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Verzweiflungstat
Der Engel geht über den schmalen Weg. Sein Name war einmal Idanyael. Aber nun ist er nichts mehr.
Er geht den schmalen Pfad entlang, ein schöner, blondgelockter Schemen. In seinen grünen Augen funkelte einst der Trotz, aber nun sind sie leer und stehen voller verzweifelter Tränen.
Er erinnert sich...
Idanyael steht vor der Treppe zu dem hohen Tor aus Gold. Davor stehen die Cherubim mit ihrer riesigen Klinge.
"Lasst mich durch! Ich muss zum Allmächtigen!" schreit er.
Die Cherubim bleiben gelassen, ihre wunderschönen Gesichter sind zugleich schrecklich, und das Schwert zwischen ihren Händen dreht sich... dreht sich... dreht sich...
Idanyael sieht eine Lücke in der Drehung. Wenn das Schwert ihm die Klinge zurdeht, passt er hindurch... aber seine gewaltigen Flügel sind zu groß. So hoch wie er selbst und wunderbar weich sind sie sein ganzer Stolz.
Aber ihm bleibt keine Wahl.
Er stürzt sich in das Schwert. Die glänzende Klinge trennt seine Flügel ab, er sieht die Stümpfe auf seinem Rücken und schreit in Agonie. Die Cherubim wenden die Gesichter und sehen ihn an.
Du hast verspielt, du hast verspielt, duhastverspielt, duhastverspielt...
Idanyael stolpert einige Schritte weiter. Er sieht seine Flügel auf dem Boden liegen, sie welken. Die weißen Federn fallen aus, und bald sind nur noch skelettierte Streben von ihnen übrig.
Du hast verspielt
Er wendet sich den Cherubim zu. "Schweigt!" donnert er unter Aufbietung seiner ganzen Macht.
Du hast verspielt
Er dreht ihnen den Rücken zu und steigt die Treppe empor. Aus seinen Stümpfen sprudelt mit jedem Herzschlag Blut.
Die gewaltigen goldenen Tore öffnen sich vor ihm. er tritt hindurch, in eine gewaltige Halle. Schon spürt er sich schwächer werden, als er den heiligen Boden beschreitet, der zum Thron des Allmächtigen führt.
Da verschwinden seine Stümpfe. Idanyael ist nun kein Engel mehr. Aber wenn das der Preis dafür ist...
Er stürmt zum Thron des Allmächtigen. Aber was ist das?
Auf dem Thron sitzt niemand.
"Wo bist du, Gott?" schreit er. "Warum hast du uns verlassen?"
Hinter sich hört er sanfte Schritte. Es ist die Hüterin des Sanktuariums, die die Aufgabe hat - hatte - über den Allmächtigen zu wachen. Von allen Gedanken des Allmächtigen, aus denen die Engel entstanden sind, war sie der vollkommenste.
Sie glich ihm wie eine Schwester. Ihr blondes Haar fällz ihr bis zur Hüfte, und ihre schönen Augen sind dunkelgrün.
"Gott ist tot" sagt sie mit einer leisen, sanften Stimme. "Wusstest du das nicht?"
"Sie haben es vor uns verborgen..." Idanyael sackt in sich zusammen. "All die Zeit..."
Die Hüterin nickt.
"Alles ist verloren!"
"Was geschieht?" fragt sie.
"Eine Gruppe von Menschen haben auf der Welt ein mächtiges Ritual erfunden. Mithilfe einer technischen Neuheit wollen sie ein riesiges Loch in die Erdkruste reißen, durch das heißes Magma emporschießen soll. Sie wollen der Erde, und dem Satan, der sich darin verbirgt, wertvollste Opfer bringen. Davon erhoffen sie sich die totale Macht."
"Versuche nicht, sie aufzuhalten, Idanyael. Es ist vergeblich."
"Sie werden die Welt vernichten, weil sie glauben, dass das ihrem Herrn und Meister gefällt!"
"Idanyael" sagte die Hüterin sanft. "Lass die Menschenkinder ihr Leben leben. Gott hat ihnen das Geschenk des freien Willens gemacht."
"Er hat ihnen auch allen das Recht zu leben geschenkt! Welche Auswikungen hätte die Explosion dieser Bombe auf den Rest der Menschheit? Nein. Sie müssen aufgehalten werden."
"Du darfst nichts tun. Es widerspricht Gottes Gnade. Sie müssen selbst entscheiden."
"Wie kannst du wo etwas sagen? Es ist noch nicht zu spät! Es kann noch nicht zu spät sein!"
Idanyael dreht sich auf dem Absatz herum und rennt die Treppen wieder hinab, zu den Cherubim. Er kriecht unter dem Schwert hindurch zu seinen
Du hast verspielt
Flügeln, die als Knochenstücke auf dem Boden liegen.
Er sammelt die vielen kleinen Knochen und nimmt sie mit, tut sie vorne in seine Robe, die er anhebt. Er holt einen Sack, bevor er geht.
Du hast verspielt
Die beiden wird er bestimmt nicht vermissen!
Er geht bis zum Tor nach draußen. Dann springt er.
Als er erwacht, fühlt er sich wie zerschlagen. Gottes Macht muss ihn immer noch schützen, denn sonst hätte er sich bei dem Sturz wohl jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen.
Der Einzige, der ihm jetzt noch helfen kann, ist der Teufel. Der Widersacher. Aber die Menschen müssen leben, die Menschen dürfen nicht die Welt vernichten.
Er weiß, wie man die Hölle erreicht. Ein schmaler Weg führt dorthin.
Ebenjener schmale Weg, den er jetzt geht. Er führt durch die Halle der Tausend Pforten. Jeder Mensch ist eine jener Türen, jede dieser Türen führt hierher, aber nicht mehr weg von hier.
Er erreicht das gewaltige Tor und klopt an. Die Torpflügel öffnen sich, und ein Gesicht, schön wie die Sünde, blickt ihm aus großen Perlmuttaugen entgegen.
"Was willst du hier, Engel?" fragt der Sukkubus mit rauchiger Stimme.
"Ich bin gefallen" sagt Idanyael nur. Der Sukkubus nickt und lässt ihn passieren.
Sie ist splitternackt, im Gegensatz zu Idanyael, der immer noch in seine weiße Robe gehüllt ist. Ihr Körper ist muskulös und sehnig, sie hat kein Gramm Fett zu viel am Leib. Ihre Muskeln wirken wie gemeißelt.
"Geh dort hinab. Steige die Treppe immer weiter hinunter."
Idanyael spürt, dass er gegen die Versuchung, die von ihr ausgeht nicht gefeit ist. Schnell nutzt er die Gelegenheit, die Treppe herunterzulaufen und spürt, wie das Blut wieder aus seiner mittleren Körperregion weicht.
Vor Satans Thronsaal stehen zwei Dämonen. Ihre Körper sind muskulös und glatt, ihre Haut ist rotbraun. Ihre großen Augen sind ohne Pupille und ohne Regenbogenhaut, sondern Seen aus silbrigem Quecksilber.
Sie heben die Lanzen und lassen ihn passieren.
Und dann steht Idanyael vor Satans Thron.
Wenn Gott tot ist, so ist Satan das Gegenteil. Er erscheint als junger Mann von bezaubernder Schönheit. Sein Gesicht ist kantig, aber sein langes Haar und sein kurzgestutzer Bart mildern den Eindruck. Seine großen Augen sind braun und wirken weich und voller Mitgefühl.
"Gut dass du kommst" sagt er. "Ich brauche jemanden wie dich."
"Wie... wie mich?" fragt Idanyael."Satan, aber..."
Der Teufel unterbricht ihn. "Nenne mich Lucifer, bitte. Das war mein altern Name... damals..." Er scheint eine Weile in Gedanken zu versinken, dann reißt er sich zusammen. Ein Funken blitzt in seinen dunklen Augen auf. "Es ist dringend! Ich brauche jemanden wie dich... meine Verbündeten sind zu auffällig. Du musst gehen und diese Bombe zerstören."
"Deshalb bin ich hier... Fürst, woher wisst Ihr... wollt Ihr denn nicht?"
"Ich will doch nicht die Menschenkinder verlieren" murmelte Lucifer. Er erhebt sich von seinem Thron und trat auf Idanyael zu. Dieser gewahrt die Größe des Teufels. Selbst nich gerade klein, überragte Lucifer ihn noch um einen halben Kopf.
Er schliesst den Engel in die Arme. "Armes, verlassenes Kind" murmelte er. "Dein Gott hat dich verlassen, alles woran du geglaubt hast, ist vergangen. Wundert es dich, zu hören, dass ich von Anfang an nur das Beste für die Menschen im Sinn hatte?"
"Ihr gabt den Menschen den Apfel..."
"Damals. Meine erste Rebellion gegen IHN. Aber die Menschen waren wie Tiere, Idanyael. Sie waren dumm. Sie hatten kein Bewusstsein. Weder wussten sie die Schönheit der Sterne zu schätzen, noch die eines Wassertropfens. Und so aßen sie von dem Apfel, den ich ihnen gab."
"Aber sie wurden verdorben!"
"Wer hat den Apfel geschaffen, Idanyael?" Lucifer ließ den ehemaligen Engel los und nahm ihm den Sack mit seinen ehemaligen Flügeln ab.
"Jetzt gehe und vernichte ihren Plan, Idanyael. Wenn du wieder kommst, wird alles anders sein."
Aufgewühlt stieg Idanyael die hohe Treppe wieder empor. Konnte es wirklich sein, dass alle all die Jahre lang getäuscht worden waren? War es möglich, dass Gott das Böse in der Schöpfung gleichsam von Beginn an geschaffen hatte, und dass Lucifer nur das Beste für die Menschheit im Sinn hatte?
Wer hat den Apfel geschaffen?
Er konnte es nicht glauben. So verwirrt war er, dass er nicht einmal Augen für die Reize der Torwächterin hatte, die sich lang ausgestreckt auf einer einfachen Pritsche rekelte.
Er verließ die Hölle und reiste zum Stützpunkt der Menschen. Wie ein Schatten verließ er die Hölle genau durch die Tür, durch die er gehen musste. Hinter einer Tür stand ein Mensch, mit dem Rücken zu einer großen Apparatur, die voller Kabel war, mit einer kleinen Phiole voller leuchtender Substanz in ihrem innern. Er rauchte und hatte ein entsichertes Gewehr in der Hand, aus dem unten ein viertelkreisförmiges Magazin herausragte.
Mit einer einzigen Bewegung brach Idanyael ihm das Genick. Dann entfernte er die kleine Phiole aus der Bombe und barg sie an seiner Brust. Zuletzt griff er in die komplizierten Kabel und steckte sie nach Geratewohl um. Jetzt konnte nichts mehr geschehen.
Die ganze Aktion hatte nicht länger als einige wenige Atemzüge gedauert. So folgte der Engel dem Geist des Menschen zur Pforte der Hölle.
Dieses Mal ließ der Sukkubus ihn einfach so passieren. Idanyael flog förmlich die gewundene Treppe hinab bis ganz zum Boden der Hölle und wischte die gekreuzten Lanzen der Torwächter mit einer einzigen Bewegung beiseite.
"Lucifer, ich habe es getan."
Der Teufel stand in der Mitte des Raumes, immer noch in seiner wunderschönen, menschlichen Gestalt, gekleidet in eine einfache schwarze Hose und ein weisses Rüschenhemd. Er war über ein Becken gebeugt, in dem er etwas verbrannte.
"Lustig, nicht wahr?" fragte er bitter. "Ich verbrenne hier einige Kräuter und kleine Knochenstücke. Und wenn ein Anhänger des toten Gottes dies hier sähe, würde er behaupten, es sein Fledermausblut und Kindergebein."
Dann winkte er den ehemaligen Engel heran. "Willst du mir einen Gefallen tun?"
Von einer plötzlichen Aufwallung von Liebe ergriffen, fiel Idanyael auf ein Knie. "Jeden" versprach er. "Jeden, den Ihr wollt."
"Du musst eine Gestalt annehmen, um die Fanatiker endgültig zu stoppen. Ich weiß nicht, ob du sie wieder wirst ablegen können!"
Idanyael erhob sich wieder und trat näher. "Ich bin Euer ergebener Diener, mein Herr und Meister."
"Dann atme den Rauch."
Sofort schossen unvorstellbare Schmerzen durch Idanyaels Körper. Er war so gefangen in seiner Qual, dass er nicht einmal schreien konnte.
Dann, plötzlich, eine erlösende Wärme. Er sah an seinen Rücken - seine Flügel waren zurück!
Aber jetzt waren die Federn schwarz.
Er sah an sich herab. Er war jetzt nackt, und seine Haut war kreidebleich.
"Du musst gehen und dich als der Teufel ausgeben" sagte Lucifer. "Du musst gehen und ihnen verbieten, die Erde zu verletzen."
"Warum ich?"
Lucifer lachte bitter. "Sieh mich doch an. Seit Gottes Tod bin ich so, wie ich jetzt bin, und es gibt keine Möglichkeit mehr für mich, das zu ändern."
Er reichte Idanyael ein schwarzes Cape und zog ihm die Kapuze ueber den Kopf. Sein Gesicht verschwand, die gewaltigen Schwingen durchstießen das Cape. Er nickte und ging.
Er schwebte über dem mit Scheinwerfern ausgeleuchteten Lager, eine Silhouette mit riesigen Flügeln. Als er landete, fielen alle Kultisten vor ihm zu Boden.
"Satan, Herr und Meister... was verlangt Ihr...?"
"Zerstört nicht die Welt... lasst sie ganz... wartet!"
"Meister, Herr, Lord..."
"Wartet auf den Tag, an dem ich wiederkehre!" rief Idanyael mit all seiner Macht. Ein fürchterlicher Hall lag in seiner Stimme.
Die Menschen blieben auf dem Boden liegen, sie wagten es nicht, aufzublicken. In diesem Augenblick wusste er, was Lucifer die ganze Zeit über nicht gesagt hatte. Er wusste nun, wie die Macht schmeckte, und sie gefiel ihm ausnehmend gut.
Er verließ die Menschen wieder und kehrte zur Hölle zurück. In Lucifers Thronraum angekommen, kniete er nieder. "Es ist vollbracht, Meister!" sagte er fest.
Lucifer drehte sich um und schenkte ihm ein maliziöses Lächeln.
"Gut..." sagte er.