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Verzweiflung
Da stand er jetzt also. Der kleine Medizinschrank im Badezimmer stand offen, zwischen Erkältungsmedizin und Aspirin stand das, was er wollte. Etliche Male hatte er sich ausgemalt wie es sein würde. Heute war der Tag, endlich hatte er den Mut es zu tun.
Viel zu oft hatte seine Mutter sich über ihre Schlafprobleme beklagt. Wurde es von ihm nicht immer als nervig empfunden sich dies anzuhören? Der grausame Humor des Schicksals sorgte nun dafür, dass sich dieses Problem als ein wahrer Glücksfall herausstellte.
Er nahm das kleine Plastikfläschchen heraus. Wo würde es passieren? Es kam ihm ziemlich würdelos vor direkt neben dem Klo den Löffel abzugeben. Sein Schlafzimmer wäre wohl die beste Wahl. Dort hatte er immerhin die letzten Jahre seines kurzen Lebens verbracht.
Kurz? Es kam mir vor wie eine Ewigkeit.
Mit anderen Worten: Siebzehn Jahre waren mehr als genug für seinen Geschmack.
Endlich würde diese Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit, welche ihn pausenlos plagten aufhören. Er würde frei sein, freier als irgendjemand in dieser Welt jemals hätte sein können.
Was danach kam machte ihm wenig Sorgen.
Kann ja kaum schlimmer als das hier sein.
Vielleicht gab es einen Himmel. Aber wenn es einen Himmel gab, gab es dann auch eine Hölle? Natürlich gab es eine Hölle! Und er war gerade im Begriff diese zu verlassen.
Das heißt falls die Hindus nicht Recht haben und ich als Insekt wiedergeboren werde.
Er war sehr gebildet. Vielleicht war dies aber ein Teil des Problems. Es ist eine weitgehend bekannte Tatsache, dass die meisten überdurchschnittlich intelligenten Menschen, unterdurchschnittlich wenige Freunde haben. Niemals gab es eine Gruppe, derer er sich zugehörig fühlte. Es war als wäre er tatsächlich ein Unikat. Jemand der nur geschaffen wurde um allein die unendliche Verzweiflung in seiner Seele zu spüren. Ein weiterer grausamer Scherz des Schicksals.
Ihm fiel auf, dass er immer noch mit dem Plastikbehälter vor dem Medizinschrank stand.
Er schloss das Schränkchen über dem blitzblanken Waschbecken, (Ordentlichkeit wird dich auch nicht retten) ging zum Ende des Flurs - an dem sein Zimmer lag - und öffnete die Tür. Das letzte Mal in seinem Leben. Sein Zimmer war ebenfalls sehr aufgeräumt, eine genaue Antithese zu dem Chaos, das in seinem Kopf herrschte. Als würden in einer riesigen Halle, welche brechend voll ist, alle Leute durcheinander reden.
Dieses Chaos verstummte nun, es erforderte eine gewisse Konzentration,war aber dennoch kontrollierbar.
Seine letzten Momente sollten von Ruhe geprägt sein, zumindest in seinem Kopf.
Er öffnete das Fenster. Ein Schwall kühler Luft kam ihm entgegen. Heute war es wolkig, die Hitze der letzten Tage hatte sich verzogen. Das Zwitschern der Vögel war zu hören.
Der Ausblick war zwar mangelhaft (Man blickte auf eine Straße, welche glücklicherweise nicht viel befahren wurde),aber die Bäume auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, waren die Heimat vieler verschiedener Vögel.
Dieses zwitschern war, seiner Meinung nach, eines der wundervollsten Geräusche auf diesem Planeten. Das wollte er in seinen letzten Momenten bei Bewusstsein hören.
Er setzte sich auf sein Bett welches in der Mitte des Raumes an der Wand stand.
Eine Zeit lang saß er einfach nur da und starrte das Medizindöschen an. Wäre in diesem Augenblick jemand in das Zimmer getreten und hätte ihn dort sitzen sehen, hätte die Person unwillkürlich Mitleid mit der kümmerlichen Gestalt auf dem Bett gehabt, aber da war niemand.
Er unterdrückte eine Träne die in ihm aufstieg. Verdammt, er hätte nie gedacht, dass es schlussendlich doch noch so viel Überwindung bedarf die Dose aufzuschrauben und den Inhalt zu schlucken.
Da fiel ihm auf, dass neben ihm kein Wasser stand. Für ihn würde es sehr schwer werden die Tabletten ohne Wasser zu schlucken. So etwas hatte er noch nie gekonnt.
Das Döschen legte er neben sich auf das Bett und ging in die Küche. Auf dem Esstisch stand schon ein volles Glas mit der klaren Flüssigkeit.
Das hatte er vorbereitet bevor er die Tabletten holen gegangen war. Wieso hatte er es vergessen? So etwas passierte ihm doch sonst nicht. Unwichtig. Fehler passieren, egal wie klug man ist.
Den Weg zurück zu seinem Zimmer ging er langsam. Sein Leben neigte sich sowieso dem Ende, also warum sollte er sich hetzen. Die Wohnung war, außer von ihm, verlassen. Seine Mutter arbeitete bis abends und sein Vater lebte nicht mehr bei ihnen. Die Chance, dass jemand klingeln und aus Sorge hereinstürmen würde, war gleich Null.
Trotzdem schloss er die Tür, als er wieder sein Zimmer betrat. Das Döschen lag an der selben Stelle an der es vorher lag.
Natürlich liegt es noch da, was hast du denn gedacht?
Das Glas Wasser stellte er auf seinen Nachttisch rechts neben dem Bett.
Alles war bereit, das fühlte er.
Er nahm das Döschen und schraubte es auf. Seine Hände zitterten.
Es ist soweit.
Nachdem er ein paar Tabletten herausgeschüttelt hatte, nahm er anstatt dem Medizindöschen das Glas in die Hand. Tabletten in der linken Hand, Wasser in der Rechten.
Würde ihn jemand vermissen? Seine Mutter würde es wohl. Vielleicht auch ein paar der Leute (Freunde wäre zu hoch gegriffen gewesen), die sich gut mit ihm verstanden hatten. Aber nicht lange. Menschen sind austauschbar, das ist die Wahrheit.
Zwei Wochen höchstens drei und sie sind darüber hinweg. So sind Menschen halt, illoyal.
Der Gedanke half gegen die Aufregung. Seine Hände zitterten nicht mehr. Er war jetzt sogar ruhig, verdammt ruhig.
Bevor dieses Gefühl auch nur ansatzweise vergehen konnte, steckte er sich die Tabletten in den Mund und spülte sie herunter.
Ich habe es getan.
Das leere Glas stellte er zurück auf das Nachttischchen, dann legte er sich hin.
Er dachte an alles, alles was in seinem Leben schief gelaufen war. Jeder Verrat, jede Beleidigung die ihm angetan wurden durchströmten seinen Verstand wie Gift, während er wartete, dass die Wirkung der Schlaftabletten einsetzte. Er glaubte die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Alles war für ihn zu viel geworden.
Lange ging es nicht, er fühlte sich komisch. Müde. Seine Gedanken wurden unzusammenhängend. Abgehackt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann würde er sein Bewusstsein verlieren. Die Verzweiflung und der Schmerz, alles würde ausgelöscht werden. Für immer. Er war neugierig was passieren würde wenn es passierte. Theorien gab es genug.
Mit dieser Sache hatte er allerdings in seinem ganzen Leben nicht gerechnet.
Als die Bewusstlosigkeit einsetzte, starb er nicht sofort, nein es war so als wolle sich eine Vision einstellen. Die Stimme hielt er erst für Einbildung, sie wiederholte stetig einen Satz: „Sieh was du verloren hast“ .
Und er sah es. Die Zukunft die ihm vergönnt gewesen wäre. Er sah keinen Schmerz, keine Verzweiflung, wie er sie erwartet hatte. Nein, er sah die Karriere, die er aufgegeben hatte.
Sieh was du verloren hast.
Die vielen Freunde, welche er gehabt hätte (seine Gruppe), spürte das Gefühl der Zugehörigkeit welches ihm, in seinem Leben verwehrt geblieben war.
Die Stimme war nun kein Flüstern mehr je mehr er von jenem aufgegebenen Leben sah desto lauter wurde sie.
Sieh was du verloren hast.
Als das Brüllen nicht mehr auszuhalten war, kam das schrecklichste an die Reihe.
Neeein!
Sieh...
Eine wunderschöne Frau. Haselnussbraunes Haar, strahlende lebendige Augen. Sie verstand ihn durch und durch. Sie beide waren ein Paar.
...dir an,...
Er war verliebt, spürte auch ihre Liebe zu ihm, würde sie niemals in Frage stellen. Eine Heirat. Seine Mutter meinte sie sei so stolz auf ihn.
...was du...
Neeeeiiiiiin!!!
Seine Familie. Seine beiden kleinen Kinder. Zwei kleine Mädchen, eines hatte das haselnussbraune Haar ihre Mutter, dafür seine Augen. Das andere hatte sein Haar, war seiner Mutter aber wie aus dem Gesicht geschnitten.
Aufhören!!!!
Sie werden niemals geboren. Seine kleinen Töchter.
...VERLOREN HAST!
Was hatte er nur getan? Er hatte sie getötet, seine kleine Familie. Einfach weg, alles. Geplagt von Schuldgefühlen und Ekel vor sich selbst, kam ihm sein letzter Gedanke.
Der grausame Humor des Schicksals...
Dann blieb sein Herz stehen.