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Vielleicht
Vielleicht
Zittrig setzte sie an. Ein paar Töne kamen aus ihrem Mund, am Anfang noch krächzend und leise, doch nach den ersten Zeilen wurde ihre Stimme sicherer. Sie sang. Sie kam so hoch wie die Stimme der Sängerin, die aus dem MP3-Player drang. Mit Inbrunst sang meine Freundin ins Mikrofon, mit jedem Ton wurde ihre Stimme lauter und fester.
Ich schüttelte den Kopf und stöhnte. „Vergiss es. Das ist ‘ne Qual und sonst nichts.“
Langsam sank ihre Hand, die mit dem Mikro, zu Boden. Ihr Brustkorb hob und senkte sich immer schneller, ihre Lippen fingen an zu zittern. Ich wusste, was das bedeutet und stöhnte wieder, diesmal leiser, und unternahm einen Versuch, das Unvermeidliche aufzuhalten.
„Ach komm“ Ich hockte mich neben sie, versuchte, ihr ermutigend zuzulächeln. Legte ihr den Arm um die Schulter, zeigte ihr, dass ich trotzdem voll und ganz hinter ihr stand. Kraftlos sank sie in sich zusammen. Ich drückte sie fest an mich und sie heulte sich aus, über fünf Minuten heulte sie nur. Ich hab mich schon immer gefragt, woher sie die ganzen Tränen nahm. Wenn ich weinte, rannen nur ein paar dicke, salzige Tropfen an meiner Nase herunter. Aber es waren wirklich nie viele.
Mina richtete sich wieder auf. Ich schaute sie so ermutigend an, wie ich konnte, und kramte eine Packung Taschentücher hervor. Es war eine bescheuerte Idee von ihr gewesen, idiotisch, sonst nichts. Singen lag ihr einfach nicht. Sie kam zwar sehr hoch, aber dann hörte sie sich schriller an als eine Alarmsirene. Und sie traf keinen einzigen Ton.
Sie hatte sich beruhigt. Jetzt kam der schlimmste Teil. Aus vorwurfsvollen Augen schaute Mina mich an, während sie noch die letzten Tränen und schwarzen Schminkeflecken wegtupfte. Ich schluckte und schaute aus dem Fenster des unbewohnten Raumes über der alten Lagerhalle, in dem Mina und ich uns früher fast jeden Tag getroffen hatten.
„Loui, du bist so unsensibel! So schlimm kann es doch gar nicht gewesen sein! Ich hab mir solche Mühe gegeben!“ Und wieder glitzerten ihre Augen, die roten Lippen zitterten. „Und dann kommst du an und sagst so was! Du könntest ein bisschen freundlicher sein. Ich kann doch auch nichts dafür! Ich will doch nur, dass alles gut wird, du darfst mich nicht so demotivieren. Sonst bin ich irgendwann wie Jan. Willst du das etwa?!“
„Nein“, antwortete ich brav, aber ernst. Natürlich wollte ich nicht, dass sie werden würde wie Jan. Das war ihr Ex-Freund. Insgeheim gab ich ihm die Schuld an allem. Seit dem Tag, an dem Mina ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie sich verändert. War immer mehr geworden wie er. Drei Jahre war das nun her.
Es war ein schöner Herbsttag gewesen, eigentlich hatten wir ein wenig im Café sitzen und das letzte Eis der Saison genießen wollen, da schlug ich vor, in den Park zu gehen. Wie oft hatte ich mich schon dafür verflucht!
Wir gingen also in den Park und schlenderten über die Wege, lauschten mal dem Knirschen unserer Schritte, mal den Gesprächen der anderen Leute. Das hatten wir in dem Sommer oft gemacht: ziellos herumlaufen und den Gesprächen zuhören. Es war echt abartig, was Leute sich manchmal gegenseitig sagten.
Doch an diesem Tag gab es nichts Lustiges für unsere Ohren. Irgendwann gingen Mina und ich auf die Wiese. Unter einen Baum. Verdammter Baum! Verdammte Wiese! Auf einmal kam nämlich ein Typ auf uns zu, so eine Mischung zwischen Möchtegern-Cool und Angsthase, wie ich fand. Ich mochte ihn von Anfang an nicht. Er setzte sich neben uns, kam ins Gespräch. Und Mina, die hat sich in ihn verliebt. Sie wusste, dass ich ihn dumm und arrogant fand. Um mich nicht zu enttäuschen, traf sie sich erst heimlich mit ihm. Das enttäuschte mich am meisten.
Ich merkte, dass was nicht stimmte, aber da war schon alles zu spät. Die beiden waren fest zusammen, und das sollte über zwei Jahre lang so bleiben. Mina hat geraucht, gekifft, die Schule geschwänzt und auf Partys, die bis in den Morgen andauerten, Ecstasy genommen. Nie war sie mir fremder als in diesen zwei Jahren, da bin ich mir sicher, obwohl ich sie nur selten gesehen und so gut wie nie gesprochen hatte.
Aber irgendwie haben die beiden sich dann auseinander gelebt. Ich war so glücklich, als ich das erfahren habe. Die zwei Jahre über hatte ich eigentlich keine Freundin gehabt. Mina hatte ihre neuen Freundeskreise und ich hing zwar in den Pausen und auch manchmal nach der Schule mit ein paar Anderen rum, aber richtige Freunde wurden wir nie.
Frustriert knabberte Mina an einem Keks.
„Und jetzt?“, fragte sie immer wieder.
„Lern was. Was Echtes. Mach einen Abschluss.“ Es war die einzige Antwort, die ich ihr geben konnte. Sie schüttelte nur den Kopf.
„Du musst dieses Jahr für deinen Abschluss pauken, wenn ich noch in deiner Klasse wäre ... Das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Allein schaff’ ich das aber nie.“
„Und ob! Ansonsten suchst du dir einen Nachhilfelehrer ...“, fiel ich ihr ins Wort.
„Du weißt genau! Ich war nie gut in der Schule, ohne dich wär’ ich aufgeschmissen gewesen und bin es jetzt. Ich schmeiß’ die Schule.“
„Das ist keine Lösung!“ Ich schrie jetzt, blinde Wut hatte mich gepackt. „Verdammt, dieser Scheißkerl hat dich total verändert! Mann, was du da willst, klappt doch nie!“ Tränen standen mir in den Augen, mein Herz raste. Vor Enttäuschung, vor Hass. Das entging Mina natürlich nicht, verwirrte sie aber nur noch mehr. Wenn meine Augen nur ein wenig feuchter glänzten als normal, war schon was los. Aber was sollte das auch! Sängerin! Pah! Aus Mina konnte einfach keine Sängerin werden, egal wie oft sie es noch probieren würde.
Okay, zugegeben, vielleicht hätte ich nicht so direkt sein sollen, nie, wenn sie mir etwas vorgesungen hat. Sie war ja wirklich in einer beschissenen Lage. Aber ich konnte nicht anders, so bin ich eben, im Endeffekt ist es vielleicht besser, aber in dem Moment...
Meine Wut verflog und hinterließ ein Nichts, eine Leere. Es hätte mir ja genauso passieren können. „Ach verdammt, Mina.“ Ich sank tief in die Kissen, die auf dem Boden verstreut lagen. Mina sah so aus wie ich mich fühlte: wie ein Häufchen Elend. Am liebsten hätte ich geheult. Richtig. Vielleicht hätte ich mich dann besser gefühlt. Es ging nicht. Die Tränen waren da, kamen aber nicht raus.
Langsam schlich sich ein Lächeln auf Minas Gesicht. Es wollte sich nicht so ganz zeigen, konnte sich aber auch nicht mehr verbergen. Ich bemerkte es nicht, erst, als sie sich eine Zigarette anzündete, da schaute ich für einem Moment hoch.
„Was ist?“, fragte ich mürrisch.
„Loui... Das ist es!“
„Was ist es?“ Innerlich seufzte ich laut. Nicht schon wieder so eine Schnapsidee, bitte nicht, betete ich.
„Ich werd Schauspielerin!“ Entspannt lehnte ich mich zurück und betrachtete meine Freundin. Irgendwie war ich beruhigt, dass sie das sagte. Es war... vielleicht realistisch.
„Wird hart!“
„Ey, Loui, so was aus deinem Munde!“ Mina grinste mich frech von der Seite an. Einen Moment schien es mir, als wäre sie wieder die Alte.
„Ich mein’s ernst. Du musst verdammt gut schauspielern können, und so weiter.“
„Ach, Louisa, weißt du, ich glaube, du verstehst mich nicht ganz. Ich will berühmt werden! Dann mach ich ordentlich Kohle und alle werden schon sehen!“ ZACK! Da war sie wieder, die neue Mina. Da würde ich mich jetzt wohl dran gewöhnen müssen.
Mina zog wieder eine Zigarette aus der Tasche, wollte schon nach dem Feuerzeug greifen. Doch ich schnappte sie ihr weg und zündete sie stattdessen mir an.
„Mina! Was soll das, du wirst nicht einfach so berühmt. Das ist kein Beruf, kein vernünftiges Ziel. Wenn du sagst, du willst Schauspielerin werden, dich da richtig reinhängen, okay, aber so’n Scheiss... nee, nee. Nicht mit mir.“ Ich stand auf, schnappte mir meine Tasche und ging.
Ich konnte nicht richtig schlafen. Bis spät in die Nacht quälte ich mich, dann endlich sank ich in einen nicht sehr erholsamen Schlaf. Berühmt werden ... was hatte sie davon? Ich verstand es nicht.
Am nächsten Morgen in der Schule war ich schon lange nicht mehr so unkonzentriert gewesen. Ich hatte echt mehr als Glück, dass mich kein Lehrer drannahm.
Der melodische Klang des Pausengongs vibrierte in meinem Kopf, löste ein schmerzhaftes Pochen in meiner Schläfe aus. Ich ging mit schnellen Schritten auf den Hof und zündete mir fahrig eine Zigarette an. Es war eine schlechte Angewohnheit geworden, zur Zigarette zu greifen.
Es war kalt, ein kalter Herbsttag, nicht so wie der, an dem wir Jan das erste Mal getroffen hatten. Ich schmiss die Zigarette auf den Boden, zertrat sie mit meinem Absatz. Ich würde Mina suchen gehen müssen.
Der Unterricht hatte schon begonnen, als ich den Klassenraum betrat, doch das war mir ziemlich egal. Mina war nirgendwo aufzufinden gewesen, das war viel entscheidender. Ich pfefferte meine Jacke mit viel Schwung über die Stuhllehne. Mina hatte wohl wieder mal geschwänzt. Alle meine Hoffnungen waren zunichte gemacht. Ich dachte, vielleicht hätte sie sich ja doch geändert...
Seit Wochen hatte ich Mina nicht gesehen. Inzwischen war es mir egal. Ich war wieder dort, wo ich war, bevor sie erneut zu mir gekommen war. Louisa Höckmann würde eines Tages auf der Liste der Ingenieurstudenten stehen, das war mein großes Ziel. Aber erst mal musste ich einen guten Realschulabschluss schaffen, um noch auf die Oberstufe zu kommen und mein Abi zu machen. Mina ade.
Doch ich log mich damit selber an, Mina war meine einzige richtige Freundin gewesen. Ich hatte sie abgeschrieben, aber dann kam sie wieder. Jetzt ging es mir noch schlechter, jetzt, wo ich sie ein zweites mal verloren hatte. Oder sie verlassen hatte, weil ich sie seit Jan gar nicht erst wieder wirklich gehabt hatte, sie die ganze Zeit über verloren gewesen war für mich.
Ich schüttelte den Kopf. Es musste ohne Mina weitergehen. Kein Gedanke mehr an sie. Aber Mina selbst machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ich saß gerade auf einer kleinen Mauer auf dem Schulhof und zwang mich, nicht an die Zigaretten in meiner Jackentasche zu denken. Ich hatte mich in der Qualmerei verloren.
Fang niemals an zu rauchen, es ist das Schlimmste, was du tun kannst. Du sollst nicht kiffen, nicht Alkohol trinken, kein Ecstasy nehmen. Aber vor allem sollst du nicht rauchen. Du wirst abhängig, kannst nie mehr aufhören. Es wird dich von innen kaputt machen. Die Worte meiner Mutter spukten in meinem Kopf herum. Ich schnaubte. Nie hatte sie es geschafft, auch zu sagen: „So wie ich.“. Nein, das konnte sie sich ihr Leben lang, bis zu ihrem Tod vor einem Jahr, nicht eingestehen. Sie hatte einen Herzinfarkt gehabt, wegen ihrer Raucherei.
Niemand kam je in das Eck, in dem ich war, außer mir. Aber jetzt hörte ich Schritte, leise, zögerlich – Mina!
„Loui“, sagte sie leise. „Kommst du heute um vier?“
„In ... unseren Raum?“ Sie nickte. Ich nickte ebenfalls , aber schaute sie nicht an. Wieder hörte man Schritte auf dem Asphalt, sie ging weg. Ich schaute ihr nach. Wusste nicht, was ich denken sollte.
Punkt vier war ich oben, ließ meine Tasche in eine Ecke fallen und mich in die Kissen plumpsen. Mina schien noch nicht da zu sein. Die Treppe knarzte. Das war nicht nur eine Person, nein, mindestens drei oder vier. Fünf kostümierte Leute betraten den Raum. Sie wirbelten Staub auf, der mich in der Nase kitzelte. Was waren das für Leute?
Mina begann, zu sprechen: „Willst du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern.
Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche,
Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang;
Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort.
Glaub, Lieber, mir: es war die Nachtigall.“
Die fünf spielten mehrere Szenen aus Romeo und Julia und nach einer knappen halben Stunde waren sie fertig. Jetzt hatte ich auch die anderen vier erkannt. Sie waren aus der Theatergruppe unserer Schule.
"Du ziehst das jetzt durch?" Noch war ich skeptisch. Mina nickte.
"Wie kommts?"
"Ich weiß nicht ... Ich will dich nicht wieder verlieren." Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich sie an und wollte schon etwas entgegnen, aber Mina redete weiter. "Außerdem... wenn ich erst mal 'ne richtige Schauspielerin bin, werd' ich ja vielleicht berühmt." Ich musste grinsen und wollte mir eine Zigarette anzünden. Das ließ Mina nicht zu: sie nahm sie mir aus der Hand und warf sie aus dem Fenster.
„Keine Zigaretten mehr. Weder für dich, noch für mich. Du machst deinen Abschluss und ich werde Schauspielerin. Alles klar?“
Ich schaute ihr in die Augen. Wild entschlossen schaute sie zurück, doch ein kleiner Hauch Unsicherheit lag dennoch in ihrem Blick. Vielleicht würde sie es schaffen. Vielleicht würde ich es schaffen. Vielleicht.
Es war nicht ganz unmöglich.