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Via condotti
Er küsste sie sanft auf den Mund, berührte sacht ihr Haar, lauschte dem Summen der Apparate. Dann nickte er seinem Freund zu. Leise, bemüht kein Geräusch zu machen, verließen sie das Krankenzimmer.
Als sie auf den Gang hinaustraten, schmerzte das grelle Licht der Stationsbeleuchtung in den Augen. Eine Schwester schob einen voll beladenen Medikamentenwagen an ihnen vorbei, lächelte. Vincenzo lächelte zurück, verlangsamte seine Schritte und zeigte in Richtung eines Aufenthaltsraumes. „Komm, trinken wir noch einen Espresso, plaudern wir ein bisschen.“
Er führte Elias zielstrebig zu einem Ecktisch am Fenster. Der Raum hatte eine klinisch saubere Atmosphäre. Die Stoffblumen am Tisch waren in dem gleichen gelben Farbton gehalten wie die chromgefassten Plastikstühle. Die betont freundliche Farbe sollte von den Schmerzen und Ängsten ablenken, gute Stimmung verbreiten. Meist vergeblich.
Nur ein gerahmtes Kalenderblatt hing über einer Anrichte, sonst waren die Wände kahl. Auf einem der Tische standen ein paar leere Blumenvasen. Während Elias Platz nahm, holte Vincenzo Kaffee aus dem Automaten. Dann setzte er sich auf einen der umstehenden Stühle und betrachtete Elias. Er machte sich Sorgen um den Freund: „Alles in Ordnung?“
Dieser hob nur Schultern und Augenbrauen, presste die Lippen aufeinander, hob die Hand mit einer Geste ins Leere. Sein Blick glitt an Vincenzo vorbei, verlor sich in den Zwischenräumen des Fenstergitters. Krähen sammelten sich über dem gegenüberliegenden Pavillon. Ein Krächzen und Kreischen, das keinen Sinn machte.
Vincenzo ertrug das Schweigen des Freundes kaum. Er meinte, etwas tun, oder wenigstens etwas sagen zu müssen. „Du weißt, du musst deinen Schmerz nicht vor mir verbergen. Ich brauche dir nicht erst zu sagen wie sehr ich meine Maria liebe, mit ihr zusammengewachsen bin im Lauf der Jahre. Wenn einem von uns so etwas passieren würde, dann ...“ Er konnte den Satz nicht vollenden, Tränen füllten seine Augen. Dieser Besuch bei Carla hatte ihn mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert. Seine Frau zu verlieren hieße, selbst verloren zu sein.
Elias richtete sich in seinem Sessel auf, nahm zwei Stück Würfelzucker, rührte sie langsam in den schwarzen Kaffee. Wie hätte er Vincenzo jene Liebe erklären sollen, die ihn und Carla seit mehr als zwanzig Jahren verband? Zu unterschiedlich war ihre Auffassung, über das, was Liebe überhaupt war.
"Weißt du, Vicenzo, es gab da einen Abend am Strand, in der Nähe des kleinen Fischlokals. Du weißt doch, wo wir früher oft Sardinen aßen, guten Wein tranken. Liegt schon ein paar Jahre zurück.“
Vincenzo erinnerte sich gut und gerne an das kleine gemütliche Gasthaus am Strand. Nirgends gab es besseren Fisch, frischeres Brot.
Elias erzählte weiter als er das Aufblitzen der Erinnerung in den Augen des Freundes erkannte. „Es gab einen Abend, irgendwann im Spätsommer, wo wir eben dort zusammentrafen. Der Wind war den ganzen Tag über schon ziemlich heftig gewesen. Die Wellen kräuselten sich und brachen an den Felsen." Er schloss die Augen, atmete tief. Er schmeckte die salzige Luft in der Erinnerung, hörte das Lachen von Kindern, die ganz in der Nähe nach Muscheln suchten. Das Rot des Rettungsbootes hob sich deutlich von der graugrünen Sturmszenerie ab.
"Carla, meine Carla. Ihr kurzes Haar war ganz zerzaust.“ Er machte lächelnd verwirrende Bewegungen durch die Luft. „Sie lief gegen den Wind und lachte. Sie sah so lebendig aus." Er sah sie in geistigen Bildern vor sich und schüttelte weiter lächelnd den Kopf.
Langsam hob er die Tasse an den Mund, trank vom heißen Kaffee. Es tat gut das Brennen zu fühlen, überhaupt etwas zu fühlen. Danach behielt er Tasse und Teller in der Hand und schaute seinen Freund direkt an.
"Das hatte mich von Anfang an fasziniert an ihr. Weißt du? Während ich meinte, im Spiel der Gesellschaft ständig etwas erreichen zu müssen, immer auf der Suche nach Zielen, nach Herausforderungen war, lebte sie einfach. Bis heute hat sie sich diese Neugierde auf das Leben, diese Freude am Augenblick erhalten."
Eine alte Dame betrat den Raum, spürte, dass sie störte. Sie entschuldigte sich, nahm eine der leeren Vasen und schloss leise wieder die Tür hinter sich. Die Gegenwart war erfüllt vom Ticken der Wanduhr. Zeit wurde im Sekundenrhythmus zerhackt. Jedes Scheibchen versank im Strom der Vergangenheit.
„Wo war ich gerade?“ sagte Elias und runzelte kurz die Stirn. „Ach, ja. Bei Carlas Lebendigkeit, nicht wahr? Sie war an diesem Abend begeistert vom Sturm, vom kalten Sand unter ihren Füßen. Mir blieb gar nichts übrig, als mich von ihrem anspruchslosen Glück anstecken zu lassen.“
Wieder trank er einen Schluck, spürte der Wärme nach, die sich in seinem Inneren ausbreitete. „Während dieses Spaziergangs nahm ich sie einmal in den Arm." Er hob machtlos die Schultern. "Ich war so verliebt. Ich sagte ihr, wie sehr ich sie brauche und ich weiß noch, wie sehr mich ihr Blick verwirrte, mit dem sie mich ansah. "Du brauchst mich doch auch, Carla! Brauchst du mich?´ fragte ich sie. Unsicher geworden, schob sie ein klein wenig von mir, beobachtete sie. Und weißt du was sie sagte, Vincenzo?"
Der zuckte etwas ungeduldig mit den Achseln. "Nun, was schon? Ja und nochmals ja wird sie gesagt haben" antwortete Vincenzo. Er gestikulierte dabei mit hoch erhobener Augenbraue und drehte die Hand mehrmals durch die Luft. „Ja, wird sie gesagt haben. Natürlich brauchte sie dich auch.“
Elias beugte sich dem Freund entgegen, zog den Kopf zwischen die Schultern und blickte geradeaus in die Augen seines Gegenübers. "Nein, das sagte sie nicht." Dann lehnte er sich entspannt wieder zurück, blickte hinüber zu den Krähen. Zwischen ihren schwarzen Flügeln hindurch sah er seine Frau vor sich, sah, über die Zeit hinweg, in ihre Augen. "Ich brauche dich nicht. Das sagte sie. Sie sagte das ganz ernst.“
Elias Augen bekamen einen verdächtigen Glanz. „Dann, mein Freund, nahm sie mein Gesicht in ihre Hände, küsste mich mit einer unglaublichen Sanftheit und sagte: Trotzdem bin ich da, nach all den Jahren, so sehr liebe ich dich. Ich bin bei dir weil ich dich mehr liebe als alles Andere auf der Welt. Nicht, weil ich dich brauche."
Elias Augen suchten den Blick des Freundes. "Verstehst du Vincenzo? Sie war frei und dennoch teilte sie ihr Leben mit mir. Nicht weil sie nicht anders konnte, sondern weil sie mich liebte."
Vincenzo verstand nicht. Der tiefere Sinn dieser Worte blieb ihm verborgen, aber er nickte. Er begriff, dass er gar nicht zu verstehen brauchte. Er spielte mit dem Löffel. Seine Hand zitterte und er legte ihn an den Tellerrand. Er hatte Schwierigkeiten seine Frage zu formulieren.
"Der Arzt meinte doch, es wäre noch nicht abzuschätzen, welche Auswirkungen der Schlaganfall gehabt hat, nicht wahr? Was, Elias, was wirst du tun, wenn das Schlimmste, also ... " setzte er unbeholfen an. "..wenn sie nun stirbt?" fragte Vincenzo und sprach damit das Unaussprechliche aus.
Elias seufzte und wischte sich reflexartig über die Augen. Versuchte, den Gedanken gleichsam fortzuwischen. Aber er war ausgesprochen, hing in der Luft.
"Dann, Vincenzo, dann werde ich weiterleben. Ich werde leben für sie. Ich werde durch den Garten gehen, ihr die jungen Triebe im Frühling zeigen, den Wind fühlen den sie so liebte und ich werde sie weiterhin lieben. Ich werde sie lieben, so wie ich es immer getan habe."
Stille machte sich breit zwischen den beiden Männern. Leise hörte man vom Gang her die Geräusche klappernden Geschirrs. Das viel zu früh angesetzte Abendessen war beendet. Ein Arzt wurde über Lautsprecher in die Notaufnahme gerufen. Draußen ging der Tag langsam in den Abend über. Es hatte zu regnen begonnen. Schwere Tropfen prasselten gegen die Fensterscheibe. Die Zeit floss zäh dahin, weiter der Vergangenheit entgegen.
Elias stand auf und trat ans Fenster. Vereinzelt durchbrachen bunte Regenschirme die frühe Dunkelheit. Er dachte an einen anderen verregneten November vor mehr als zwanzig Jahren. Die anstrengende Scheidung von seiner ersten Frau war vorüber. Der monatelange Kampf um fragwürdige Werte hatte ihn bitter gemacht.
Eines Nachmittags betrat er ein überfülltes Bistro um Verträge und geschäftliche Dokumente durchzusehen und einen Espresso zu trinken.
An einem der Tisch saß sie und blätterte in einer Zeitschrift. Diesen Moment, diesen Augenblick, hätte er immer und überall sofort abrufen können. Sie hatte ihn gar nicht wahrgenommen.
Er ging an den Tisch, bat Platz nehmen zu dürfen und sie blickte zu ihm hoch. Zehn Tage später zog er in ihre Zweizimmerwohnung nahe der Spanischen Treppe. Seltsam, dass er sich hier in diesem dämmrigen Aufenthaltsraum der Klinik gerade daran erinnerte.
Er beobachtete gedankenverloren Kinder die in den Pfützen hüpften. Für sie war der Regen nur eine neue Spielvariante des Lebens.
"Weißt du noch?" fragte Elias und drehte sich zu seinem Freund um. "Die Wohnung in der Via Condotti?"
Wehmut mischte sich in Vincenzos Lächeln. „Natürlich erinnere ich mich.“ Er sah den sonnengefluteten Raum vor sich, die orange bemalten Wände, Terrakottatöpfe mit Grünpflanzen an jeder freien Stelle. "Nur zu gut, Elias. Die Terrasse, die Keramikfliesen, die bunten Tücher auf der Wäscheleine. Warum fragst du?“ fragte er und trat zu Elias an das Fenster.
Der blickte auf, sah ihn an. "Wie oft saßen wir dort wohl zusammen, führten stundenlange Gespräche? Ich erinnere mich an viele bunte Gläser in denen brennende Kerzen schwammen, weißt du noch? Sie standen überall am Boden verstreut. Eine schöne Zeit. Immer gab es etwas zu feiern, zu erörtern, zu lachen."
"In der Tat, eine wunderbare Zeit" sagte Vincenzo, wusste nicht worauf Elias hinaus wollte.
"Dort, im Kerzenschein auf der Terrasse, liebten wir uns das erste Mal, Carla und ich. Es war wie ein ersehntes nach Hause kommen und gleichzeitig fühlte ich eine nie gekannte Freiheit. Ich spürte, dass ich nirgends mehr hinzugehen brauchte. Verstehst du? Was hätte mir die Welt noch bieten können? Alles, einfach alles, lag bereits in ihren Berührungen." Er schloss die Augen, überwältigt von den Empfindungen.
Vincenzo räusperte sich entschuldigend. Er wollte den Freund in seinen Erinnerungen nicht durch seine Anwesenheit stören, schlenderte zu dem vergilbten Kalenderbild und betrachtete es eingehend.
Elias war dankbar dafür. Er blickte auf die leere Tasse in seiner Hand. Wie sehr liebte er seine Frau. Damals und heute. Ihre zärtlichen Hände suchten in dieser Nacht all seine Narben auf. Jene sichtbare an der Schläfe, die sein Vater ihm schlug, kaum, dass er laufen konnte, ebenso wie alle unsichtbaren Narben der Seele, mit denen das Leben jeden Menschen früher oder später kennzeichnet.
Wieder dachte er an ihr Lachen, welches nie gekünstelt war. Den Ernst, wenn sie die Dinge beim Namen nannte, ohne Rücksicht auf Konventionen und Regeln. Und er dachte an das wissende Schweigen, wenn sie in seinem Arm lag. Ihre Nähe machte anderes bedeutungslos.
Vincenzo machte sich durch Klimpern mit seinem Schlüsselbund bemerkbar und Elias kehrte in die Realität des Krankenhauses zurück. Er blinzelte dem Freund zu, nickte kurz. Er legte seinem Freund die Hand auf die Schulter, drückte sie kurz, dann verließen sie den Raum.
Der Gang lag nun leer vor ihnen. Vereinzelt waren aus den Zimmern Stimmen vernehmbar ansonst war es still. In dem großen Haus kehrte Ruhe ein. Die Hektik des Alltags wich ermüdet der Einsamkeit hinter verschlossenen Türen.
Das schwere Eisentor quietschte als sie hinaus in den Regen traten. Beide atmeten tief ein, froh über die würzige Luft. Sie hatten keine Eile. Nicht heute, nicht hier. Betrachter mochten sie für Spaziergänger halten. Langsam gingen sie durch die Anlage, dem Haupttor zu.
Elias blieb unvermittelt stehen, wandte sich der Fassade zu, blickte an ihr hoch. Manche Fenster waren hell erleuchtet, andere lagen dunklen Höhlen gleich in der Hauswand. "Weißt du, was das Schlimmste wäre, Vincenzo, schlimmer als ihr Tod?" fragte er. Er sah in das vertraute Gesicht seines Freundes. "Dass ich bei ihr wäre, ihre Hand liebevoll in der meinen hielte“ er schluckte trocken auf „und sie würde nicht mehr begreifen, dass wir noch zusammen sind."
Schweigend gingen sie weiter. Es gab nichts mehr zu sagen und sie verabschiedeten sich vor dem Tor. Dann gingen sie zu ihren Autos, stiegen ein. Elias winkte Vincenzo nochmals zu und lenkte den Wagen aus der Ausfahrt. Während er sich langsam in den Verkehrsstrom der Großstadt einreihte, öffnete eine Patientin der Intensivstation die Augen. Verwundert nahm sie das Summen der Apparate wahr.