falsches gesagt?”, frage ich nach. “Nein, alles gut”, meint sie und lächelt. Und weil es wie ein ehrliches Lächeln aussieht, glaube ich ihr. “Erzähl weiter”, sagt sie und lehnt sich zurück. Mir gefällt das. Dass mir jemand zuhört und dass es jemanden zu interessieren scheint. Und dabei ist es so irrational, darauf zu vertrauen. Sie könnte nur so tun als ob. Und obwohl dieser Gedanke mir Angst macht, schöpfe ich Sicherheit aus unserer Unterhaltung. “Es ist lustig”, sage ich. “Es ist, als hätte ich´s immer gewusst. Und jetzt sagt einer was und es ist so offensichtlich.” Ich schaue aus dem Fenster. “Meine Eltern glauben nicht, dass da was ist. Ich bin bereits drei Mal auf “Andersartigkeit” getestet worden, man hat aber nur immer wieder ADS gesagt. Lustigerweise ist das die häufigste Fehldiagnose.” Da ist wieder dieser Gesichtsausdruck. Ist sie traurig? Warum denn? Ich möchte fragen, was sie denkt aber ich weiß, dass Menschen das nicht gerne sagen, wenn man sie direkt fragt. Also lasse ich es. “Ich mag´s aber nicht, das als Ausrede für mein Verhalten zu nutzen. Dafür bin ich zuständig, kein Fehler in meinem Kopf”, sage ich, weiß aber, dass das eigentlich Schwachsinn ist. Aber es drückt am besten meine Gedanken aus. “Naja, die haben aber keine Diagnose stellen können, ich hab dann ja abgebrochen.”


Wir unterhalten uns noch eine Weile, diesmal aber über vieles Belangloses. Aber das macht mir nichts aus, ich höre Menschen gerne zu. Und Sarah kann man sehr gut zuhören. Schließlich schlägt Max vor, zu gehen. Und obwohl ich mich eigentlich noch weiter unterhalten möchte, stimme ich zu. Also packen wir zusammen, stehen auf, schieben die Stühle an die Tische und verlassen das Restaurant. Draußen schließe ich mein Rad ab, verabschiede mich von Marie, Sarah und Lee und trete mit Felix und Max, der seine Musikbox eingeschaltet hat, den Rückweg an. Der Himmel ist Rabenschwarz, nicht mal ein Stern ist zu sehen. Einzige Ausnahme ist eine einzige große, weiße Kugel. Es herrscht Vollmond, der das reflektierte Sonnenlicht an den Wolken vorbei auf die Erde wirft. Da das allein nicht ausreicht, gehen wir unter den Laternen an der Straße entlang bis zum Kreisverkehr, den wir auf der linken Seite überqueren. Wir machen eine Linkskurve und gehen den Pflastersteinweg entlang, wo es kaum Licht gibt. Max Musik macht mich nachdenklich. Wir sind zu schnell abgehauen. Ich hätte noch gerne weiter da gesessen. “Jungs ich weiß ja nicht, was ihr denkt aber das ist grad voll geil, so.” Ich denke nicht so. Die Unterhaltung mit Sarah war angenehmer. Ich nicke aber, weil er im Kern Recht hat. Diese Nacht an sich ist wahrlich eine schöne. “Vier komma Fünf”, sage ich. “Vier komma Fünf von Fünf Punkten für diesen Abend.” Ich lächle. “Echt so”, meint Felix. Ich denke an den Raum, in dem wir vor sieben Minuten noch saßen. Ich sehe das Essen. Ich sehe die Menschen. Felix, Max, Lee und Marie lachen. Ich sehe Frau Brinkmann, die für die nächsten sechs Wochen kein Deutsch unterrichten wird. Und ich sehe das Gesicht des Mädchens, mit dem ich mich unterhalten habe. Mit ihren langen, braunen Haaren und den braunen Augen. “Doch Max”, sage ich. “Du hast recht. Das ist grad voll geil so.” Ich bin glücklich. Für diesen Moment habe ich vergessen, dass es Dinge an Max gibt, die mich stören. Jetzt gerade bin ich froh, dass er da ist. Ich vergesse, dass ich Angst hatte, ins Restaurant zu gehen. Ich vergesse die Kälte um mich herum. Das alles existiert gerade nicht; diese Dinge hat Sarah mir genommen. Und das macht mich glücklich. Wir gehen an den beiden Hochhäusern vorbei und lauschen der Musik, die aus Max Rucksack in die Nacht schallt. Mein Rad schiebend und die beiden Jungs neben mir gehe ich die Straße entlang. In gut siebenhundert Metern muss ich die weinrote Gartentür öffnen. Und als ich das tue und mich verabschiede, erinnere ich mich an einen Satz aus “The Perks of Being a Wallflower”

”And in this moment, I swear, we are infinite.”

― Stephen Chbosky, The Perks of Being a Wallflower

 

Hej @Lukequtopia ,

die fortgesetzte Geschichte deines autistischen Protagonisten ist, der Diagnose entsprechend, äußerst ausführlich und detailliert verfasst und ich habe sie sehr gerne gelesen, mitgefühlt und mich über den Verlauf gefreut. Am Ende entwickelt er sich tatsächlich und ist offenbar verliebt. Die letzte Szene auf dem Heimweg ist dir besonders gut gelungen.
Deine Sprache erschien mir hier noch besser und auch humorvoller. Ich hatte meine wahre Freude.

Leider ging die Geschichte hier im Gewühl/Challenge unter, was sicherlich nichts mit der Qualität, sondern mit der Zeit zu tun haben könnte, die es braucht, sie zu lesen und zu kommentieren.

Du könntest dich als „Kommentierer“ anderer Geschichten versuchen und dich so ganz nebenbei ins Gedächtnis der anderen Wortkrieger rufen. ;)

Ansonsten würde ich mich freuen, immer wieder von dir hier zu lesen.

Lieber Gruß, Kanji

 

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