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Viel Vergnügen
Viel Vergnügen
„Gol!“ Mü drehte sich auf ihrem Diwan ins Licht der Sonne und blinzelte träge. Die Strahlen fielen durch Schleier wehender Seide und brachen sich in tausend Facetten im Kristall des Saals. Die Halle wurde vom Glanz des Lichts in das Zentrum eines gleißenden Diamanten verwandelt. Mü’s goldbestaubte Wimpern wippten in einem zitternden Tanz.
„Gol!“, rief sie erneut, dieses Mal mit einem leicht verärgerten Ton in der Stimme. Wie das leise Grollen eines herannahenden Sturms.
Gol hob in einer widerwilligen Bewegung den Kopf. Nur langsam löste sich sein weißes Haar vom dunklen Leder des wuchtigen Sessels, der hinter einem riesigen Schreibtisch thronte. Seine aristokratischen Gesichtszüge wirkten wie aus Granit gemeißelt. Das kantige Kinn schob sich energisch nach vorne. Dann endlich öffnete er die Augen. Kalt, blau. Augen, die Grausamkeit und Gefühllosigkeit ausstrahlten. Eine Erbarmungslosigkeit, die unermessliches Wissen und boshafte Intelligenz umarmte. Er würdigte sie keiner Antwort – noch nicht. Statt dessen hob er eine strichfeine Augenbraue.
„Gol, ich langweile mich!“ Mü streckte ihr schlankes, cremeweißes Bein und spannte die festen Wadenmuskeln ein wenig an. Gleichzeitig reckte sie ihren Fuß und rieb ihn sanft über die polierte Oberfläche ihrer Liege. Eine sinnliche, laszive Geste, die sie bis zur Perfektion beherrschte. Sie wusste, dass sie Gol’s Aufmerksamkeit fesseln musste, damit er sich länger als einen Herzschlag lang mit ihr beschäftigen würde. Nicht, dass er diese Pose nicht schon unzählige Male gesehen hatte. Aber vielleicht würde er ihre Bemühung zu schätzen wissen.
Sie überlegte schließlich, ob sie nicht ihr Gewand von der Schulter gleiten lassen sollte, als Gol schließlich ein müdes Seufzen von sich gab.
„Ich hatte diesen Schluck Cognac jetzt seit fünfzehn Jahren im Mund. Nur deinetwegen habe ich ihn heruntergeschluckt!“ Er klang ein wenig verdrießlich.
„Ob fünfzehn Jahre oder fünfzehn Millennien, was macht das für einen Unterschied?“ Gol bedachte sie mit einem herrisches Lächeln. „Ich wollte den Geschmack auskosten.“
„Und? Hast du?“ Mü hob ihren schlanken Hals und drehte ihr feingeschnittenes Gesicht weiter ins Licht. Sie genoss es, das warme Streicheln der Sonne zu spüren.
Gol schien zu überlegen. Er musste niemals überlegen. Es gab keine Frage, die er nicht hätte sofort beantworten können. Die Pause diente nur dazu, Mü zu zeigen, dass er allein beschloss, wann er ihr antworten würde und wann nicht. „Ja. Ich habe ihn ausgekostet. Er ist....banal.“ Gol grinste. Er schien sich an der Erkenntnis zu erfreuen, dass er fünfzehn Jahre auf das Probieren eines Cognacs verwendet hatte, der nur banal schmeckte. Seine Gedanken schienen wieder in zeitlose Sphären abzudriften.
„Kannst du mich nicht unterhalten? Ich langweile mich.“ Mü klang nun eindeutig ungeduldig. Und ein wenig weinerlich. Sie zog einen Schmollmund. Ihre dunkelroten Lippen sahen beinahe schwarz aus. Wie zwei überreife Kirschen. Gol konnte ihr Aroma in seiner Erinnerung schmecken. Er hob seine rechte Hand von der Schreibtischplatte und machte eine wegwerfende Bewegung. „Was wünschst du dir?“
Mü lächelte erfreut und beschleunigte das Schlagen ihres Herzens. Sie spürte den Strom ihres Blutes durch Adern und Venen fließen. Ein lebendiges Gefühl breitete sich wie eine warme Welle in ihr aus.
„Ich will Emotionen! Gol, schenkst du mir wieder Emotionen?“
Er ließ seinen Blick durch den Kristallsaal schweifen. Die Wände verloren sich in schwindelerregenden Höhen. Endlose Reihen von dicken, in wuchtiges Leder gebundenen Büchern erstreckten sich entlang der Wände und verschwanden in kilometerlangen Weiten. Er dachte einen Moment über die Bücher nach. Jeder Buchstabe auf jeder Seite eines jeden Buchs tauchte in seinem Geist auf. Er schritt durch das Gedankenkonstrukt seiner Bücher wie durch einen Garten und ließ seine Hände im Geiste über die zarten, pergamentdünnen Seiten wie über Rosenblüten und Kakteenstämme gleiten.
Mü musste ihre Ungeduld mit Gewalt zügeln. Sie wusste, dass Gol ihr für Äonen entgleiten konnte, wenn sie ihn jetzt zu sehr bedrängte oder gar verärgerte. Schließlich sah er kurz zu ihr herüber, ohne sie überhaupt wahrzunehmen.
„Das letzte Mal hat es dir doch auch nicht mehr sonderlich gefallen, meine Liebe! Du hast mir danach ständig vorgejammert, dass es zu kurz war. Es waren dir auch zu wenige. Und dieses Mal wird es nicht sechs Jahre dauern. Es werden nicht einmal sechs Stunden werden.“
Mü sah ihn in einem Anflug von Trotz an. „Du hast ihnen viel zu schnell erlaubt, sich so weit zu entwickeln! Sie hätten noch nicht so weit sein müssen! Früher war es lustiger, als sie noch Schwerter hatten!“ Gol überraschte sie – er stieß ein melodisches leises Lachen aus.
„Dafür war es dir dann aber nicht groß und befriedigend genug. Es gab auch viel zu wenig Frauen und Kinder für deinen Geschmack. Und hast du selbst mir nicht gesagt, dass die intensivsten Emotionen von ihren Müttern kommen?“ Mü spürte den Hauch der Erregung, als sie an die Emotionen dachte. Ihr Aroma, der Geruch, ihr Geräusch...diese sechs Jahre waren wirklich einzigartig gewesen! Und jetzt hatten sie inzwischen so viel mehr Möglichkeiten entwickelt.
„Du hast seit Anbeginn der Zeit Recht, Gol! Geliebter Gol! Du kannst etwas Neues erschaffen. Irgendwo anders. Diese sind ohnehin fast verbraucht. Lange werden sie mir nicht mehr Freude bereiten. Ewiger Gol!“
Er drehte seinen Sessel und sah aus der gigantischen Fensterfront hinter sich. Gewaltige, eisüberzogene Berge ragten in alle Richtungen in die Ferne. Ihre stahlblauen Gipfel stießen wie die Zinnen einer Burg in den wolkenlosen Himmel. Eisige Winde sangen ein sanftes, ewiges Lied. Ein unendliches, grenzenloses Gebirge. Er wollte sich nicht länger mit Mü unterhalten. Mit einer achtlosen Bewegung warf er ihr eine Kugel zu, die er ohne hinzusehen aus einer Schale holte. Sie sah aus wie ein gläserner Briefbeschwerer und es waren Wolkenschleier, blaue Weiten und grüne und brauen Flecken in sie eingeschlossen.
„Viel Vergnügen, Mü!“ Gol legte seinen Kopf zurück und schloss die Augen.
Präsident Foster sah mit rotunterlaufenen Augen zu seinem Stabschef herüber. General Berringer schluckte laut und trocken. Dann legte er langsam mit hängenden Schultern den Telefonhörer achtlos auf einen hohen Stapel Akten. Die Umschläge waren mit roten Stempeln und Warntafeln übersäht. Keiner der im fensterlosen Raum anwesenden Männer und Frauen beachtete sie. Jeder kannte ihren Inhalt und die Berichte. Nicht im Detail. Das war auch gar nicht nötig. Der grobe Überblick war schon katastrophal genug.
Der grauhaarige General musste zweimal ansetzen, bevor er seine Stimme weit genug im Griff hatte, damit sie nicht zitterte. Er war übernächtigt, hatte einen schlechten Atem und den Geschmack von zuviel Kaffee im Mund. Sein Kinn und der schlaffe Hals waren mit dunklen Bartstoppeln überzogen. Jack Berringer hatte es seit seinem ersten Tag beim Militär vor über 45 Jahren in den schwülheißen Schützengräben und selbst im Kampfeinsatz in Vietnam, Panama, Afghanistan und dem Irak geschafft, sich jeden Tag gründlich zu rasieren. Ihn jetzt in diesem Zustand zu sehen war das Furchteinflößendste, das der Präsident seit dem Beginn der Krise gesehen hatte.
„Mister President! MILCOM und Atlantic-Command habe beide bestätigt, dass es eine Nuklearwaffe war. Die achte Flotte hat 90% ihrer Schiffe verloren. Die Chinesen haben ihre Drohung tatsächlich wahr gemacht.“
„Diese verfluchten Scheißkerle!“, stieß Admiral Hauser mit hassverzerrter Stimme hervor. Sein Sohn war auf einem Flugzeugträger im chinesischen Meer stationiert gewesen und wehte wahrscheinlich gerade als radioaktive Brise in Richtung Asien. „Dafür kriegen sie die Quittung!“ Der Marineoffizier wirbelte zum Präsidenten herum. „Sir! Wir haben drei Raketen-U-Boote in optimaler Feuerreichweite. Diese verdammten gelben Bastarde werden nicht alle drei rechtzeitig erwischen. Mindestens eins wird seine Vögel noch in die Luft kriegen. Aber wir müssen uns sofort entscheiden!“
Der Präsident sah zu seinen militärischen Beratern. In den Gesichtern der hochdekorierten Männer spiegelte sich Wut und Entschlossenheit. Und in ihren Augen Hass.
Sein Stabschef blickte ihm offen ins Gesicht. „Wir haben Peking gewarnt, Mr. President. Mehr als deutlich. Schon seit dem Gefecht vor vier Tagen haben wir ihnen immer wieder gesagt, dass wir uns nicht zurückziehen werden. Wenn wir jetzt nicht handeln, haben sie gewonnen und wir verloren.“ Berringer stieß seinen Zeigefinger in Richtung der riesigen elektronischen Karte, auf der rote und blaue Symbole hin- und herwanderten. „Sie haben ihre strategischen Raketenstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Die Satelliten zeigen deutlich, dass sie mindestens 40 Geschosse sofort abfeuern können. Sir, wir haben jetzt nicht mehr viele Optionen. Entweder sie oder wir.“
Der Präsident stieß langsam die angestaute Luft aus seinen schmerzenden Lungen. Dann rieb er sich die brennenden Augen. Er war sehr müde. Seine beiden Kinder schliefen jetzt wahrscheinlich gerade. Sie würden zum Glück nichts spüren. Nach ein paar Augenblicken hob er den Kopf.
„Admiral Hauser. Geben Sie den U-Booten den Angriffsbefehl!“