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Vida
Regelmäßig lesen wir in der Zeitung von Menschen, die in Situationen geraten, bei denen man sich denkt: „Scheiße, zum Glück ist mir das nicht passiert.“ Dies ist einer von den Momenten. Wenn du an einen Stuhl gebunden bist und um dein Leben flehen musst weißt du, dass du etwas vermasselt hast. Die Rede ist von Louie. Louie hat Mist gebaut.
Hier riecht es nach Putzmittel. Zitrone. Aus irgendeinem unbekannten Grund muss ich dabei immer an einen Glatzkopf in weißem Shirt denken. Ich fand es schon immer befremdlich, dass Vida diesen Raum reinigen ließ. Würde der charakteristische metallische Blutgeruch in dem von uns liebevoll genannten „Prügelkeller“ doch jeden direkt nervös werden lassen. Stattdessen gibt es „frische Zitrone“. Louie hat weder Glatze noch weißes Shirt, dafür ganz viel Pech. Ihm werden Dinge angehängt, die er möglicherweise nicht getan hat. Louie war der Familie gegenüber stets loyal, nur ist er tollpatschig und unüberlegt genug, dass er ungeschützt eine leichte Zielscheibe war. Er wird des Hochverrats bezichtigt, soll Drogen an Zuhälter verkauft haben, woraufhin mehrere Prostituierte an Koks-Überdosen starben. Angeblich war das Koks mit zerriebenen Ibuprofentabletten gestreckt.
Vida wird alles tun, um ihr Familienimperium und alles, was damit in Verbindung steht, zu schützen. Von ihrem Vater geerbt, der es wiederum von seinem Vater geerbt hat, ist Vida die erste Frau in ihrer Blutlinie, die zu dem Privileg kommt diese Ansammlung an Unternehmen, die unter der Dachorganisation „Vitoria“ laufen, zu führen. Medizin, Haushaltschemie, Hygieneartikel...nennen sie mir ein Produkt und ich werde ihnen sagen, dass Vida Gonzalez ihre Finger auch dort im Spiel hat. Zugegebenermaßen sind manche Geschehnisse in „Vitoria“ nicht ganz legal, aber wie wir wissen: Für ein Omelett gehen auch ein paar Eier drauf. Und wir frühstücken täglich. Mann, den Satz wollte ich schon immer sagen.
Nach dem fünften Mal endlich beim Klau eines seiner Laster erwischt, wurde Louie als Jungspund von Vidas Dad, Vitor, rekrutiert. Louie besaß die Entschlossenheit und den Hunger, den dieses Geschäft bedingt. Er war der Mann für die unangenehmen Sachen, hat auch mal Menschen an den Kragen gepackt, um an Geld zu gelangen. Ich stieß, kurz vor Louie, auf eine ganz triviale Weise zu den Gonzalez: Ich kam aus einer anständigen Familie. Mein Vater arbeitete bei einem Zulieferer für Autoteile und meine Mutter war Lehrerin. Wir wohnten neben der Gonzalez-Familie, ich war der beste Schüler in meiner Klasse und gab Vida gegen Kleingeld etwas Nachhilfe. Mittlerweile ist das auch schon 20 Jahre her und Vida ist nicht nur meine Vorgesetzte, sondern auch meine Schwester, die ich nie hatte, aber immer wollte. Wenn ich sie sehe verspüre ich tiefsten Respekt für ihre Ambitionen, zugleich aber auch brüderliche Schutzinstinkte.
Louie war, wie sie es sich denken konnten, schon immer ein Rabauke. Vidas Vater hat sich sofort seiner angenommen und versucht, ihn zu formen und möglicherweise das Geschäft übernehmen zu lassen. War er doch immerhin männlich und ehrgeizig. Doch abgesehen von den Geburtstagskerzen auf seiner Torte nahm bei Louie nix zu. Er ist kaum aufnahmefähig, denkt weiterhin zu impulsiv und hinterfragt nicht seine Emotionen. So wirklich klar kam er damit nicht, dass jemand anderes den für ihn designierten Posten übernahm. Dann noch eine Frau. Letzten Endes sollte Vitor mit dieser Entscheidung Recht behalten: Seit fünf Jahren läuft es besser denn je für uns. Wir wachsen und eine Ende ist nicht in Sicht. Uns ging es noch nie so gut.
Und nun sitzt Louie hier. Nervös und die Augen verbunden, vermutlich in seiner eigenen Angstpisse eingeweicht. Es läuft eine Mischung aus Blut und Schweiß von seiner Stirn runter. Das weiße Stück Stoff um seine Augen erinnert an ein schmutziges Bettlaken eines zwölfjährigen Schulmädchens. Louie, du Narr. Wieso hast du das nur getan?
Mit der Glock in der Hand sagte Vida mir, sie wolle das hier selber erledigen. Normalerweise haben wir für die groben Dinge unsere Gorillas, die den Gnadenschuss geben, doch dieser Prozess hat einen einzigartigen Stellenwert für die Familie. Immerhin hat uns eine wichtige Person verraten.
„Du weißt, dass ich das nicht war. Warum sollte ich das tun, Vida?“, stöhnt Louie mit seinen letzten Energiereserven.
„Das frage ich mich weniger als du. Du bist immer noch verbittert, weil ich bevorzugt wurde. Das ist doch offensichtlich. Du hast dir alles versaut. Wie kann man nur ein so komfortables Leben aus Groll ablehnen?“
„Ich war es aber nicht. John kann es bezeugen“, kann ich, doch werde ich nicht.
Eine Stillepause von 15 Sekunden, die sich wie 15 Minuten anfühlen. Ein Auto fährt draußen am Gebäude vorbei, die Xenon-Scheinwerfer schmeißen ihr Licht durch das schmale Kellerfenster. Für kurz ist Louies braungebrutzelte Visage erstaunlich blass. Er reibt seine Füße aneinander, ich würde ihm aus Mitleid wahrscheinlich vor seinem Tod sogar die juckenden Knöchel kratzen, wenn das das Erlebnis irgendwie besser machen sollte. Er setzt zum letzten Effort an. Ich hoffe auf rettende, deeskalierende Worte:
„Du warst schon immer eine hinterlistige Fotze, Vida.“
„Fotze“. Es gab wenige Dinge, die Vida aus der Fassung brachten, doch dieses Wort ist für sie weiterhin wie ein Messer im Brustkorb. Es repräsentiert die Verachtung, die sie für ihr Geschlecht über all die Jahre ertragen musste. Sie legt ihren rechten Zeigefinger auf den Abzug. Vida ist sehr dankbar dafür, dass ich ihr Berater bin und ihre Ideen feinjustiere. Für mich wiederum ist es ein sicherer Weg in einer Position zu sein, in der ich Dinge lenke und dennoch nicht die erste Person bin, die dafür den bildlichen Nackenklatscher bei einem Fehler bekommt. Louie abzusägen stimmte ich nur widerwillig zu, solche Missgeschicke wären auf angenehmere Weisen lösbar. Doch hauptsächlich war ich froh, dass es nicht mich verdienterweise traf.
"Fotze ...", wiederholt sie.
Wie immer versuche ich unauffällig wegzugucken. Nach all der Zeit kann ich Menschen immer noch nicht sterben sehen. Vida drückt ab, fünfmal öfter als es notwendig war. Stellen zerplatzen in Form von roten Spritzern in Louies Gesicht. Kaum zu glauben, dass mein Nebenerwerb so enden würde.