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Vielleicht doch lieber Alex
Durchs Zugfenster sah Kevin Novemberfelder. Erster Schnee bedeckte die Erde und die vereinzelten Bäume, die wie Funktürme im Niemandsland standen, trugen keine Blätter mehr. Vor Langeweile müde lehnte er seinen Kopf an die Scheibe. Er hatte Durst, aber nichts zu trinken. Er fuhr zu seiner Freundin.
Keine zwei Wochen, nachdem er Sara kennengelernt hatte, war Kevin zum Studieren in eine fremde Stadt gezogen. Seitdem hielten sie Kontakt über Skype und Telefon. Ihr verpixeltes Kamerabild war Kevin gegenwärtiger als die realen Treffen - eine Handvoll Sommernächte, lauwarm und sternenreich, leiser Sex bei offenem Fenster.
Ein Mädchen setzte sich neben Kevin. Sie trug Jeansjacke, Rock und Strumpfhosen. Ihre Haare erinnerten Kevin an ein Bild, das er auf Alex‘ Laptop, dem Mitbewohner seiner Freundin, gefunden hatte. Zwei Manga-Mädchen knieten nackt am Boden, ihre Fotzen trieften. Als Kevin Alex nach dem Bild fragte, gab es dieser als Arbeitsmaterial für ein Romanprojekt aus. Kevin spürte, dass er eine Erektion bekam. Um sich abzulenken, spielte er mit dem Gedanken, dem Mädchen in Jeansjacke den Fuß abzusägen. Er zog ihr Schuh und Socke aus. Mit einem Fuchsschwanz zeichnete er eine faserige Linie oberhalb des Knöchels. Blut tropfte vom Sägeblatt und färbte den Teppichboden glitschig schwarz. Zu Beginn ließ Kevin sich Zeit, damit die Säge nicht aus der Spur sprang, dann zog er durch wie sein Vater es ihm beigebracht hatte, gleichmäßig und nie auf Stich belastet.
Kevins Erregung ging zurück, das Bild der Manga-Mädchen trat beiseite, er dachte nicht mehr an Fuß und Säge. Vorm Fenster zog eine Überlandleitung vorbei. Kevin gähnte. Seine Gedanken hingen an Sara. Mit fünfundzwanzig war sie fast sechs Jahre älter als er. Er liebte sie dennoch, liebte ihre Füßen mit zierlichen Zehen und schwarz lackierten Nägeln, ihr Igelhaar, blond und aufgegelt. Wenn sie, träge vom Sex, auf seinem Schoß lag, zerzauste er die Stacheln.
„In Kürze erreichen wir …“ Die Zugansage zerschnitt Kevins Gedanken. Draußen verzweigten sich die Schienen. Eine S-Bahn fuhr gleich auf, wurde dann schneller und zog davon. Der Zug ruckte in den Weichen.
Das Mädchen verließ ihren Platz und verschwand Richtung Tür. Auch Kevin stand auf und wuchtete seinen Rucksack vom Gepäcknetz. Er reihte sich ein in die Schlange wartender Passagiere. Im Augenwinkel zog der Bahnsteig vorüber. Unruhe kam auf, Kevin spürte sie in Bauch und Kniekehlen. Er würde Sara wiedersehen. Der Zug bremste ab, die Gesichter vorm Fenster bekamen Kontur. Kevin sah eine Familie mit Kinderwagen. Die Kleine zappelte an der Hand der Mutter.
Der Zug hielt. Zischend öffneten sich die Türen. Die Schlange vor Kevin kroch Richtung Ausgang.
Auf dem Bahnsteig war die Luft nebelkalt. Wiedervereinte Familien und Paare standen dicht beisammen. Ihre Wangen glänzten vor Begeisterung. Dagegen wirkten die Gesichter der Einzelgänger, die mit ihrem Gepäck zum Bahnsteigende eilten, grau und übermüdet. Kevin suchte Sara in der Menge und fand sie nicht. Und die Zweifel kehrten wieder – vielleicht war sie nicht gekommen. Mit fliegendem Blick prüfte er die Menschen, während er den Bahnsteig abschritt. Seine Hosentasche pfiff zwei Töne, hoch und tief - auf seinem Handy stand: Willkommen daheim. Ich warte am Ende des Bahnsteigs. Er beschleunigte seine Schritte und fand sich albern dabei.
Sara lehnte an der Gleisabsperrung. Sie trug einen schwarzen Mantel, eine lila Strickmütze und Stiefel, die Kevin nicht mochte. Sie winkte und lächelte dabei und doch fehlte die kindliche Begeisterung, die Kevin von seiner Ex-Freundin kannte. Sie lief ihm nicht kreischend entgegen. Sie warf ihn mit ihrer Umarmung nicht aus dem Gleichgewicht. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt. „Hi. Wie war deine Fahrt?“
„Ganz gut. Ich …“
Sara schluckte die Worte mit einem Kuss, ihre Lippen weicher als seine, die rissig waren von der Kälte, und streichelte mit behandschuhten Fingern seine Wange. Die Wolle kratze auf der Haut.
„Was wolltest du sagen?“ Sie grinste ihn von unten her an.
„Ich …“ Der Satz war verloren. Um seine Verlegenheit zu überspielen, strich er eine widerspenstige Haarsträhne unter ihre Mütze zurück.
„Du bist echt süß, du lässt dich so leicht aus dem Konzept bringen.“ Sie griff ihm in den Schritt und Kevin, der eine Erektion bekam, kämpfte um Fassung.
„He. Nicht vor den Leuten.“ Er wandte den Kopf, ob jemand zusah, aber die Reisenden zogen weiter, mit Rucksäcken, Koffern, Taschen, mit Blick auf Fahrkarten und Wagenstandanzeigen. Unbehaglich fühlte er sich dennoch und beobachtet.
„Manchmal bin ich echt froh, kein Mann zu sein.“ Sie zog ihre Hand zurück. „Komm wir gehen.“
Auf dem Bahnhofsplatz verharrten Busse und Straßenbahnen im Regen. Ihre Scheinwerfer fingen die Tropfen aus der Dämmerung. Windböen wanderten von links nach rechts. Kevin fror an Hals und Händen.
„Scheißwetter.“ Sara duckte ihren Kopf zwischen die Schultern. „Eigentlich wollte ich mit dir zu Fuß gehen. Jetzt müssen wir fahren.“
Sie stiegen in eine der Straßenbahnen. Die Luft war muffig-warm und abgestanden. Die Gesichter der Fahrgäste wirkten müde. Sie setzten sich ans Zugende. Im Anschluss wartete eine zweite Straßenbahn, Kevin konnte den Fahrer sehen, ein Mann mit Schnurrbart und Sonnenbrille – es dauerte Sekunden, bis er benennen konnte, was seltsam daran war. „Ich lauf gerne im Herbst durch die Stadt“, fuhr Sara fort. „Wenn es schon kalt ist. Aber die Sonne scheint noch so kräftig, dass sie das Gesicht wärmt.“
Sie lispelte leicht, stieß mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen hervor, wie immer, wenn sie von schönen Dingen sprach, die in der Zukunft lagen – eine der wenigen Eigenheiten, die Kevin an ihr kannte.
Die Straßenbahn fuhr an. Die Schienen wuchsen unter dem Zug hervor, zwei Fährten, denen Autos folgten, ihre Scheinwerfer verschwommenes Gelb und Xenon-Blau. An der Scheibe lief Regen herab.
„Vielleicht haben wir ja morgen mehr Glück.“
„Darauf kommt es doch nicht an.“
Sara suchte Kevins Mund und er schloss die Augen, tastete mit der Hand nach Hals und Wange. Unter seinen Fingern erwärmte sich ihre Haut. Er spürte ein Flattern von Glück im Bauch.
„Ich glaube wir sollten aufhören. Sonst stirbt der Alte noch vor Geilheit.“
Zwei Sitzreihen entfernt saß ein Mann um die sechzig. Mit nikotingelben Fingern drehte er seine Zeitung zu einem Rohr. Seine Augen, halb versunken in den Höhlen, fixierten Kevin und Sara. In ihrer Leblosigkeit erinnerten sie an bemalte Holzkugeln. Am liebsten wäre Kevin ausgestiegen.
„Nun werd doch nicht wieder rot.“ Sara schüttelte den Kopf und Kevin dachte an Erzieherinnen im Kindergarten und Kinder, die beschämt zu Boden sahen.
„Gern, wenn ich was dagegen machen könnte …“
„Du bist echt süß.“ Und sie fuhr mit den Fingern über seine Wange. „Wir müssen hier raus.“
Sie betraten die Wohnung mit regennassen Haaren, froh, ins Warme zu kommen. Kevin ließ seinen Rucksack fallen und schälte sich aus Jacke und Pullover – die WG schien überheizt zu sein und ein Prickeln überzog Gesicht und Hände.
„Da seid ihr ja.“ Aus der Küche kam Alex, 27 Jahre und ewiger Student. Er trug Cordhose, Strickpullover und einen Schal aus roter Wolle. Seine Nase war geschwollen und gerötet, die Haut unter den Nasenlöchern schuppte sich. Kevin war versucht ihm ein Taschentuch zu reichen.
„Du machst besser einen Spaziergang“, sagte Sara.
„Klar. Viel Spaß euch beiden.“ Alex lachte, was Kevin nicht gefiel, die Situation war ihm peinlich.
Während Alex Mantel und Schuhe anzog, stieß Sara die Tür zu ihrem Zimmer auf. Hier hingen Poster von New York und L.A, von London und Paris, und Stecknadel vermerkten alle Länder, die Sara besucht hatte, auf einer Weltkarte. Auf dem Regal reihten sich Unibücher und Filme, meist Liebeskomödien, die Kevin nicht mochte und dennoch gerne sah. Nach dem Abspann hatte er meist Sex mit Sara.
„He, worauf wartest du?“
Sara lag nackt auf dem Bett. Auf ihrem Venushügel stand ein Dreieck Schamhaar.
Kurz bevor er kam, stellte Kevin sich vor, seine Freundin zu erwürgen – mit beiden Händen schnürte er ihre Kehle ab und während sie ihm Gesicht und Brust zerkratzte, färbten sich ihre Wangen bläulich-rot. Das Blut geplatzter Kapillaren durchsetzte ihre Augen. Ihre Bewegungen verloren an Kraft, wurden träge und halbherzig. Am Ende zuckten noch die Beine.
Heiße Flüssigkeit lief durch seine Nase und tropfte auf Saras Hals. „Oh. Scheiße.“ Sie ging auf Abstand, kramte auf dem Nachttisch nach Taschentüchern. „Ich hol dir einen nassen Lappen.“ Die Nasenlöcher mit Papier verstopft, verharrte Kevin auf dem Bett. Am liebsten wäre er gegangen, um Sara nicht sehen zu müssen. Sie kam mit dem Lappen zurück. Kaltes Wasser lief seinen Rücken hinab und ließ ihn frösteln.
„Und? Besser?“
„Ja. Tut mir leid.“
Sie streichelte seine Wange, die Finger kalt vom Wasser „Endlich blutet mal der Mann.“ Lachend erhob sie sich vom Bett. Kevin fühlte sich unwohl, weil seine Freundin Witze riss. Trost wäre ihm lieber gewesen. „Ich geh duschen und mach was zu essen. Du bist soweit okay?“
Mit Kevins Nicken verließ sie das Zimmer. Den Kopf in den Nacken gelegt, saß er am Bettrand, über ihm die Zimmerdecke, weiß und fad, und in der Mitte die Papierkugel der Lampe. Der Wunsch, zu gehen, blieb konstant. Als das Nasenbluten nachließ, warf er die durchtränkten Taschentücher in den Müll und ging unter die Dusche. Mit dem Schweiß verschwand auch ein Teil seiner Scham, nach dem Abtrocknen fühlte er sich besser.
Sara stand am Herd und wendete Steaks in der Pfanne. Im Ofen glänzte Baguette honiggelb und auf dem Tisch stand Rohkost in Streifen geschnitten, dazu Jogurt-Dip mit Pfeffer. Beim Geruch des Essens merkte Kevin, dass er Hunger hatte. Sein Magen fühlte sich bodenlos an.
„Setzt dich schon mal. Das Fleisch ist gleich gar.“ Sie trug jetzt Jogginghose und Kapuzenpulli – Kleidung, die Kevin mit Momenten nach dem Sex verband, wenn Sara den Kopf auf seinen Bauch legte und von der Zukunft sprach, von Reisen nach Russland und Taiwan. Jetzt wäre es ihm lieber, sie trüge Top und Jeans. Er setzte sich an den Tisch und aß Karotten, bis das Fleisch fertig war.
Vorm Fenster war die Welt verschwunden, an ihre Stelle stand ein Spiegelbild – Kevin und Sara am Küchentisch, im Hintergrund Regale voll Nudeln, Reis und Mehl. Sie tranken Wein, billig und süß, und er spürte eine Schwummrigkeit im Kopf, die nicht vom Alkohol stammen konnte – vielleicht der Wunsch, betrunken zu sein. Die Reste des Abendessens standen bereits in der Spüle. Nur auf Alex wartete noch eine Portion
„Ist was?“ Sie fasste nach Kevins linker Hand. „Du bist total abwesend.“
„Nein, nichts.“
„Du machst dir wirklich Gedanken wegen vorhin?“ Er wusste nicht, ob sie belustigt klang oder wirklich erstaunt. Er schüttelte den Kopf. „Bist du süß. Mach dir doch deswegen keine Sorgen.“
Sie küsste seine Fingerkuppen, spielte mit der Zunge über die feinen Rillen, und Kevin hörte die Wohnungstür – Alex war zurück, polternd fielen seine Schuhe zu Boden. Kevin hatte den Eindruck, er wäre absichtlich laut.
Sara stand auf. „Du bist zu spät. Dein Essen ist kalt.“
Mit roten Wangen von der Kälte kam Alex in die Küche und setzte sich an den Tisch. „He, ich dachte, ihr braucht länger.“
Kevin spürte, dass ihm Blut ins Gesicht stieg, Wangen und Nasenflügeln prickelten. Er fürchtete, seine Nase könnte wieder bluten.
„Ist was?“
„Nein, nichts.“
Nach einem Seitenblick auf Sara, die abwinkte, ließ Alex das Thema fallen.
Durch leichten Nieselregen gingen sie zu einer Kneipe nahe der Isar. Gelbes Licht fiel durch die Fenster auf den Gehweg und ließ nassen Stein und Pfützen glänzen. Drinnen waren Studenten zu sehen, die Wangen heißgeredet, die Gestik ausladend und fröhlich. Vor der Tür drängte sich ein Rauchergrüppchen, ihre Zigaretten glommen zaghaft im Wind.
„Ist ja richtig was los.“ Alex klang begeistert. Kevin wäre lieber mit Sara allein gewesen.
Beim Eintreten schlug ihnen atemfeuchte Luft entgegen und der Lärm zu vieler Simultangespräche. Sie fanden einen Tisch nahe dem Tresen und bestellten Bier für alle. Kevin fiel auf, dass er der Jüngste war im Raum – keinen der Anwesenden schätzte er auf unter dreiundzwanzig. Die meisten Männer trugen Bärte, wie sie ihm so dicht nie wachsen würden und die Frauen hatte nichts gemein mit den Mädchen, die er aus der Schule kannte. „Ich bin mal kurz weg.“
Die Toiletten waren unerwartet sauber – kein Geruch nach Pisse oder Zigarettenrauch. Der Lärm der Gaststube war zu einem Hintergrundrausch gedämpft und beinahe angenehm. Nachdem er sich erleichtert hatte, wusch Kevin Hände und Gesicht und zupfte seinem Spiegelbild die Frisur zu Recht.
Kaum aus der Toilettentür getreten, hörte Kevin Saras Lachen. Sie schien Alex etwas zu erzählen, und beide lagen sie fast auf dem Tisch. Als Kevin sich setzte, verstummten sie.
„Was ist?“
„Nichts.“
„Kommt schon, was ist?“
„Es ist nichts, wirklich.“ Kevin fiel auf, dass Alex nicht ernst bleiben konnte – hinter vorgehaltener Hand stand er kurz vor einem Lachanfall, in seinen Augen standen Tränen.
„Was hast du ihm gesagt?“
„Lass gut sein, ja.“ Ihre Stimme klang besänftigend und ruhig, als spräche sie mit einem Pferd.
„Hast du ihm von vorhin erzählt?“
„Natürlich nicht. Können wir damit aufhören, okay?“ Sie küsste Kevin, der sich schlecht fühlte und ausgeschlossen.
„Was meinst du mit vorhin?“, fragte Alex.
„Jetzt fang nicht damit an“, erwiderte Sara und an Kevin gewandt: „Willst du eigentlich deine Eltern besuchen?“
„Eher nicht. Die wissen nicht mal, dass ich da bin. Hab ihnen nichts gesagt. Ich wollt die Zeit für uns zwei.“
„Wie romantisch.“
Kevin lachte verlegen – in Gedanken sägte er Alex Fuß und Hände ab.
„Nun hör schon auf, ihn zu ärgern.“
„Ich mach doch nichts.“
Kevin trank zu viel und als sie die Bar verließen, fühlte er sich körperlos wie ein Gespenst, das zwischen Tischen und Stühlen schwebte. Auf der Straße war der Regen zu Schnee geworden. Die Flocken brannten auf der Haut. Kevin stütze sich auf Saras Schulter. Autos kamen den Hügel herab, ihre Lichter hell wie Flak-Scheinwerfer, und er flüsterte Sara Zärtlichkeiten ins Ohr. Zwei Meter entfernt schwankte Alex nahe dem Straßenrand. Den Kopf in den Nacken gelegt, sang er unverständliches und Sara rief ihm zu, er solle vorsichtig sein. Kevin war glücklich. Er spürte die Wärme seiner Freundin durch den Handschuh.
Halbnackt fiel Kevin aufs Bett. Weit hinten in seinem Kopf spürte er die Erdrotation – das Haus kippte immerfort zu Seite weg und Kevin wusste nicht wie er im Bett bleiben sollte. Durch die Wand zu Alex Zimmer hörte er leise Musik. Es dauerte, bis ihm einfiel, warum Alex sich nicht einfach schlafen legte. Sara war noch im Bad. Kevin stellte sich vor, wie sie den Lippenstift abwusch, Lidschatten und Wimpertusche mit einem Wattebausch fortwischte. Er stand in ihrem Rücken, die Hände um ihre Hüften gelegt, ihren Geruch in der Nase, und küsste ihren Hals und ihre Schulter. Er schlief ein, bevor Sara ins Zimmer kam.
Beim Erwachen schien Sonnenlicht durch Kevins Lider - die Welt reduziert auf roten Samt und grün-gelbe Glanzlichter, auf das Gefühl von Wärme auf der Haut. Traumreste schwappten wie Flüssigkeit durch seinen Kopf. Er fühlte sich träge und schwer. Aus der Küche hörte er Saras Stimme. Er lauschte darauf und war so glücklich, als läge sie neben ihm, die Hand auf seiner Schulter. Er setzte sich auf. Er hatte Durst, aber keinen Kater. Die Sonne hing bereits über den Häusern und malte Reflexe auf Fenster und Dachziegel. Auf der Straße standen die Autos im Schatten, Raureif verklebte ihre Fenster.
Mit dem Bademantel seiner Freundin über den Schultern, betrat Kevin die Küche. Als er Sara und Alex am Küchentisch sah, fühlt er sich in einen Film versetzt: Beide trugen nur Boxer-Short und T-Shirt, Saras Brustwarzen zeichneten sich deutlich unterm Stoff ab. Ihr Haar war noch feucht vom Duschen – eigentlich mochte es Kevin, wenn ihre Haare dunkler waren als gewöhnlich und erst mit der Zeit ihre ursprüngliche Farbe zurückgewannen. Er liebte es auch, ihren Kopf zu streicheln, mit Wassertropfen zwischen den Fingern. Jetzt aber glich das Ganze einem Hollywood-Streifen – nach der Liebesnacht saß das Pärchen am Frühstückstisch und tauschte Zärtlichkeiten.
„Nah, du Langschläfer.“ Sara stand auf und gab Kevin einen Kuss. Wieder fiel auf, dass seine Lippen rissig waren. „Willst du Kaffee?“
„Danke, Wasser reicht.“
„Du weißt ja, wo du die Gläser findest.“
Es brauchte drei Gläser, um seinen Durst zu stillen. Durch seinen Kopf schwappte noch immer der Schlaf. Gerne hätte er Sara mit ins Bett genommen, um den Vormittag im Halbschlaf zu verbringen, um sie verträumt zu küssen und die Konturen ihrer Brüste nachzufahren.
„Sorry, dass ich euch keine Gesellschaft leisten kann.“ Sara wuschelte mit der Hand durch Kevins Haare und verließ die Küche. Als sie wieder kam, trug sie Jeans und Pullover. „Also bis nachher.“
Während er Rührei und Toast frühstückte, unterhielt sich Kevin mit Alex über die Uni, über Musik und Filme. Obwohl die Themen unverfänglich waren, fühlte er unwohl. Ähnlich war’s ihm beim Vater seiner Ex-Freundin ergangen – sie saßen damals auf dem Sofa , während Fußball im Fernsehen lief, und sprachen über Tina, und Kevin hatte das Gefühl, dass der Alte ihn zwar mochte, seine Tochter aber anders sah, als Kevin seine Freundin.
Später schaltete Alex den Fernseher ein. Sie sahen Arte und Zdf-Kultur – Dokus über den Regenwald und über Bands, die Kevin nicht kannte.
„Wie läuft’s eigentlich mit deinem Schreiben?“, fragte Kevin, um nicht zu schweigen.
„Gut, gut. Hab gerade was fertig. Kannst mal lesen, wenn du willst.“
„Klar.“
Alex stand auf und kam mit einem Stoß Papier zurück, zwei Büroklammern hielten die Seiten zusammen. „Soll ich den Fernseher derweil ausmachen?“
„Danke, geht schon.“
Die Geschichte erzählte aus dem Leben einer Frau. Sie war Bankkauffrau und schüchtern, mit 22 noch Jungfrau. Mehr erfuhr Kevin nicht über sie, denn im Fokus der Erzählung stand ihr Chef, ein Schönling sondergleichen und Liebhaber klassischer Musik – unfehlbar lief Chopin auf dem Teakholz-Plattenspieler, als die Angestellte in die Knie ging vor seinem Charme. Mit Finger, so zittrig, so aufgeregt, öffnete sie seine Hose und er stand souverän über ihr, auf dem Gesicht das Lächeln des Roués. Kevin fühlte sich an die Manga-Mädchen erinnert mit gespreizten Beinen und geschwollenen Brüsten, und an manche seiner Masturbations-Fantasien, wenn er mit seiner Lehrerin schlief oder der Kassiererin im Supermarkt.
„Hat’s dir gefallen?“
„Sind alle deine Geschichten so, nun, so explizit?“
„Ja. Hat mit den Verkaufsmöglichkeiten zu tun. Solche Sachen wird man am besten los. Die Leute wollen so was lesen. Meine Geschichte davor wurde in einer Anthologie veröffentlicht“
„Cool. Glückwunsch.“ Alex dankte mit einem Lächeln. „Spielt da eigentlich auch Eigeninteresse rein?“
„Wie meinst du das?“
„Nun ja, findest du es selbst toll über solche Sachen zu schreiben. Ich meine, erregt es dich?“
„Nein.“ Kevin überkam das Gefühl, sich verrannt zu haben. Eigentlich war die Sache als Scherz gedacht, aber Alex ging nicht darauf ein, Gesicht und Stimme blieben ernst.
Kevin sprach weiter: „Ich hab meinen 18. zu Hause gefeiert. Meine Eltern waren übers Wochenende auf einem Tennisturnier. Eigentlich hatte ich nur ein paar Freunde eingeladen. Aber natürlich hat jeder seinen Anhang mitgebracht. Am Ende war ich nur damit beschäftigt, mir Sorgen um die Einrichtung zu machen. Als ich durch den ersten Stock gehen, wollte schauen, ob alles in Ordnung ist, hör ich Stöhnen aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. Ich dachte, da vögeln zwei. Ich mach also die Tür auf, um die beiden rauszuschmeißen. Aber da sitzt nur ein Kerl vorm Fernseher und zieht sich einen Porno rein. Ist auch gar nicht überrascht mich zu sehen oder peinlich berührt. Fragt nur, ob ich mit schauen wolle. Er erklärt mir dann auch, dass er das häufiger mache. Also Pornos kucken. Aber nicht, um zu masturbieren, sondern als Unterhaltung. So wie andere Leute Liebeskomödien sehen. Und fängt dann auch die Gemeinsamkeiten runter zu rattern. Dass es in beiden Fällen klar definierte Rollen gibt, dass nur ein Schema variiert wird. Und die ganze Zeit versichert er, dass ihn das ganze sexuelle überhaupt nicht erregt. Ist nur sein Zeitvertreib. Aber während er redet und redet, bekomm ich meinen Blick einfach nicht von dem Ständer in seiner Hose los. Sah aus wie ein Zirkuszelt.“
„Stört es dich, wenn ich umschalte?“, fragte Alex.
„Nein, nein.“
Danach gab es lange kein Gespräch. Kevin wusste nicht, was er falsch gemacht hatte, gab sich aber die Schuld am Schweigen. Er hatte das Gefühl, mit Alex nicht klarzukommen. Der Sonnenschein wanderte durchs Zimmer. Später trafen sie Sara in der Stadt.
„Schlaf mir nicht wieder ein, ja?“
Mit einem Augenzwinkern verließ Sara ihr Zimmer. Kevin lag auf dem Bett und hörte Wasserrauschen im Badezimmer. Wangen und Ohren glühten vom Alkohol. Das Bild von Saras Gesicht, als das Blut auf ihren Körper tropfte, ging ihm nicht aus dem Kopf – ihre Mimik, eben noch von Lust beherrscht, gefror und sie schlug die Augen auf.
Im Bademantel betrat Sara das Zimmer.
„Du bist ja noch wach.“
„Dachtest du wirklich, ich würde wieder einschlafen.“
„Warum nicht?“
Kevin war verunsichert.
„Nun schau nicht so. Ich bin weder hässlich, noch ein Monster.“ Sie knipste das Licht aus. Im Dunkel hörte Kevin den Bademantel zu Boden gleiten. Der Körper seiner Freundin war ein Schattenriss gegen das Fenster. Er kniete sich hin und küsste ihre Lippen. Ihr Körper roch nach Bier und Moschus, ihr Mund schmeckte nach Zahnpasta.
Später lagen sie nebeneinander. Auf Kevins Körper trocknete der Schweiß, leichte Frostschauer liefen über Bauch und Arme. Er fühlte sich glücklich – alles war gut gegangen, vielleicht etwas schnell, aber ohne Nasenbluten.
„Bist du noch wach?“ Saras Stimme war ein Flüstern.
„Ja.“
„Kann ich dir was sagen?“
„Klar.“ Saras Zögern kam ihm seltsam vor. Er drehte sich auf die Seite, stützte den Kopf auf die Hand.
„Versteh das jetzt nicht falsch. Aber können wir beim Sex mal nicht was anders machen?“
„Was meinst du?“
„Naja, immer Missionarsstellung.“
„Findest du das langweilig?“
„Jetzt verstehst du es doch falsch.“
„Mach ich nicht.“
„Tut mir leid. Vergiss es, okay?“ Ihre Lippen streiften seinen Mund, ihre Finger streichelten seine Wange. „Schlaf gut. Ich liebe dich.“
Kevin lag noch lange wach und beobachtete das Mondlicht auf seiner Pilgerschaft durchs Zimmer.
Kevin schreckte aus dem Schlaf. Vorm Fenster glommen die Straßenlaternen neon-weiß und kalt. Ihm fror, Sara hatte seine Decke weggezogen. Halbaufgerichtet, das Kinn auf die Hand gestützt, betrachtete er ihr Gesicht. Selbst im Schlaf wirkte sie erwachsen. Ihr Haar umrahmte das Gesicht wie ein Dornenkranz. Von Verletzlichkeit keine Spur, Sara brauchte keinen Beschützter und niemanden, der ihr den Rücken stärkte.
Kevin wälzte sich aus dem Bett. Er ging duschen und saß, mit nassen Haaren und in Saras Bademantel gewickelt, vorm Fernseher, bis Alex aus seinem Zimmer kam. Dessen Gesicht war blass vom Schlaf, seine Frisur zerdrückt. Beim Gehen glich er einem Affen. „Schon wach?“ Und gähnte herzhaft. Kevin konnte Rachen und Zäpfchen sehen.
„Konnte nicht mehr schlafen.“
„Hat sie dir deine Decke geklaut? Du musst dich durchsetzten, musst Stärke beweisen. Nimm einfach, was dir gehört.“ Und er wankte ins Bad, während Kevin sitzen blieb und schlucken musste, dass Alex solche Dinge von Sara wusste. Vermutlich hatte er schon bei ihr geschlafen.
Zurück in der Küche, ein Handtuch um die Lenden gewickelt, fragte Alex: „Kommst du eigentlich mit zum Schwimmen?“
„Jo, klar.“
„Cool.“
Auf der Fahrt zum Schwimmbad sagte Sara kein Wort. Ihre Mütze ins Gesicht gezogen, die Arme verschränkt, verkroch sie sich in ihrem Sitz am Fenster. Hinter ihrem Kopf zogen Geschäftszeilen vorbei – gelbe Lichter, erste Kunden – und Kevin wusste nicht, ob er Schuld hatte an Saras Schweigen oder, ob seine Freundin ein Morgenmuffel war – sonst wachte er Stunden nach ihr auf, sie weckte ihn nie. Vielleicht lag’s auch am Wetter: Nebelschwanden befuhren wie Geisterautos die Straßen. Ihre Ränder leuchteten im Licht der Laternen. Von der Sonne sah Kevin nur den Wiederschein am Himmel, blass und grau.
Als sie das Schwimmbad betraten und die Welt hellblau wurde und ozongeschwängert, kehrte Saras Fröhlichkeit zurück – ein Lächeln teilte ihr Gesicht, sie lachte über einen Witz von Alex und verabschiedete sich vor den Umkleiden mit Kuss und Winken von Kevin. Er zog sich um, verschloss seine Sachen in einem der Schränke, duschte heiß und anhaltend.
Sara wartete vorm Schwimmbecken. Kevin hatte gedacht, sie würde im Bikini schwimmen, aber sie trug einen schwarzen Badeanzug, dazu Badekappe und Schwimmbrille. Auch Alex lief in Profiausrüstung auf und Kevin fühlte sich unpassend bekleidet mit seiner Bade-Shorts, die an Hawaii erinnerte und Surfer am Strand.
„Auf geht’s.“ Sara sprang vom Startblock, ihr Körper tauchte ohne Spritzen ins Wasser. Verschwommen schoss ihre Gestalt in der Tiefe vorwärts. Als sie auftauchte, zog sie mit ruhigen Armbewegungen davon. Alex sprang ihr nach.
Kevin ließ sich vom Beckenrand gleiten. Das Wasser war so kalt, dass er sich zum Atmen zwingen musste. Vor ihm lag eine freie Bahn und dahinter schwebte eine Uhr auf halber Hallenhöhe – ihr Sekundenzeiger kroch einen Viertelkreis und Kevin kraulte los. Bereits auf den ersten Meter versagte sein Atemrhythmus, er pumpte seine Lungen auf, bis er nicht mehr atmen konnte. Er hob den Kopf aus dem Wasser. Der Sekundenzeiger war fortgeschritten, die Bahn noch nicht zu Ende.
Zurück am Startblock gab Kevin auf. Er klammerte sich an den Beckenrand und hielt Ausschau nach Alex und Sara. Die Beiden zogen synchron durchs Wasser. Ihre Arme schnellten durch die Luft und stießen abwärts. Sie schwammen Bahn um Bahn.
„Hey, alles okay?“ Sara nahm ihre Schwimmbrille ab.
„Ja. Klar.“
„Wir schwimmen noch ein paar Runden. Wenn du willst, kannst du zum Whirlpool gehen. Wir kommen nach.“
Außerhalb des Beckens, Gänsehaut überzog Brust und Arme, fiel Kevin auf, wie leer das Schwimmbad war. Außer ihrer Dreiergruppe gab es nur ein Seniorenpaar, das träge seine Bahnen schwamm, und eine Mutter mit Kind im flachen Wasser – das Quieken der Kleinen füllte die Stille.
Im warmen Wasser schloss Kevin die Augen und die Müdigkeit schwappte in Wellen heran, sein Denken verlangsamte sich. Die Luftblasen fühlten sich kühl an auf der Haut.
„Hey, nicht schlafen.“ Alex und Sara setzten sich. Ihre atemlose Fröhlichkeit stach ab gegen Kevins Gefühl der Traurigkeit. Er verstand ihre Scherze nicht und ihre lachenden Gesichter erschienen ihm wie hinter Glas. Am liebsten wäre er gegangen. Und vielleicht würde Sara ihm folgen – ihre Finger, faltig vom Wasser, streichelten seine Wange und ihr Mund gab Worte wie Balsam: Ich liebe dich, Alex spielt keine Rolle.
„Was ist denn?“, fragte Sara. „Schlecht geschlafen?“
„Ach, nichts.“
Sie kamen in die Wohnung zurück, als die Sonne bereits gesunken war. Auf der Straße glühte erste Weihnachtsdeko. Sara war aufgekratzt, sie hatte getrunken - weit mehr als Kevin, dem heute weder Bier noch Cocktails schmeckten. Sie hing an seinem Arm und flüsterte ihm Schlafzimmerversprechen ins Ohr.
„Tut mir leid. Ich hab Kopfschmerzen.“
„Oh.“ Kurz huschte Enttäuschung über ihr Gesicht. „Soll ich dir etwas bringen? Willst du eine Aspirin?“
„Ich denke Schlaf ist am besten.“
Sara zog sich ihren Pyjama an, ein erwachsenes Modell in schwarz und grau, während Kevin sich im Bett verkroch. „Stört es dich, wenn ich noch lese?“
„Mach nur.“
„Gute Nacht dir und gute Besserung.“
Kevin drehte Sara den Rücken zu und sie las beim Licht der Nachttischlampe ein Buch, von dem er sicher war, dass er es nicht verstehen würde.
Als Kevin die Küche betrat – er hatte wieder lang geschlafen und fühlte sich müde und zerschlagen – saß Sara allein am Küchentisch, ein Lächeln im Gesicht, die Haare zu Stacheln frisiert.
„Morgen Langschläfer. Alex ist bereits los. Möchtest du Rührei.“ Sie klang so fröhlich, so bereit für den Tag. Er sah ihr ins Gesicht – das kleine Grübchen unterm Mund, die Nasenspitze, die eine Spur nach oben zeigte – und spürte die Distanz – 1 Meter Luftlinie, 6 Jahre Abstand und unendlich viele Kleinigkeiten: Sara mochte Sushi, Kevin nicht.
„Hey. Was wollen wir heute machen? Hast du Lust auf Kekse backen?“
„Tut mir leid, ich kann nicht.“
„Immer noch Kopfschmerzen?“
Kevin schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht.“ Auf ihrem Gesicht stand Überraschung geschrieben. „Ich fahr heute zu meinen Eltern. Ich finde es doch komisch, hier zu sein, und nicht mal kurz hallo zu sagen. Heut Abend bin ich wieder da.“
„Okay.“ Sara sah unglücklich aus. Kevin glaubte, sie wolle noch etwas sagen.
Das restliche Frühstück verlief in gedrückter Stimmung und Kevin unternahm keinen Versuch, etwas daran zu ändern. Sara wirkte nachdenklich und sprachlos, sie fixierte einen Punkt links von Kevins Kopf. Vorm Fenster schien die Sonne, Regen wäre Kevin lieber gewesen. So waren zu viele Menschen auf der Straße, als er die Wohnung verließ.
Mit der Straßenbahn fuhr er Richtung Innenstadt. Er betrat ein Café - rosa Wände, Stühle aus gehobenem Kunststoff - bestellte Tee und wartete, dass die Zeit verging. Seine Gedanken hingen an Sara. Der Tee, den eine Kellnerin mit roter Schürze und kleine Silberohrringen brachte, schmeckte fad. Nach zwei Schlucken ließ er ihn stehen. Die ersten Vormittage in Saras Wohnung kamen wieder – damals war Sommer gewesen und sie hatte bei offenem Fenster im Bett gesessen und die Menschen auf der Straße gehört und Sara lehnte den Kopf an seine Schulter und malte Figuren auf seine Brust, ihr Haar glänzte golden und Kevin küsste ihre Stirn.
Es wurde Nachmittag und die Sonne näherte sich den Giebeln der Häuser. Jeder Platz im Café war besetzt. Touristen, Familien, alte Ehepaare und Freunde vernichteten Kuchen, Törtchen und Sandgepäck; ihre Lippen schlürften Kaffee, Tee und Wasser. Die fremden Stimmen gingen Kevin auf die Nerven, aber er wollte nicht alleine sein.
Als er das Café verließ, schrieb er Sara eine Sms, dass er heute bei seinen Eltern schlief. Anschließend suchte er ein Hotel seiner Preisklasse.
Sein Handy klingelte und Kevin dachte, es sei Sara und wollte nicht abnehmen. Aber die Nummer des Anrufers war unbekannt.
„Kevin?“ Am Telefon klang Alex Stimme fremd und Kevin brauchte Zeit, um zu begreifen, wen er in der Leitung hatte. Er überlegte wieder aufzulegen.
„Ja.“
„Kannst du in einer halben Stunde am Hauptbahnhof sein?“
„Ja.“
„Ich warte bei den Straßenbahnen.“
Kevin erreichte den Bahnhof vor der Zeit und verbrachte zehn Minuten in einem Zeitungsladen, umgeben von Reisenden, die Koffer und Kinder mit sich zogen, ihre Gesichter genervt oder ausdruckslos, ihre Stimme zu viele, zu laut – und er wünschte allen den Tod. Die Vorstellung, über Bahnsteige voller Leichen zu wandeln, über Blut und Knochenmark, entlockte Kevin ein schiefes Lächeln.
Auch Alex kam zu früh. Vermummt mit Schal und Kapuze, winkte er Kevin. Durch leichten Schneefall gingen sie in ein nahes Café, wo Romantik-Kitsch an den Wänden hing und die Kellnerin ein grünes Hemd trug zur braunen Schürze. Alex bestellte einen Latte Macciatto, Kevin Tee.
„Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?“
„Nichts.“
Dass Alex den Kopf schüttelte, erinnerte Kevin an Sara.
„Hallo? Sie ist total fertig. Sie liegt auf dem Bett und heult. Jetzt schau nicht so überrascht.“ Kevin fühlte sich seltsam bei der Vorstellung, dass Sara seinetwegen weinte – er hatte sie noch nie weinen sehen und so drängten Filmsequenzen in sein Bewusstsein, einsame Tränen auf kalkweißer Wange, Heulkrämpfe und gerötete Augen, stumme Schreie, in den Armen das tote Kind. „Also, was ist los?“
„Habt ihr beiden was miteinander?“ Die Frage war so einfach.
„Was? Das ist dein Problem?“ Alex lachte so laut, dass Gäste von den anderen Tischen herübersahen. Kevin war peinlich berührt. „Entschuldigung, aber das ist totaler Schwachsinn.“
„Naja. Ihr, ich mein, du weißt fast alles von ihr.“
„Dafür muss ich sie doch nicht ficken. Du schläft schließlich mit ihr und weißt fast nichts.“ Alex blieb beim Kopfschütteln und Kevin fühlte sich dümmer denn je. „Eigentlich finde ich dich ganz nett. Aber manchmal kannst du echt ein Arschloch sein. Du hast nicht überrissen, wie Beziehungen laufen.“
„Tut mir leid.“
„Du hast es immer noch nicht kapiert. Du sollt dich nicht bei mir entschuldigen, sondern bei ihr.“ Kevin nickte, wieder fühlte er sich klein – ein Neuling, der nicht wusste wie der Hase lief und am Ende ohne Essen blieb. „Und noch was. Dass sie dir das mit dem Sex gesagt hat, heißt, dass sie dir vertraut. Denk mal drüber nach. Und jetzt hau ab.“
Die Sonne war bereits hinter die Häuser getaucht, nur ihr Widerschein erhellte noch den Himmel. Im Süden stand eine Wolkenbank, krebsrot und schwanger. Die Autos stockten im Feierabendverkehr, die Straßenbahnen quollen über von Menschen. Kevin lief über Bürgersteige, auf denen bereits der erste Streusplitt lag. Seine Wangen brannten. Vor dem Portal einer Kirche saß ein Obdachloser mit seinem Hund. Der Atem des Mannes kroch in Wolken aufwärts.
Kevin stand vor Saras Wohnung. Im Treppenhaus roch die Luft nach feuchter Tapete und Katzenfutter. Die Zeit verging. Er klingelte.
Lidschatten hatte Saras Tränen in schwarzen Linien festgehalten. Ihre Augen wirkten entzündet. Sie lächelte zaghaft, als suche sie alte Erinnerungen und Kevin fühlte sich schuldig. „Es tut mir leid.“
Sie ging voran in ihr Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, das Licht gelöscht – Schatten hockten auf Schreibtisch und Schrank. Die Luft roch verbraucht. Kevin setzte sich neben Sara aufs Bett. Ihr Blick verlor sich im Raum. Ihre Haare waren zerzaust wie nach unruhigem Schlaf. Zögernd berührte er ihre Schulter. Die Nervosität in Bauch und Knien erinnerte an die Unsicherheit der ersten Nacht. Auch damals war es Dunkel gewesen und er öffnete Knopf für Knopf ihre Blue, streifte ihre Hot-Pants ab. Wie ein Pin-Up-Girl lag sie auf dem Lacken, das Becken seitlich gedreht, dass ihre Scham verborgen blieb und ein Lächeln auf dem Gesicht – sie wusste um ihre Wirkung.
„Ich versteh dich nicht.“ Sara Stimme klang erstickt, als wäre sie nicht sicher, ob sie sprechen sollte. „Warum bist du weg?“
„Ich dachte Alex passt viel besser zu dir.“
„Ach, du Idiot.“ Sie weinte wieder – ihre Tränen waren die einer Sechszehnjährigen. Kevin nahm sie in den Arm und streichelte ihr Haar. Diesmal klebte kein Haarspray daran. Die Strähnen waren weich und seidig.
„Es tut mir leid.“
Schließlich wurde ihr Atem ruhiger und Kevin lauschte mit geschlossenen Augen auf das Ticken des Weckers und die Autos auf der Straße. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie vertraut Saras Zimmer roch, nach Yasmin und den Räucherkegeln, die sie manchmal aus Langweile abbrannte.
„Ich mach uns mal Tee.“
„Die Tassen …“
„Ich weiß.“
Vorm Fenster war es Nacht geworden. In der Küche schaltete Kevin das Licht an und setzte Wasser auf. Als dünner Strahl schoss Dampf aus der Tülle des Wasserkochers. Kevin goss die Teebeutel auf und kehrte zu Sara zurück. Sie hatte die Nachttischlampe angeknipst. Im gelben Licht wirkte der verwischte Lidschatten grotesk. Aber ihre Augen blickten nicht mehr traurig.
„Danke.“ Ihr Lächeln wurde kräftiger und sie blies mit gespitzten Lippen über den Tee – Wellen wanderten zum Tassenrand.
Kevin trank in kurzen Schlucken und der Tee kroch kochend die Speiseröhre hinab und wärmte von innen. Dagegen ließ Sara sich Zeit, sie hielt ihre Tasse noch in der Hand, als Kevin seinen ersten Kuss wagte, auf die Wange gehaucht, die Lippen berührten kaum ihre Haut. Die letzte Anspannung wich aus Saras Körper, ihre Schultern sackten herab, er dachte, sie würde wieder weinen, aber sie stellte ihre Tasse beiseite und suchte mit der Zunge seinen Mund, mit den Fingern sein Gesicht. Zaghaft wie beim ersten Mal fuhren Kevins Hände unter Pulli und T-Shirt, trennten voneinander Stoff und Haut – ihre Wärme, ihre Weichheit, ihre Brüste, die keine Halbkugeln waren, die Knospen steif und glänzend.
„Was möchtest du ausprobieren?“ Die Frage in ihr Ohr gehaucht und Kevin wusste, dass sie lächelte.
„Du darfst nicht lachen.“
„Mach ich nicht.“
„Das kannst du vorher gar nicht sagen.“ Sie biss ihn zärtlich in die Schulter.
„Also?“
„Kannst du in mein Ohr ejakulieren?“
„Wirklich?“
„Ja. Findest du das komisch?“
„Klar.“ Kevin grinste. „Aber was macht das schon.“
Kurz bevor er kam, verließ Kevin ihren Körper. Sara hatte den Kopf zur Seite gedreht und die Augen geschlossen. Schweiß glänzte auf Hals und Ohrmuschel. Dass Gefühl etwas Seltsames zu tun, überkam Kevin in Wellen. Er ejakulierte und füllte Saras Gehörgang mit Sperma.
Während Kevin auf dem Rücken lag, sein Herz schlug in Hals und Schläfen, stand Sara auf und verließ das Zimmer. Sie hielt den Kopf zur Seite geneigt und presste eine Hand auf ihr Ohr. Kevin fühlte sich leer, seine Gedanken schwiegen.
Frisch geduscht und im Bademantel kehrte Sara wieder. Kevin setzte sich auf. „Und wie war’s?“
„Nicht so toll. Ich hab immer noch das Gefühl, mein Ohr ist total verklebt.“
Kevin lachte. „Aber es hat sich gelohnt?“
„Natürlich. Und jetzt geh duschen, du stinkst.“
Wieder saß Kevin im Zug. Regen querte die Fensterscheibe in Diagonalen, die Landschaft dahinter erschien wie durch Milchglas betrachtet – Felder und Bauernhöfe nur fließende Flächen, Wälder wie aus dem Malkasten getuscht, braun, grau und schwarz. Die Flügel von Windrädern kraulten durch die Wolken.
Neben Kevin saß ein Mädchen. Ihr Haar war blond, ihr Rock zeigte viel Wollstrumpfhose. Sie hörte Musik über Kopfhörer, Kevin konnte das Schlagzeug und die Gitarren unterscheiden, manchmal sogar die Stimme des Sängers.
Das Gefühl, dass Sara mit jeder Minute weiter zurückfiel, nagte an Kevin. Er dachte an den Abschied – sie mit Tränen in den Augen und er um Worte verlegen, die Kehle trocken und abgeschnürt, und die Reisenden eilten vorüber, hunderte Menschen, die Familie und Freunde verließen, und Kevin fühlte sich den Fremden seltsam nah.
Sein Handy vibrierte zweimal – auf dem Bildschirm Saras Nachricht.