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Vickys letzter Sommer
Vicky stand vor der alten Schminkkommode in ihrem Zimmer und während sie das Spiegelbild betrachtete, trocknete sie ihre blonden, langen Haare mit einem Handtuch. Neben den verblichenen Fotos in einem Schuhkarton unter ihrem Bett war die Kommode das einzige, was ihr von ihrer Mutter geblieben war. Sie zog die Shorts über ihre schmalen Hüften streifte ihr gelbes Lieblingstop über. Das Spiegelbild gefiel ihr. Bei dieser Hitze dürfe man schließlich auch mal etwas Haut zeigen, dachte sie. Doch obwohl sie bereits dreizehn, ja fast vierzehn war, wusste Vicky genau, wie ihr Vater reagieren würde, sobald sie herunter käme. Er saß morgens immer schon am Küchentisch, mit einem großen Becher Kaffee vor sich, und die Zeitung reichte ihm knapp bis zur Nasenspitze. Wenn sie sich, wie jetzt im Sommer, mal ein bisschen freizügiger anzog, sah er sie nur kurz durch seine dicken Brillengläser über die Zeitung hinweg an und richtete seine Augen dann wieder auf den Sportteil. Ganz beiläufig fragte er stets nach einer Weile:
„Und so willst du vor die Tür gehen? Naja.“
Vicky gab ihm darauf nie eine Antwort, das war ihr zu blöd. Und er erwartete vermutlich auch gar keine Antwort. Ihm musste es schließlich nicht gefallen, wie sie herumlief, sondern ihr. Sie band sich die goldene Mähne zu einem Zopf zusammen, ging zum Fenster und riss die Vorhänge auf. Das Sonnenlicht durchflutete den Raum.
„Ein herrlicher Morgen“, dachte sie.
Ihr Vater saß bereits am Tisch, als Vicky die Küche betrat. Er schaute sie kurz über die Zeitung hinweg an.
„Guten Morgen, Prinzessin.“
„Guten Morgen, Papa“, sagte Vicky, ihrem Vater den Rücken zugewandt, und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein.
„Hm, und so willst du vor die Tür gehen? Naja.“, murmelte er hinter der Zeitung und Vicky musste grinsen. Sie nahm einen großen Schluck und das Grinsen verging ihr, als sie sich umdrehte. Vor ihrem Vater stand eine Dose Bier. Seit er nicht mehr in der Fabrik arbeitete, fing er immer häufiger schon morgens an zu trinken und war bereits mittags voll. Aber es war nie so, dass er sie anschrie oder schlug oder gar anfasste – Gott nein! Das würde er nie tun. Sie war schließlich seine Prinzessin. Aber er wurde traurig, wenn er trank, noch trauriger als sonst. Und sie hasste es, ihren Vater so zu sehen.
„Und was hast du heute schönes vor, Prinzessin?“, fragte er und nahm einen großen Schluck aus der Dose.
„Ich will an den See. Zum Angeln“, antwortete Vicky. Bevor ihr Vater seinen Job verloren hatte, waren sie häufig gemeinsam angeln. Sie saßen dann auf den alten Campingstühlen nebeneinander am See und warfen die Köder aus. Mal redeten sie stundenlang über alle möglichen Dinge und ein anderes Mal schwiegen sie nur. So oder so, Vicky hatte diese Zeit mit ihrem Vater immer genossen.
„Willst du nicht mitkommen?“, fragte Vicky.
„Ach nein, Prinzessin. Ich …“ fing er an, aber stockte kurz. „Ich habe hier noch einiges zu erledigen“, beendete er den Satz, während er auf die Bierdose schaute. Er tat ihr leid. Aber es konnte doch nicht ihre Aufgabe sein, sich um ihn zu kümmern. Sie war schließlich erst dreizehn und er war alt genug.
„Alles klar Papa. Bis später“, sagte Vicky, griff nach ihrer Angel, schnappte sich die Köderbox und zog die Haustür hinter sich zu. Sie blieb einen Moment vor der geschlossenen Tür stehen, bevor sie sich auf den Weg machte.
Der alte Bus der Linie 202 war fast leer, als Vicky einstieg. In der Reihe hinter dem Fahrer saßen zwei ältere Damen, die sich schick gemacht hatten, wie es nur Damen dieses Alters taten. Sie trugen bunte Kostüme, dünne Handschuhe und auffällige Hüte. Mehrere Reihen dahinter saß ein junges Pärchen dicht nebeneinander, ja fast schon aufeinander. Sie flüsterten sich irgendetwas ins Ohr, mit Sicherheit etwas unanständiges, kicherten dann und küssten sich wild und feucht. In der letzten Reihe saß ein düster dreinschauender Punk mit grün gefärbten Haaren und Metall im Gesicht. Vicky entschied sich, hinter den älteren, bunten Damen Platz zu nehmen und ließ sich auf einen staubigen Sitz fallen. Es war unglaublich heiß und stickig. Draußen mussten es bereits dreißig Grad sein, doch hier im Bus waren es gut vierzig, war sich Vicky sicher. Immer wieder wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, damit er nicht in ihre Augen lief. Sie musste an ihre Freundinnen denken, die über die Ferien an die tollsten Orte gereist waren und den Sommer vermutlich am Pool verbrachten. Ihr Vater hatte sie gefragt, ob sie auch in den Urlaub fahren wolle. Doch sie hatte gewusst, dass dafür eigentlich kein Geld übrig war, also sagte sie ihm, sie würde gerne einfach zu Hause bleiben. Aber jetzt, wo sie in diesem stickigen, alten Bus saß und durch die Scheiben auf die durstigen Felder links und rechts von der Straße blickte, wollte sie überall sein, nur nicht hier.
Vicky stieg aus dem Bus und atmete tief ein. Sie war sich sicher, dass sie keine Minute länger in dieser Hitze ausgehalten hätte. Sie stand mit ihrer Angel in der einen und mit der Köderbox in der anderen Hand auf dem Schotterparkplatz einer heruntergekommenen Fernfahrerkneipe. Der Bus fuhr weiter und unzählige Kilometer heißen Asphalts lagen vor ihm, bevor er in der nächsten Stadt Halt machen würde.
„Dann wollen wir uns mal das Abendessen angeln“, murmelte Vicky. Aber natürlich sagte sie das nur so dahin, denn wenn sie tatsächlich mal einen Fisch fing, dann ließ sie ihn wieder frei. Weder waren die Fische groß genug, um ein anständiges Mahl abzugeben, noch konnte sie sich überwinden, sie auszunehmen. Sie marschierte los und folgte einem schmalen Pfad vorbei an der schäbigen Spelunke, wie Lisa die alte Kneipe nannte. Lisa war die einzige ihrer Freundinnen, die genauso gerne angelte wie sie selbst und auch die erste Freundin, nachdem sie vor drei Jahren mit ihrem Vater hier hergezogen war. Die anderen meinten, Angeln sei ein Hobby nur für Jungs und zogen die beiden damit auf. Aber beim Angeln konnte man gut quatschen und lästern, also warum sollten nicht auch Mädchen angeln? Außerdem gab es in dieser Einöde sowieso nicht viel anderes zu tun. Und den ganzen Tag im Shopping Center rumhängen wie die anderen, das war Vicky zu blöd.
Nach einer guten halben Stunde erreichte sie den kleinen See, an dem sie früher so oft mit ihrem Vater, zuletzt aber nur noch mit Lisa geangelt hatte. Er lag still inmitten eines großen Waldgebietes und die Äste alter Laubbäume ragten von allen Seiten über das Wasser. Vicky setzte sich auf die morschen Holzbalken des kurzen Stegs, der ein paar Meter über das schilfbewachsene Ufer führte und ließ die Beine baumeln. Sie stellte die Köderbox neben sich ab und befestigte einen kleinen Blinker am Haken. Ihr Vater hatte ihr einmal gezeigt, wie man mit Lebendködern angelt, doch einem kleinen Wurm einen Angelhaken durch den Körper zu jagen – nein, das brachte sie nicht übers Herz. Furchtbar eklig war es noch dazu und sie war schließlich immer noch ein Mädchen. Sie warf die Angel aus und der bunte Blinker schimmerte kurz in der Sonne, bevor er platschend ins Wasser tauchte. Während sie so dasaß und den Blick über die ruhige Wasseroberfläche schweifen ließ, versammelte sich eine Schwadron Mücken – ein beliebter Ausdruck ihres Vaters – um ihren Kopf, die sie durch wiederholtes Wedeln mit den Armen versuchte zu vertreiben. Einige der ganz hartnäckigen Soldaten fanden den Tod durch einen Schlag ihrer flachen Hand auf der nackten Haut. Der Blinker trieb weiter im Wasser und sie dachte an Lisa, die in Australien wahrscheinlich gerade zu einem Korallenriff hinab tauchte – oder vielleicht auch nicht, da Australien in einer völlig anderen Zeitzone lag – und an ihren Vater, der mit ziemlicher Sicherheit noch immer am Küchentisch saß und Bier trank, und an ihre Mutter, die sie und ihr Vater immer noch schrecklich vermissten, auch wenn es Vicky immer schwerer fiel, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Sie verlor sich immer mehr in diesen Gedanken und zuckte heftig zusammen, als plötzlich neben ihr ein metallener Koffer auf die Holzbalken krachte.
„Petri Heil, meine Kleine“, stöhnte ein hochgewachsener, älterer Mann und ließ sich neben ihr nieder.
„Petri Dank“, antwortete Vicky reflexartig, obwohl der Schreck immer noch tief in ihren Knochen saß. Sie und ihr Vater hatten sich auf diese Weise immer einen guten Morgen gewünscht, bevor sie zum Angeln aufgebrochen waren.
„Beißen sie heute?“, fragte der Fremde, während er einen Angelhaken durch einen sich windenden Wurm trieb.
„Bislang noch nicht“, antwortete Vicky leise und schaute schüchtern zu ihm herüber. Er hatte ein faltiges Gesicht und einen grauen Weihnachtsmannbart, der sich über der Oberlippe gelblich verfärbt hatte. Der Mann holte eine selbstgedrehte Zigarette aus der Brusttasche seiner ölverschmierten Latzhose, steckte sie sich in den Mund und zündete sie an. Nach jedem Zug legte er den Kopf in den Nacken und blies die Rauchwolke gen Himmel. Die Angel hielt er in riesigen, schmutzigen Händen und auch seine Finger erschienen Vicky unglaublich lang und unter den Nägeln hatte sich reichlich Dreck angesammelt. Sie fühlte sich irgendwie unwohl, während der Mann nur still neben ihr saß, rauchte und aufs Wasser schaute.
Vicky und der Fremde hockten eine ganze Zeit schweigend nebeneinander und die Schwadron Mücken hatte sich in zwei Einheiten geteilt und umschwirrte je einen der beiden Köpfe.
Plötzlich griff der Alte in seinen Metallkoffer und holte eine Dose Cola heraus.
„Magst ne Limo?“, fragte er, nachdem eine gefühlte Ewigkeit Stille geherrscht hatte, und hielt ihr die Dose hin.
„Nee, danke.“
„Ganz allein hier draußen?“, fragte der Alte und schaute sich um.
„Ja“, sagte Vicky und bereute diese Antwort sofort.
Er legte die Dose zurück in den Koffer, rauchte eine weitere Zigarette und sie saßen wieder schweigend nebeneinander. Doch in Vicky tobte es. Sie merkte, wie der Mann sie immer wieder anschaute. Und sie wusste, hier draußen würde niemand ihre Schreie hören. Sie fragte sich, ob sie schneller laufen könnte als der Alte. Sie rechnete sich ihre Chancen aus, sollte sie sich wehren müssen. Doch sie wurde durch ein surrendes Geräusch aus diesen Gedanken gerissen.
„Ich muss los“, sagte der Fremde und drehte die Angelspule. Vicky starrte ihn an.
„Hab heut meine Enkel bei mir. Müssen beide ungefähr dein Alter sein. Ich pass auf sie auf, wenn ihre Mutter auf Arbeit is.“
Er verstaute seinen Kram im Koffer, schnipste die Zigarette in den See und verabschiedete sich: „Viel Erfolg noch!“
Er schlurfte ein paar Schritte, blieb dann nochmal stehen.
„Pass auf dich auf, Kleine“, sagte er und setzte seinen Weg fort.
„Danke, das mach ich“, rief Vicky ihm hinterher. Sie seufzte erleichtert. Einen Schisser, so würde Lisa sie nennen, wenn sie ihr diese Geschichte erzählte. Sie hatte sich verrückt gemacht, wegen eines netten Opas, der ihr eine Cola anbot. Sie musste über diese unbegründete Panik lachen.
Es musste um die Mittagszeit sein, als Vicky merkte, dass die unerbittlich herab scheinende Sonne sie müde und träge gemacht hatte. Sie holte den Köder ein und legte sich mit geschlossenen Augen rücklings auf den Steg. Das Holz fühlte sich heiß an unter ihren nackten Armen und Beinen und die Mücken flogen unaufhörlich ihre Angriffe. Hinzu kam, dass sie allmählich Hunger und Durst verspürte. An die Verpflegung dachte Lisa sonst immer. So musste Vicky sich eingestehen, dass sie alleine vermutlich gar nicht überlebensfähig wäre und grinste bei diesem Gedanken. Es war Zeit nach Hause zu fahren. Dann merkte sie, dass sie plötzlich im Schatten lag.
„Hallo, junge Dame. Heute schon was gefangen?“, hörte Vicky eine Männerstimme über sich und schreckte auf. Sie blinzelte ein paar Mal, bevor sich die schemenhafte Gestalt vor ihr in einen Mann verwandelte, den sie kannte. Es war Tom, ein ehemaliger Arbeitskollege ihres Vaters. Er war früher häufig bei ihnen zuhause und hatte mit ihrem Vater nach Feierabend ein paar Bier getrunken. Er war immer freundlich, brachte ihr manchmal ein Kuscheltier mit und schien immer ein Lächeln auf den Lippen zu haben. Aber seit ihr Vater den Job verloren hatte, kam auch Tom nicht mehr vorbei. Aber nun stand er grinsend vor ihr und schaute auf sie herunter.
„Wie geht’s deinem Papa?“, fragte Tom und sah sie immer noch an.
„Ganz gut“, sagte Vicky und setzte sich im Schneidersitz hin.
„Das ist schön“, sagte Tom. „Das ist schön.“
Vögel zwitscherten in den Baumkronen.
„Schönes Wetter, nicht?“, fragte er.
„Ja schon.“
„Und so schön still hier draußen, nicht?“, fügte er strahlend hinzu und steckte sich ein Pfefferminz in den Mund.
„Ja schon.“
„Und, was hast du noch schönes in den Ferien vor?“, fragte Tom und ging ganz dicht vor ihr in die Hocke.
„Nichts Besonderes. Wissen Sie, Tom, ich wollte eigentlich gerade nach Hause und …“, begann Vicky, doch Tom unterbrach sie.
„Ich nehm dich mit! Kein Problem“, sagte er und sprang auf.
„Ach was, das brauchen Sie nicht.“
„Doch, doch! Was soll denn dein Papa von mir denken, es liegt doch schließlich auf dem Weg. Pack zusammen und wir düsen los.“
Tom schien richtig aufgeregt. Vicky nahm zögernd ihre Angel und die Köderbox. Gemeinsam gingen sie den schmalen Pfad entlang zum Schotterparkplatz, wo Toms Auto stand.
In einem alten Ford fuhren sie die Landstraße zwischen den ausgedörrten Äckern entlang und das Radio dudelte irgendeinen Song.
„Ich habe deinen Papa schon seit Ewigkeiten nicht gesehen“, sagte Tom irgendwann. „Wie geht’s ihm denn?“
„Ganz gut“, antwortete Vicky wieder.
„Das ist schön.“ Er schob sich noch ein Pfefferminz in den Mund.
„Mensch, aber toll, dass ich dich mal wiedersehe, Vicky“, strahlte er. „Du bist groß geworden – und so hübsch.“ Er legte die Hand auf ihr nacktes Bein und drückte etwas zu und das war ihr unangenehm. Aber sie sagte nichts.
„So ein hübsches Mädchen hat doch bestimmt einen Freund?“, fragte er, immer noch strahlend und strich ihr dabei übers blonde Haar.
Auch das war ihr unangenehm. Sie schaute aus dem Fenster und sah ihr Haus vorbeiziehen.
„Sie sind zu weit gefahren“, sagte Vicky und schaute über die Schulter zu dem sich entfernenden Pick-up ihres Vaters.
„Was? Achso. Nein, ich wollte dir noch was zeigen. Eine kleine Überraschung.“, meinte Tom nur und lächelte jetzt noch breiter.
Sie hielten auf einem fast zugewachsenen Waldweg und Vicky schaute sich nach allen Seiten um. Tom steckte sich noch ein Pfefferminz in den Mund und stieg aus dem Wagen. Sie hatte ein Gefühl in der Magengegend, wie sie es am ersten Tag in der neuen Schule hatte, nachdem sie und ihr Vater hergezogen waren. Sie wusste damals nicht, was sie dort erwarte, aber was es auch sein mochte, es war unausweichlich. Und genau dieses Gefühl verspürte sie jetzt. Tom stand lächelnd vor der Motorhaube des Fords und machte ihr mit einer Handbewegung deutlich, sie solle aussteigen. Er führte sie einen kurzen Pfad entlang, der in eine Lichtung mündete.
„Da ist er! Was sagst du?“, sagte Tom begeistert.
Vicky starrte auf einen alten Wohnwagen, der am Rande der verlassenen Lichtung stand. Die schmierigen Fenster waren mit Rollos zugezogen.
„Hier komme ich gerne her, um abzuschalten. Is ganz gemütlich da drinnen.“, sagte Tom
Er öffnete die Tür des Campers und schaute sie an.
„Wenn du magst, darfst du ihn auch benutzen - wenn du mal alleine sein willst. Komm, wir gehen rein“, sagte Tom und grinste sie wieder breit an. Vicky blieb regungslos stehen. Sie wollte nicht hinein. Das Gefühl im Bauch war nun deutlich schlimmer als damals am ersten Tag in der neuen Schule.
„Na komm schon“, sagte er lachend und zog sie schroff am Arm. Dann schloss er die Tür.
Es war heiß und stickig in dem alten Wohnwagen und es war nicht viel mehr darin als ein gepolsterter Stuhl und eine Matratze auf dem Boden. Vicky blieb an der Tür stehen und ihr war schlecht und die Beine wurden ihr zittrig. Tom ließ sich auf die Matratze fallen und klatschte mit den flachen Händen auf die Oberschenkel.
„So, da sind wir“, sagte er und strahlte sie wieder an. „Na komm schon, setz dich doch zu mir“, er klopfte dabei neben sich auf die Matratze. Sie wollte nicht zu ihm herüber gehen und sie wollte sich nicht neben ihn setzen. Aber ihre wackeligen Beine machten sich selbstständig und so saß sie dann doch neben ihm.
„Du bist wirklich schön, Vicky“, sagte Tom und massierte ihren Nacken. Sie saß nur stumm da und starrte auf ihre Hände, die im Schoß ruhten.
„Eine richtige junge Frau bist du geworden.“
Mit der anderen Hand streichelte er ihr über die nackten Beine. Sie starrte weiter hinunter. Obwohl es heiß war, lag der Schweiß eiskalt auf ihrer Haut und sie fühlte sich wie eingefroren und ihr war schwindelig. Sie schloss ihre Augen.
Ihr Kopf war zur Seite gedreht, als sie die Augen öffnete und sie sah ihr zerrissenes gelbes Top auf dem Boden des alten Wohnwagens liegen. Sein Körper lag schwer auf ihrem und sie roch seinen süßlich-minzigen Atem und weiter unten tat es schrecklich weh. Es war so stickig, dass sie kaum atmen konnte und heiße Tränen liefen ihre Wangen hinab. Ein letztes Mal rotierten die Gedanken. Sie dachte an Lisa, an ihren Vater und an ihre tote Mutter und die Bilder verschwammen. Dann war er fertig.
Vickys Vater saß auf einem alten Campingstuhl am Ufer des kleinen Sees, während die Sonne langsam hinter den Laubbäumen verschwand. Leise surrte die Angelspule in seiner Hand.
„Ich sprech nich gern drüber – aber ich denk jeden verfluchten Tag an sie. Ich vermisse sie schrecklich“, sagte er. Vicky hatte nie erlebt, dass ihr Vater tatsächlich über seine Gefühle sprach. Lieber machte er Witze oder blieb einfach stumm.
„Und ich glaube nicht, dass das jemals aufhört“, fügte er hinzu und starrte mit feuchten Augen aufs Wasser. Die letzten Sonnenstrahlen färbten den See orange.
„Das braucht Zeit“, sagte der alte Mann im Campingstuhl neben ihm. Er rauchte eine Zigarette und blies den Rauch gen Himmel. „Das braucht einfach Zeit“, wiederholte er.
Vickys Vater fuhr wieder häufiger raus zum Angeln an den kleinen See. Hier fühlte er sich ihr näher – hier, wo man sie wenige Tage nach dem Verschwinden aus dem Wasser zog, eingewickelt in eine Plane und mit wassergefüllten Lungen. Häufig traf er hier den alten Mann und sie sprachen über Vicky und Vickys Mutter und manchmal saßen sie auch einfach nur da und schwiegen, während die Sonne unterging.