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Vielleicht doch
Ach was, da passiert schon nichts. Das waren seine Worte, die er mir vor nicht mal zwei Stunden ins Ohr geflüstert hatte. Und jetzt steht er wieder hier, schweißgebadet und blutverschmiert. Sein schwarzes Haar, das normalerweise ordentlich frisiert vom Kopf, bis über die Ohren hängt, steht in alle Richtungen ab. Durch irgendwas scheint es verklebt zu sein. Eigentlich ist er einen Kopf größer als ich, doch unter meinem fragenden Blick scheint er zusammen zu schrumpfen.
„Hast du da eine Wunde unter deinem T-Shirt?! Lass mich mal sehen!“
Und schon sind meine Finger am Saum, im Begriff, sein mehr rot als weißes Hemd hoch zu ziehen. Doch er will mir nicht sagen was war und die Verletzungen erst recht nicht zeigen. Mit einem Ruck befreit er sich aus meinem Griff und geht mit schlurfenden Schritten hinüber ans Fenster, wo er sich auf einen Küchenstuhl fallen lässt. Ich biete ihm ein Glas Wasser an, oder ein Handtuch zum Abputzen, aber er möchte nichts. Nur hier bei mir sitzen und dabei zuhören, wie ich einen endlosen Monolog über diese doofen Fernsehshows halte, die das Nachmittagsprogramm überfluten, wie eine gewollte Müllwelle ohne Verstand.
Ihn scheint es nicht besonders zu interessieren, denn mit seinen Fingern kratzt er sich abwechselnd am Arm, dann wieder am Kopf. Entweder er denkt über das nach, was ich sage, oder aber, er ist mit den Gedanken ganz wo anders, was wohl die wahrscheinlichere Lösung ist. Seine Stimme wirkt zerbrechlich und ist nicht mehr als ein Flüstern:
„Es war alles Patriks Schuld. Ich hab zu ihm gesagt: Wirf nicht!“
„Was meinst du damit? Was ist denn passiert?“
Und nach einer kleinen Pause: „Bitte! Rede endlich mit mir.“ Meine Worte sind flehend, mit einem Unterton, der von großer Furcht zeugt. Furcht davor, dass doch mehr passiert ist, als seine blutige Kleidung und sein verstörtes Auftreten vermuten lassen.
Er bleibt regungslos sitzen, blickt nur kurz auf, aber dann auch ganz schnell wieder nach unten. Mit dem Finger malt er Linien und Buchstaben auf den Tisch, um sie dann mit einer ruckartigen Bewegung fortzuwischen. Es wirkt als würden seine Finger den Tisch gar nicht berühren und obwohl sie dreckig sind, bleibt die Platte sauber. Ich bringe ihm ein nasses Handtuch, mit dem er sein Gesicht abputzen kann, doch er dreht den Kopf weg.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du gehst“, bringe ich stockend hervor und er schaut mich wieder an, mit seinen traurigen, grauen Augen, die wie dicke Regenwolken aussehen.
„Immer diese angeblichen „Demos“, die jedes Mal in einer Schlägerei enden und ich bin mir echt nicht sicher, ob das nicht vielleicht eure Absicht ist. Immer muss ich deine blutigen Sachen waschen, damit deine Mutter nichts mitbekommt. Immer dieses Zittern, dass du im Gefängnis landen könntest…“, bebend versiegt meine Stimme und noch bevor ich ihm eine Strähne aus dem Gesicht streichen kann, erhebt er sich leise vom Stuhl, geht in den Flur und zieht seine Jacke an, die ebenfalls blutig ist. Die Schuhe hatte er angelassen, obwohl an ihnen Erde und Laub kleben.
An der Haustür dreht er sich noch einmal um: „Es tut mir leid“, haucht er und meine Haut kribbelt an der Stelle, wo er meine Hand hält, ein letztes Mal, ganz leicht.
„Zu einer anderen Zeit, in einer anderen Welt vielleicht …“ Und er geht und nimmt seine Traurigkeit und seinen Schmutz mit und ich bleibe, voll Trauer und Ungewissheit.
Meine Glieder verharren im Türrahmen, bis ich sie endlich dazu zwingen kann, sich wieder in Bewegung zu setzen.
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, in der meine Finger nur zwischen den Knöpfen der Fernbedienung den Staub wegwischen. Schließlich drücken sie den Einschaltknopf.
„Während eines Aufmarschs der Nationalsozialisten, kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Partei und Linksradikalen“, berichtet eine Stimme, die zu hoch ist und sich beinahe überschlägt. Unterdessen laufen Amateurvideos, die mit dem Handy aufgezeichnet wurden. Verletzte laufen weg, einige liegen am Boden und die restlichen prügeln sich weiter. Dann Bilder der Fernsehkamera. Ein Blutender wird in einen Krankenwagen geschoben.
„Etliche wurden leicht verletzt, einige von ihnen schwer. Einer der Gegner ist aktuellen Informationen zu Folge, seinen schweren, wohl zum Teil auch inneren Verletzungen erlegen.“
Meine Augenlider verschließen die Tränen, noch bevor ich den Fernseher ausblende.