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12.10.2009
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Wann immer es mir schlecht geht, gehe ich in die Neue Pinakothek, um mit meinen Bekannten Tee zu trinken. Letztendlich bin nur ich es, die trinkt, denn meine Bekannten sind mit Öl und Aquarell auf Leinwand gebannt und sollten das heiße Getränk besser nicht an ihren Lippen spüren. Die Tatsache, dass wir das Aroma von Roibos oder Minze nicht gemeinsam genießen können und die Teestunden somit recht einseitig verlaufen, macht mich jedoch nicht traurig, im Gegenteil. Ich befinde mich in bester Gesellschaft, und nach einem Nachmittag oder einer halben Stunde inmitten der Werke von Schadow, Spitzweg und Piloty fühle ich mich eindeutig besser. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich habe das Gefühl, die von ihnen gemalten Personen verstehen mich. Sie verlangen keine Erklärungen von mir, und auch ich werde niemals ergründen, weshalb sie sich in dem Gemütszustand befinden, in dem sie verewigt wurden. Doch sie sind mir vertraut, und jegliche Fragen sind überflüssig; ich bin froh, wenn die Bilder noch dort sind, wo sie das letzte Mal hingen, beunruhigt und im ersten Augenblick verstört, wenn sie das nicht mehr tun, aber zuversichtlich, dass sie sich gut aufgehoben an einem anderen Ort der Welt befinden und ein Stück von mir auf ihre Reise mitgenommen haben.
Eigentlich habe ich mit Kunst in meinem wahren Leben nichts zu tun. Ich habe Betriebswirtschaftslehre studiert, aber nur vier Semester lang, dann habe ich abgebrochen und hing ein Jahr lang in der Luft; unschlüssig, wie es mit mir weitergehen sollte und was ich vom Leben erwartete. Ich fing einige zum Scheitern verurteilte Beziehungen an, doch ansonsten nutzte ich das Jahr zu nichts, was mich persönlich weiterbrachte. Mein letzter Freund aus dieser Zeit schenkte mir zum Geburtstag eine Jahreseintrittskarte der Münchner Pinakotheken, mit der ich die nächsten zwölf Monate freien Zugang zu allen Ausstellungen und Veranstaltungen erhielt. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er auf die Idee gekommen war, sie mir zu schenken, denn wir waren nie zusammen im Museum gewesen und beschäftigten uns auch sonst nicht mit Kunst. Ich fand es traurig, dass jemand, der mich eigentlich am Besten kennen sollte, mit einem Geschenk so sehr daneben liegen konnte, doch eigentlich wusste ich auch nicht viel besser, wer ich eigentlich war und was ich wollte. Mir wurde klar, dass sich in meinem Leben einiges ändern musste. Ich beschloss einen radikalen Schnitt und einen Neuanfang vorzunehmen, durch den ich mich endlich selbst kennenlernen wollte. Als erstes machte ich Schluss mit diesem Freund, Manuel, denn er schien am wenigsten zu ahnen, was ich wirklich brauchte, und dann beendete ich mein Nichtstun - Dasein und fing eine Ausbildung zur Verlagskauffrau an. Die zweite Entscheidung war durchaus gut getroffen, nur mit der ersten hatte ich mir keinen Gefallen getan, doch das wurde mir erst im Laufe der folgenden Monate bewusst, als ein Rückgängigmachen schon zu spät war.
Es ergab sich, dass das Verlagshaus, in dem ich meine Ausbildung machte, in der Türckenstraße war, nur wenige Gehminuten von der Neuen Pinakothek entfernt. Da ich ein schüchterner Mensch bin und instinktiv eher den Abstand als den Kontakt zu meinen Mitmenschen suche, schlug ich das Angebot meiner Kollegen meist aus, in den Mittagspausen zusammen mit ihnen in einem der Cafés zu essen, und machte mich alleine auf die Streifzüge durch die geschäftigen Straßen des Viertels auf. Der Winter kam, und in jenem Jahr fiel er besonders streng aus. Meine Spaziergänge wurden mit jedem Tag kürzer, und der Eisregen peitschte mir ins Gesicht, sobald ich aus einem warmen Geschäft heraustrat, in dem ich versucht hatte, die Zeit herumzubringen. Ich wollte jedoch nicht früher als gewohnt ins Büro zurückkehren, und als ich eines Tages in einer Kunstbuchhandlung Zuflucht vor dem Unwetter suchte, fiel mir wieder ein, dass ich ja immer noch den Ausweis für die Pinakotheken besaß. Ich hatte ihn in irgendeinen Karton geworfen, in dem alte Dokumente und nicht umtauschbare Geschenke landen, die man sicherheitshalber doch nicht ganz wegwirft, und nachdem ich ihn zurück zu Hause nach einigem Suchen wiedergefunden hatte, beschloss ich, meine Mittagsspaziergänge während der kalten Jahreszeit in die Bildergalerien zu verlegen. So lernte ich also die alten Meister aus Holland, Italien und Frankreich kennen, machte mir einen Begriff von der deutschen Romantik und wunderte mich über bizarre Gemälde von Expressionisten und zeitgenössischen Künstlern. Überrascht stellte ich fest, dass mir diese Ausflüge in die Kunstwelt gefielen. Am wohlsten fühlte ich mich in der Neuen Pinakothek, und wenn die Mittagspausen wieder endlos und die Kollegen unerträglich waren, zog ich mich in einen der Ausstellungsräume zurück und ließ in Gedanken versunken die Malerei der Gründerzeit, des Biedermeier und des Symbolismus auf mich wirken. Ich habe diese Angewohnheit auch nach meiner Ausbildung beibehalten, denn fortan schenkte ich mir zu jedem Geburtstag selbst eine Dauereintrittskarte. Vielleicht hatte Manuel mich doch besser gekannt, als ich geglaubt hatte, doch leider haben wir den Kontakt zueinander schon bald nach der Trennung verloren. Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, ist, dass er sich selbständig gemacht hat und irgendwo in Österreich lebt; auf jeden Fall ist er aus München fortgezogen, wie die meisten meiner Freunde von damals auch. Es scheint, dass ich nach den ersten beiden Semestern an der Uni aufgehört habe, neue Freundschaften zu schließen, und diejenigen, die mir geblieben sind, kann ich an einer Hand abzählen. Die meisten Freunde haben aus Studien- oder Berufsgründen die Stadt gewechselt, und der Kontakt hat sich im Sande verlaufen. Eine Freundin hat mit ihrem Freund zusammen ein Haus auf dem Lande gekauft, gar nicht weit entfernt von hier, aber die Tatsache, dass sie gleich darauf eine Familie gegründet hat und nun ein so komplett anderes Leben führt als ich, hat sie so weit von mir entfremdet, als lebten wir auf zwei verschiedenen Planeten. Eine andere, die ich noch aus der Schulzeit kenne, sehe ich noch ab und zu, und ich hänge sehr an ihr, so wie ich an allen Konstanten hänge, die es in meinem Leben gibt. Umbrüche gab es bei mir bereits genug. Ich brauche etwas, worauf ich mich verlassen kann, und das kann ich auf die Bilder in der Pinakothek immer.
Anders als auf meine Stimmungen. Vielleicht habe ich mich in den letzten Jahren zu sehr mit mir selbst beschäftigt und dadurch viele Kontakte zu Bekannten und Freunden verloren, aber es war bitter nötig, intensiv nach den Ursachen meiner Stimmungsschwankungen und Depressionen zu suchen. Ich bin damit auch ein gutes Stück vorangekommen, nur ab und zu werde ich auf einen Schlag wieder so stark zurückgeworfen, dass ich mich frage, was all die Sitzungen und Analysen bei meinem Psychologen gebracht haben sollen. Natürlich trugen sie zunächst einmal zur Beruhigung meines Gewissens bei, überhaupt etwas unternommen zu haben. Ich will auch einmal eine Familie gründen, aber das werde ich erst, wenn ich mich selbst in einer psychisch stabilen Lage befinde, das habe ich mir geschworen. Sollte das nicht klappen, werde ich keine Kinder in die Welt setzen. Bis zum letzten Zeitpunkt der Entscheidung habe ich noch gute fünfzehn Jahre Zeit, ich weiß, doch manchmal zweifele ich daran, dass selbst die besten Spezialisten es irgendwann schaffen werden, das Chaos in meinem Kopf und die Schmerzen in meiner Seele zu beseitigen. Manchmal verzweifel ich an meinem ganzen Leben. Ich meine dann, ich schaffe es nicht; ich bin hinten und vorne überfordert, selbst wenn es nur darum geht, aufzustehen und eine simple Entscheidung für den Ablauf des Tages zu treffen. Es geht einfach nicht, und wenn ich in diese Tiefphasen stürze, dann erkenne ich mich in dem Bild von Gabriel Max wieder, „Die ekstatische Jungfrau Anna Katharina Emmerich", das in Raum dreizehn der Neuen Pinakothek hängt. Als ich das Bild zum ersten Mal sah, war ich wie vor den Kopf gestoßen - ich blieb stehen und konnte für Minuten meinen Blick nicht von der jungen Frau lösen, die mit einem Holzkreuz in der Hand und entrücktem Gesichtsausdruck in einem Bett liegend dargestellt ist. Bestimmt eine Viertel Stunde stand ich reglos davor und versuchte zu begreifen, wie es möglich war, dass jemand so klar mein Innerstes erkannt und es in dieser Intensität auf die Leinwand gebracht haben konnte, ohne mich selbst zu kennen. Es war, als blickte ich in einen Spiegel, als wäre dort eine Seelenverwandte oder als wäre ich losgelöst von meinem Körper und könnte mich selbst in dem Zustand tiefster Angst und Verwirrung betrachten. Dieses Bild hat es mir endgültig ermöglicht, Zugang zur Kunst zu finden, die für mich bis dahin nur abstrakt war und einen bloßen Zeitvertreib für Samstagstouristen darstellte – oder für Büroflüchtige in der Mittagspause. Nun war ich plötzlich selbst ein Teil davon, und sobald einen dieses Gefühl im Leben erreicht, kann man sich von der Kunst nicht mehr lösen. Ich ging in dieser Phase fast jeden Tag in die Neue Pinakothek, und die Wärter begannen, mich mit meinem Namen zu grüßen, was mir unangenehm war, denn was mussten sie insgeheim von mir denken? Eine Besessene? Eine einfältige Unterbeschäftigte? Mit beidem hätten sie ein wenig Recht gehabt, und auch, wenn keiner dieser Gedanken durch ihren Kopf gegangen sein sollte, so huschte ich doch jedes Mal schnell an ihnen vorbei, um mich auf kein Gespräch einzulassen und um schnell bei meinen Bildern zu sein, die keine störenden Fragen stellten und die mich in Ruhe für mich sein ließen. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich niemandem meine plötzlich entflammte Leidenschaft für Bilder erklären wollen, denn ich empfand die Umstände, die dazu geführt hatten, als beschämend. Doch eine Erklärung verlangte auch niemand von mir, bis auf einmal, als meine Mutter meinen Ausweis auf dem Schreibtisch liegen sah und wissen wollte, was in Gottes Namen ich denn in Museen bildender Kunst verloren hätte. „Nichts eigentlich", antwortete ich. „Ich muss nur manchmal wegen der Arbeit dort hin, denn wir verlegen jetzt auch Kunsthandbücher." Das stimmte natürlich nicht, und ich bezweifle, dass meine Mutter mir diese Aussage glaubte. Sie hat ein untrügliches Gespür dafür, wann ich lüge oder ihr etwas verheimliche, aber vielleicht hat die Tatsache, dass ich durch meine selbst gewählte Ausbildung doch ein Stück weit selbständiger geworden bin, sie in dieser Hinsicht unsicherer werden lassen. Ich achte seitdem jedenfalls darauf, dass mein Ausweis auch in meinem Zimmer nicht mehr offen herumliegt, und meine Mutter unterließ nach einigen Anspielungen darauf weitere Fragen.
Es wäre im Grunde genommen kein Problem, darüber zu sprechen, dass ich gerne in die Pinakotheken gehe. Gibt es nicht weitaus bizarrere Hobbys? Daniel, meinem jetzigen Freund, habe ich es auch erzählt, und er hält es für durchaus positiv und erstrebenswert, sich auf diese Weise weiterzubilden. Einmal hat er mich sogar in die Alte Pinakothek begleitet. Es amüsierte mich insgeheim, ihn auf diese Weise meinen stummen Freunden vorzustellen, zu denen ich schon seit Jahren eine enge Beziehung pflege und die ich manchmal sogar als meine Familie empfinde. Das habe ich ihm natürlich nicht gesagt, denn so verständnisvoll er mir gegenüber auch ist, mit einigen meiner Gedanken würde ich ihn doch überfordern.
Aber meine Mutter will ich in diese Welt nicht einführen. Wir haben ein sehr kompliziertes Verhältnis zueinander, und die Tatsache, dass ich noch immer mit ihr zusammenlebe, denn die Mieten in München sind hoch, lassen mir ohnehin nur wenig Privatleben und kaum Freiraum. Alles, was ich tue, wird von ihr registriert, und das bisschen Freiraum, das ich durch meine fast schon geheimen Besuche in den Pinakotheken erhalte, will ich mir nicht nehmen lassen. Ich liebe meine Mutter; wir können zwar oft nicht mit-, aber auch nicht ohneeinander; doch die Pinakotheken sind meine einzigen Rückzugsmöglichkeiten, und darin hat sie nichts verloren. Erst heute hatten wir wieder ein Streitgespräch, das eigentlich kein Gespräch, sondern ein typischer Schlagabtausch von Missverständnissen war, der uns beide verletzt und unverstanden zurückgelassen hatte. Wenn sie wüsste, wohin ich mich nach solchen Situationen zurückziehe, wäre ich verloren. Vermutlich meint sie, ich sei bei Daniel, doch zu ihm will ich heute nicht gehen, denn ich brauche Abstand zu allen, um auch über ihn und mich nachzudenken. Es hat sich heute so viel ereignet, dass es mich im Nachhinein nicht verwundert, wie es zu dem Eklat zu Hause hat kommen können und wie ich mich zu der Bemerkung, die ich habe fallenlassen, hinreißen lassen konnte.
Schon beim Aufstehen heute Morgen habe ich gewusst, dass dies kein Tag ist, an dem ich unter Leuten sein will, geschweige denn Gespräche würde führen können. Manchmal fühle ich mich, als sei mein Kopf mit Watte zugepackt; meine Zunge ist dann schwer und meine Augen sind permanent mit Tränen gefüllt, ohne, dass es einen Grund zu weinen gäbe. Ist nicht gerade das Gegenteil der Fall, oder wären nicht zumindest Tränen der Freude angebracht, nachdem ich einen Heiratsantrag von dem Mann bekommen habe, den ich liebe? Am Sonntag, bei einem ausgiebigen Frühstück in seiner Wohnung, hat Daniel mit einem wunderschönen Smaragdring um meine Hand angehalten - das ist das Romantischte, was mir jemals passiert ist. Und nun bin ich niedergeschlagen. Ich drehe den Verlobungsring an meinem Finger und kann mich mir selbst nicht erklären. Manchmal würde ich mich gerne ohrfeigen für mein Verhalten, doch das würde auch nichts ändern an der bodenlosen Traurigkeit, die in mir ist. Woher kommt sie, und was kann ich dagegen tun? Ich weigere mich, Medikamente zu nehmen. Mich abhängig zu machen von Chemie wird mein Problem nicht lösen, und die Kräutersammlung, die ich von Freunden bekommen habe, liegt unangetastet in meinem Schrank. Gestern Abend bin ich noch recht zuversichtlich ins Bett gegangen. Natürlich hat mich Daniels Heiratsantrag am Wochenende sehr glücklich gemacht; ich war sogar kurz davor, sofort Ja zu sagen, doch dann hat mich mein Vernunftsinn ereilt, und ich habe mir eine Bedenkzeit von einigen Tagen erbeten. So etwas kann ich nicht aus dem Bauch heraus entscheiden, da spielen zu viele Faktoren mit, die es zu beachten gilt und die bei der Frage, ob man sich dem anderen wirklich ein Leben lang zumuten kann, eine zu wichtige Rolle spielen. Denn wie lange kennen wir uns schon? Noch nicht einmal sechs Monate. Woher will er nach so kurzer Zeit wissen, dass ich die Richtige für ihn bin? Das kann er nicht, und es liegt an mir, ihn vor einem möglichen Fehler zu bewahren und die richtige Entscheidung für uns beide zu treffen.
Heute wollte ich eigentlich zu dieser Entscheidung gelangen. Und nun sitze ich hier vor der ekstatischen Jungfrau Anna Katharina Emmerich und bitte sie regelrecht um Hilfe, um irgendein Zeichen dafür, was ich tun soll oder warum ich eigentlich hier bin, denn eigentlich sollte ich jetzt doch an meinem Schreibtisch am Stein-Verlag sitzen und die Kreditoren- und Debitorenabbrechnungen überprüfen. Doch es ging nicht anders. Auch wenn ich mir weiß Gott vorgenommen habe, diesen Tag im Büro zu überstehen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen, habe ich mich kurz nach der Mittagspause krankschreiben lassen und bin nach Hause gegangen. Diesen Luxus kann ich mir eigentlich nicht erlauben, denn ich habe erst vor Kurzem begonnen, in diesem Verlag zu arbeiten und sollte froh sein um jeden Tag, an dem ich mein Können dort unter Beweis stellen kann. Es ist meine erste Arbeitsstelle nach der Ausbildung, und ich bin sehr zufrieden mit ihr, doch leider hängen bereits dunkle Wolken über dem Glück. Der Stein-Verlag ist sehr klein, er verlegt Kochbücher, Ratgeber für Garten, Haushalt und Lebensfragen, Nachhilfehefte und neuerdings eine Serie von Kriminalromanen. Als ich vor einigen Wochen eingestellt wurde, schrieb er durchweg schwarze Zahlen, und meine Festanstellung nach der Probezeit schien sehr wahrscheinlich. Doch nun geht das Gerücht um, dass die Verlagsleitung sich mit der Autorenschaft der Kriminalromane überworfen hat, und die plötzlich in die Keller gehenden Verkaufszahlen deuten an, dass eine ernste Krise droht. Mein befristeter Vertrag wurde nicht durch einen unbefristet ersetzt, sondern lediglich verlängert, und so weit kann ich eins und eins zusammenzählen, dass, wenn nicht sehr bald ein überwältigender Verkaufsschlager am Himmel auftaucht, ich eine der ersten sein werde, die den Verlag wieder wird verlassen müssen. Aber ich glaube nicht, dass das der Grund für meine Verstimmung ist. Das Tief kam zu plötzlich, und viel zu oft schon bin ich darin in Zeiten verfallen, in der keine Gefahr von nirgendwo drohte und es noch viel weniger Gründe gab, traurig zu sein. Bestimmt haben die unsicheren Umstände in der Arbeit mit dazu beigetragen, dass ich in diese Depression gesteuert bin, doch sie sind bei weitem nicht ihr Hauptgrund.
Ich habe mich bei meiner Chefin entschuldigt und bin mit der U-Bahn nach Hause gefahren. Von der Fahrt erinnere ich mich an nichts; meine Augen müssen ins Leere geblickt haben, denn an welcher der beiden richtigen Stationen ich ausgestiegen bin und welchen Weg ich zu unserer Wohnung genommen habe, kann ich nicht sagen. Die Außenwelt war mir egal; alles, was ich wollte, war, so schnell wie möglich in mein Zimmer zu gelangen, die Tür hinter mir zu schließen und bei heruntergelassenen Jalousien auf meinem Bett zu liegen. Ich hatte mein Ziel fast erreicht, als meine Mutter mich im Flur abfing. Durch das Geräusch des Schlüssels im Schloss aufgeschreckt, war sie aus dem Wohnzimmer geeilt um zu sehen, weshalb ich so früh schon nach Hause kam. Als sie mich sah, brauchte es nicht vieler Worte, um es ihr zu erklären. Sie kennt mich gut genug. Ein Blick in meine Augen genügt ihr, um zu wissen, in welchem Gemütszustand ich mich befinde. Heute hätte das vermutlich auch ein Wildfremder auf dieselbe Weise herausgefunden; und ich wünschte, es wäre tatsächlich ein Wildfremder gewesen, der in diesem Moment vor mir stand, doch es war nun einmal meine Mutter, die mich besorgten Blickes fragte: „Hast Du wieder Deine Depressionen?"
Ich brachte nur ein angedeutetes Nicken zustande. Sie legte mir verständnisvoll die Hände auf die Schultern und fragte: „Willst Du zu mir ins Wohnzimmer kommen? Oder willst Du lieber alleine sein?"
„Alleine sein", flüsterte ich, und es war wohl dieses komplizenhafte Lächeln, mit dem sie daraufhin meinte: „Ach, du bist mir ja so ähnlich", das mich ihre Arme von mir stoßen und sie anschreien ließ: „Ja, deswegen renne ich ja auch seit Jahren zum Psychologen!"
Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich hätte das nicht sagen sollen; ich weiß, dass ich sie damit sehr verletzt habe. Aber die Worte waren schneller als ich, und das Schlimme ist: Sie sind wahr. Jedes einzelne von ihnen entspricht der Realität. Ob ich sie nun ausspreche oder nicht, diese Wahrheit steht immer zwischen uns, und wir beide sind uns dessen bewusst. Ich bin mir sicher, dass es uns aus genau denselben Gründen schlecht geht, nur kennt meine Mutter den Ursprung unserer Leiden, im Gegensatz zu mir. Leider hat sie beschlossen, ihre Depressionen beizubehalten und sich darin zu aalen, und anstatt mir zu helfen, den entgegengesetzten Weg zu begehen und meine Probleme zu klären, bürdet sie mir nur noch weitere auf und überlässt es mir, mit ihnen fertig zu werden. Manchmal habe ich den Eindruck, sie freut sich daran, mich leiden zu sehen und zu wissen, dass nur sie den Schlüssel für die Lösung unserer Seelenqualen besitzt, die herauszurücken sie allerdings nicht bereit ist, aus Angst, ich ließe sie danach alleine zurück.
Und dann schäme ich mich ganz furchtbar für diese Vermutungen.
Zudem ärgere ich mich, dass mir dieser Ausrutscher gerade heute passieren musste. Gibt es nicht genug andere Dinge, über die ich nachdenken muss? Mein sofort einsetzendes schlechtes Gewissen meiner Mutter gegenüber wurde noch dazu geradezu körperlich spürbar, und nach einigen Minuten in meinem Zimmer wurde mir klar, dass ich dort ebenfalls nicht zur Ruhe kommen würde. Ich musste raus, an einen Ort, an dem ich keine Rechtfertigungen abzugeben hatte und an dem ich mich von den Geistern befreien konnte, die in meinem Kopf herumspukten und die ihn schier zum Platzen bringen wollten. Ich handelte also wieder nach meiner alten Gewohnheit, bereitete mir hastig eine Thermoskanne Tee zu und fuhr in die Barer Straße, um in die Neue Pinakothek zu gehen. Als ich das Gebäude betrat, fiel mir auf, dass ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr hier gewesen war. Ich fragte mich, woran das lag - an Daniel, oder an der neuen Arbeit? Es tat auf jeden Fall gut, in die vertraute Atmosphäre einzutauchen, und der Gang durch die Galerien beruhigt mich. Ich ging an Canovas „Paris" vorbei, der erhaben und beneidenswert unberührt von jeglichen Geschehnissen der Zeit den Apfel in seiner Hand balanciert, ließ Goethes Blick auf mir ruhen und grüßte im Vorübergehen Schadows „Fanny Ebers", deren allzu selbstsicheres Erscheinungsbild mir erst nach zahlreichen Besuchen sympathisch geworden war und zu der ich mittlerweile so etwas wie Freundschaft empfinde. Ferdinand Georg Waldmüllers „Junge Bäuerin" sah mich mit ihren drei wohlgenährten, pausbackigen Kindern aus dem Fenster gelehnt an, doch ich verbrachte diesmal keine Zeit mit ihnen, sondern ging weiter, bis ich endlich, wie ferngesteuert, in Saal dreizehn ankam und mich mit dem Gesicht zu Anna Katharina Emmerich auf den harten Ledersitz in der Mitte des Raumes sinken ließ.
Nun sitze ich hier schon seit einer scheinbaren Ewigkeit, bar jeglichen Zeitgefühls, und denke darüber nach, was werden soll. Die Lust zu weinen ist mir vergangen, was sehr schade ist, denn ich weine sehr gerne. Den ganzen Tag hatte ich das Bedürfnis danach und konnte es nicht, da ich ständig von Leuten umgeben war, und jetzt, wo ich fast allein bin, ist in mir keine einzige Träne. Bis auf die Wärter und eine Handvoll Touristen befindet sich niemand in den Ausstellungsräumen; ich könnte mich also hemmungslos dem Selbstmitleid hingeben, doch ich kann nicht. Alles, wozu ich fähig bin, ist, das Bild anzustarren, meinen Blick von Anna Katharina Emmerichs verzweifeltem Gesicht über ihren mageren Körper gleiten zu lassen und über das Bettlaken, das ihren Schoß bedeckt und auf dem wiederum derjenige Gegenstand liegt, den sie fixiert, ein schlichtes Kreuz mit dem geschundenen Körper Christi darauf. Mit den Händen fasst sie sich an den Kopf, um den eine weiße Bandage gebunden ist, und das Kerzenlicht auf dem Nachttisch spiegelt die Fragilität ihres Seelenzustands wider. Was bringt sie zu dieser Ekstase, was quält sie, was lässt sie sich ihre Haare raufen und den schmerzvollen, ratlosen Blick auf das Kreuz richten?
Ich finde keine Antwort, doch ich fühle mich heute stärker mit ihr verbunden denn je. Ihr Leiden ist so groß und fast greifbar, dass ich für kurze Zeit mein eigenes vergesse. Manchmal kann man seine Angst einfach nicht erklären, und alles, was wir in diesem Augenblick brauchen, ist die Bestätigung, dass es anderen ebenso so geht - seien es nun reale Mitmenschen, fiktive Charaktere oder Personen aus einem anderen Jahrhundert. Deswegen lesen wir, aus diesem Grund gehen wir ins Kino und in Museen, deswegen brauchen wir die Kunst. Sind nicht ungeahnt viele Menschen auf etwas fixiert, das sie davon abhält, ihr wahres Leben zu leben, etwas, das sie schließlich zerstört? Einige können sich von dieser Schlange befreien, ohne, dass ihnen überhaupt bewusst war, dass sie sich in Gefahr befunden haben. Andere führen einen lebenslangen Kampf mit ihr aus, und wieder andere ergeben sich ihr einfach, ignorieren sie und hinterfragen ihr Dasein und ihre Auswirkung auf ihre eigene Existenz nicht.
Daniel gehört zur ersten Gruppe, ich zur zweiten und meine Mutter zur letzten. Daniel ist so ausgeglichen und arglos allen Irrungen und Wirrungen des Lebens gegenüber, dass es ihm nicht im Entferntesten in den Sinn käme, über irgendwelche seelischen Abgründe nachzudenken. Er kennt diese dunkle Seite an mir nicht, weiß nicht dass ich zum Psychologen gehe, und die Frage stellt sich, ob ich das Recht habe, ihn mit meinen Problemen zu belasten, was im Falle einer Heirat unvermeidlich wäre. Ich wollte ja noch nicht einmal, dass er mit mir in die Neue Pinakothek geht; absichtlich habe ich ihn in die Alte geführt, aus Angst, er würde hier dem Bild, mit dem ich mich so sehr identifiziere, zu nahe kommen und so auf mein wahres Wesen stoßen. Das würde ihn nur zu Recht schwankend machen in seinem Entschluss, mich zur Frau zu nehmen. Ich möchte nicht, dass er sein Leben mit einer psychisch Kranken verbringen muss, ich möchte erst geheilt sein, bevor ich ihm mein Ja-Wort gebe. Aber wann bin ich geheilt? Wann kann ich endlich behaupten, dass ich innerlich gefestigt bin und dazu bereit, mein Leben auch anderen zu widmen? Das ist es doch, was ich mir so sehr wünsche. Die Fähigkeit und das Imstandesein, für andere sorgen zu können, ohne sie der Gefahr auszusetzen, früher oder später unter meiner Person zu leiden.
Ungeduld gehört eigentlich nicht zu meinen Schwächen. Natürlich möchte ich die Therapie so schnell wie möglich abschließen und lieber heute als morgen meine Probleme beseitigen. Doch ich bin realistisch und weiß, dass dieser Aufklärungsvorgang noch einige Jahre dauern kann. Ich habe keine Eile, und ich möchte diesen Weg alleine bewältigen. Doch plötzlich wird mein gemächliches Voranschreiten unterbrochen, denn das Leben schlägt mir mit seinen ihm eigenen Regeln ein Schnippchen. Daniels Antrag ist nichts, das ewig im Raum stehengelassen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden kann. Entweder ich entscheide mich jetzt, oder ich werde diese Frage nie wieder von ihm hören. In einem Monat geht er zurück nach Kiel, um dort in die Kanzlei seines Vaters einzusteigen, und ich glaube nicht, dass unsere Beziehung über die Distanz von ganz Deutschland halten würde. Das bezweifelt er ebenso. Deswegen fragte er ja, ob ich mit ihm kommen und ein neues Leben aufbauen wolle, zusammen mit ihm. Aber geht das so einfach? Alle Festungen abzubrechen und im vollkommen Unbekannten ein neues Leben anzufangen? Ich glaube, das ist eine Illusion. Obwohl bei mir alle Umstände doch für einen Wechsel sprechen: Meine Arbeit hier steht auf wackligen Beinen, ich habe kaum Freunde, die mich in München halten, und es ist mit achtundzwanzig Jahren auch endlich an der Zeit, aus der Wohnung seiner Mutter auszuziehen. Außerdem habe ich doch Daniel.
Aber Kiel? Ich wäre dort vollkommen auf Daniel angewiesen; es gibt nichts, das mich mit dieser Stadt verbindet, ich kenne dort nichts und niemanden. Eine tausend Kilometer - Distanz würden wir nicht meistern, doch würden wir das andere Extrem bestehen, diese unmittelbare Nähe, die zumindest am Anfang in bislang ungekannter Intensität zwischen uns herrschen würde? Und wäre mein Umzug dorthin nicht nur ein Weglaufen vor etwas, womit ich hier nicht fertig werde? Dann käme ich nirgendwo damit klar, und wenn ich bis ans Ende der Welt ginge. Ich hätte Daniel...Doch wen hätte er?
Meine Gedanken drehen sich im Kreis, und ich komme immer auf denselben Punkt zurück: Ich bin nicht bereit für diesen Schritt.
Und gleichzeitig will ich es so sehr! Ich möchte mit ihm zusammen sein, für immer und ewig, ich möchte ihn weiter entdecken und mit ihm ein glückliches Leben führen. Wie sollte ich ihm auch erklären, dass das nicht geht und dass das nicht im Mindesten mit ihm zu tun hat?
Es könnte so einfach sein. Von welchen Dämonen mache ich mich nur abhängig? Kann ich nicht einfach akzeptieren, dass wir uns lieben und daran glauben, dass wir das auch nach unserer Hochzeit glücklich miteinander sein werden?
Ich komme hier keinen Schritt weiter; ich habe mich plötzlich sattgesehen an der ekstatischen Anna Katharina und brauche einen Tapetenwechsel, im wahrsten Sinne des Wortes. Es gibt hier noch ein Bild, an das ich seit Sonntag denke; es hängt nur zwei Räume weiter und war bisher nie besonders bedeutend in meinem Leben, doch plötzlich verspüre ich einen direkten Bezug zu ihm. Es ist merkwürdig: Seit ich mich mit Gemälden beschäftige, erlebe ich oft Momente, in denen mich bestimmte Situationen an das Arrangement eines der Bilder aus den Pinakotheken erinnern. Dann muss ich lächeln, es ist fast wie ein déjà-vu. Manchmal fällt mir das Bild nicht sofort ein, und dann gehe ich in meinem Kopf alle Galerien und Ausstellungsräume durch, bis ich endlich das Richtige gefunden habe. Das macht mich glücklich, so als hätte ich das richtige Pendant zu einer Karte im Memory-Spiel gefunden. Im Fall von Max Slevogts „Feierstunde" war es ähnlich. Daniels Antrag hat mich so sehr beglückt, dass ich den ganzen Tag wie auf Wolken schwebte. Auch, als ich wieder alleine war und vernünftig darüber nachdenken konnte, brachte mich die Erinnerung daran, wie wir zusammen am Küchentisch saßen und er plötzlich das Schmucketui hervorzog, immer wieder zum Strahlen. Und ständig dachte ich: Diese Szene ist mir so vertraut, dabei habe ich sie noch nie in dieser Form durchlebt. Erst am Abend fiel mir auf, welches Gemälde dieser Situation so sehr ähnelt: Es ist eben Slevogts „Feierstunde", und wie ich jetzt davorstehe und es mit ganz anderen Augen betrachte als sonst, stelle ich fest, dass es eine solch frappierende Ähnlichkeit zwischen einer Begebenheit in meinem Leben und der Darstellung auf einem Gemälde noch nie gegeben hat. Es ist vor allem die Atmosphäre, die es ausstrahlt und die mir das Gefühl gibt, Daniel und seien in jenem Moment von einem unsichtbaren Beobachter porträtiert worden, auch wenn dieser bereits hundert Jahre vor uns gelebt hat.
Auf dem überlebensgroßen Gemälde sind eine junge Frau und ein Mann zu sehen, die sich an einem Holztisch gegenübersitzen, beide an der äußeren Kante einer Seite, so dass kein freier Platz mehr zwischen ihnen besteht. Seine rechte Hand liegt auf ihrem Oberschenkel, er sitzt gebeugt, bittend, während sie ihn leicht aus den Augenwinkeln betrachtet und ihren Arm auf den Tisch gelegt hat, abwartend, was nun passieren wird. Sie sind nicht reich; der Tisch ist bescheiden gedeckt, nur das nötigste Gedeck und die Reste von Käse- und Wurststücken befinden sich darauf, und dazwischen das Messer, mit dem von allem abgeschnitten wurde. Der Mann wendet dem Betrachter den Rücken zu, doch an seiner einfachen Kleidung, das aus einer weiten, leicht schäbig wirkenden Jacke besteht, und der gegerbten Haut seiner kräftigen Hände, sowie an dem schon schütter werdenden Haar ist zu erkennen, dass ihm das Schicksal ein entbehrungs- und arbeitsreiches Leben bestimmt hat. Vielleicht hat er schon begonnen, ihr zu sagen, was ihm auf der Seele liegt, und hält in diesem Moment kurz inne, denn die Frau macht nicht den Eindruck, ihn unterbrechen oder etwas erwidern zu wollen; sie sieht ihn mit einem kaum wahrnehmbaren, schwer zu deutenden Lächeln ins Gesicht, ohne sich jedoch über ihn lustig zu machen. Sie lässt ihm die Zeit, die er braucht, um sich ihr ganz zu öffnen. Sie ist eine schöne Frau, aus einfachen Verhältnissen, so wie er, und nur mit bescheidenen Mitteln zurechtgemacht; doch das weiße Baumwollkleid lässt sie frisch und sauber wirken, und ihr blondes, mittellanges Haar umspielt auf natürliche Weise ihr feingeschnittenes Gesicht. Ihre blauen Augen blicken tiefsinnig und lassen nichts von dem erkennen, was in ihrem Kopf vorgeht, und auch ihre Körperhaltung zeugt von Distanz und einem bodenständigen Wesen.
Ich bewundere diese Frau, die so ausdrucksstark und selbstsicher ist; ich wünschte, ich wäre wie sie. Wenn ich Fotos von mir betrachte, sehe ich nur ein graues, verunsichertes Mädchen, und ich wundere mich dann jedes Mal, dass ich dennoch schon so viele Beziehungen zu Männern in meinem Leben hatte. Trotzdem glaube ich, dass ich an jenem Sonntag der Frau auf diesem Bild geähnelt habe. Vielleicht war es die Überraschung über das, was Daniel tat, die mich für kurze Zeit in eine andere Person verwandelte. Es hat sich gut angefühlt; ich wäre am liebsten für immer in genau derselben Sekunde verharrt. Ich sehe Daniel noch vor mir, in dem weinroten Hemd, das ich ihm zu seinem Geburtstag geschenkt habe und das ich so gerne an ihm mag, mit seinem vollen, weizenblonden Haar, das im Morgenlicht glänzte; und seine plötzlich so ungewohnt unsichere Art lässt mein Herz wieder überquellen vor Liebe zu ihm. Ich habe noch den Geruch des frischgemahlenen Kaffees in der Nase und den Geschmack des Honigcroissants auf der Zunge. Die Blumen, die wir am Vortag auf unserem Spaziergang gepflückt und in einer Vase auf den Tisch gestellt haben, zauberten eine herrlich leichte, unbeschwerte Stimmung. Dieser Moment war perfekt; er war so, wie ich mir mein ganzes Leben wünsche. Wenn ich auch nicht wie erhofft auf den Antrag reagiert, sondern in typischer Weise abgewiegelt und um Bedenkeit gebeten habe, glaube ich, dass auch Daniel glücklich gewesen ist und den Augenblick trotz aller Aufregung genossen hat. Ich fühlte mich ihm sehr nahe, und ich hoffe, Daniel weiß, wieviel mir sein Antrag bedeutet.
Ich setze mich auf die Bank in der Mitte des Saales, nehme den darauf liegenden Bildkatalog in die Hand, der die Beschreibungen zu den Gemälden in der Pinakothek enthält, und beginne, darin zu blättern. Normalerweise ziehe ich ihn nicht zu Rat, um die Bilder besser zu verstehen, denn ich bevorzuge es, mir meine eigenen Geschichten zu ihnen auszudenken und sie auf meine Weise zu begreifen. Doch heute will ich wissen, was Slevogt mit diesem Bild bezweckte, und als ich die richtige Seite finde, lese ich, dass er ursprünglich bekannte Persönlichkeiten in einer symbolträchtigen Situation malen wollte und sich erst kurzfristig dazu entschloss, einfache Leute in einer scheinbar gewöhnlichen Alltagssituation darzustellen. In einem Brief an seine Frau schrieb er über dieses Bild: „Auch die Ärmsten haben ein Recht (…) von der Tafel des Lebens zu speisen. Ich hoffe, dass ich's fertigbringe."
Ich bin verblüfft. Es ist, als hätte er diese Zeilen an mich gerichtet. Äußerst überrascht und bewegt über das, was ich soeben erfahren habe, lege ich das Buch zurück an seinen Platz und blicke wieder auf das Bild, das mir immer verständlicher wird. Max Slevogt hatte Recht. Auch ich darf glücklich sein in meinem Leben. Auch ich darf mich an Positivem freuen, das mir widerfährt - oder können das immer nur diejenigen, die alles unter Kontrolle haben und die ohne psychische Leiden leben?
Plötzlich fühle mich stark; ich fühle mich, als hätte ich soeben die offizielle Erlaubnis erhalten, mit Freude zu leben und mich eingliedern zu dürfen in die Gemeinschaft derjenigen, die ein angenehmes Dasein führen. Es ist nicht viel, was ich verlange, doch ich mache es mir oft zu schwer. Dabei habe ich doch alles, was ich brauche: den Mann, den ich liebe und der auch mich liebt, der mir Sicherheit bietet, ein Zuhause, das ich mir bald mit ihm aufbauen werde, und die Familie seinerseits, die mich seinen Erzählungen nach schon erwartet und freundlich aufnehmen wird. Es ist schon fast zuviel des Guten; es könnte nicht besser sein.
Endlich muss ich lächeln, und ich schenke mir Tee in den Thermosbecher ein; heimlich, denn Essen und Trinken sind hier natürlich verboten. Der Geruch von grünem Tee mit Vanillearoma steigt mir in die Nase, und ich umklammere den wärmer werdenden Becher mit beiden Händen. Wie merkwürdig, denke ich, dass ich eben noch so tieftraurig gewesen und jetzt so glücklich bin, wegen ein paar Zeilen aus dem letzten Jahrhundert.
Und aufgrund der Bilder natürlich, die mir schon immer neuen Lebensmut gegeben haben. Ob es in Kiel auch eine Gemäldesammlung gibt? frage ich mich. Ich weiß es nicht; ich werde mich informieren. Plötzlich bin ich neugierig und in Aufbruchstimmung.
Und dann denke ich: Und Mutter?
Wie aus einem Traum schrecke ich auf und wundere mich, wie ich sie in all meinen Überlegungen kurzzeitig vergessen konnte. Ja, Mutter. Mutter würde alleine zurückbleiben. Ich wäre glücklich in Kiel, und sie würde hier krank werden vor Kummer. Erschrocken über mich selbst sehe ich in den Becher. Wie hatte ich diesen Gedanken nur so lange verdrängen können? Dann sehe ich wieder auf und frage mich: Könnte ich überhaupt irgendetwas zurücklassen?
Die Frau auf dem Bild sieht den Mann noch immer mit geheimnisvollem Blick an. Sie wird ihm in seiner Schwierigkeit, weiterzusprechen, mit keinem Wort zu Hilfe kommen. Wer ist sie überhaupt, und was spielt sich ab in ihrem Kopf? Bin das wirklich ich gewesen am Sonntag, oder was das nur eine Erscheinung, ein Trugbild, so wie alles Schein, Lug und Trug ist?
Gabriel von Max, Max Slevogt...Plötzlich fällt mir auf, dass die Namen dieser Maler fast Anagramme sind. Ein überraschender Zufall, denke ich, doch dann werde ich nervös. Zufälle gibt es nicht. Was hat das zu bedeuten? Ich fange an zu zittern und kann mich nicht mehr beruhigen.
Und dann passiert das Unfassbare: Vor meinen Augen verwandelt sich das Gesicht der so stolzen und selbstbewussten Frau in das der verwirrten Anna Katharina Emmerichs. Ungläubig weite ich die Augen. Natürlich, ist mir die Ähnlichkeit der zwei Frauen denn noch nie aufgefallen? Beide sind jung, ihre Haare sind blond und ihre Hautfarbe blass, ihre Statur ist zierlich. Sie sind ein und dieselbe Person. Der Gesichtsausdruck der eben noch selbstsicher Wirkenden ändert sich zu dem der Verzweifelten aus dem Saal nebenan. Mit einem Mal scheint aus ihren Augen der Wahnsinn, und ihre verzweifelte Mimik lässt mein Herz rasen. Es ist mir unbegreiflich, wie der Mann ihr gegenüber unberührt und ruhig sitzenbleiben kann; ich möchte schreien: „Siehst du denn nicht, wen du da vor dir hast? Daniel, siehst du nicht, wen du zur Frau nehmen willst?"
Ich springe auf; mein Mund ist trocken, meine Kehle wie zugeschnürt. Ich spüre nicht den heißen Tee, der sich über meine Hände ergießt, ich höre weder den Knall des Bechers, der auf den Boden fällt, noch die Schritte der Wärter, die von den Ausgängen herbeieilen. Ich sehe nur, dass die Frau auf der „Feierstunde" nicht diejenige ist, die sie zu sein schien, und mit gesenktem Haupt stürze ich laut schluchzend aus der Galerie.


Limoges, 09.01.2008
Katharina Standke
kati1231@yahoo.de

 

Salve Kasa,

erst einmal herzlich willkommen auf KG.de.

Was mir an Deiner Geschichte gefällt, ist, wie akribisch Die Ich-Erzählerin sich und ihre Umwelt beobachtet. Auch die Verknüpfung von bildender Kunst und Innenleben der Prota findet bei mir Anklang, da schlägt der Ex-Kunststudent in mir durch, der anderen zu gerne begreiflich gemacht hätte, was ein Bild in einem auslösen kann.

Was mir weniger zusagt, ist zum einen das Layout - etliche Absätze mehr wären vonnöten, um dem Text eine am Bildschirm angenehm lesbare Struktur zu geben.
Außerdem verliert sich die Erzählerin in zu vielen Details, udn schlimmer noch, diese Details lassen mich nicht nachspüren oder Athmosphäre wahrnemen. Stattdessen wird erklärt und erklärt und das Erklärte noch einmal anders formuliert toterklärt, dass ich die Lust verliere, mich durch den Text zu wühlen.
Die Hälfte des Umfangs hätte es auch getan; lieber ein paar prägnante Sätze, oder noch besser Szenen, in denen der Leser erleben darf, was die Protagonistin ihm umständlich vorkaut; in denen noch Raum für die eigene Fantasie, noch Interpretationsbedarf bleibt. Das würde die Geschichte lebendiger machen. So ist sie beinahe so zäh wie mancher kunsthistorischer Essay.
Manche Schleifen könnten auch sehr kurz abgehandelt werden; die Beziehung zum Exfreund zum Beispiel spielt bis auf die Tatsache, dass er der Protagonistin die Museumsjahreskarte schenkt, und dass sie einen Menschen in die Wüste schickt, der sie versteht, keine Rolle.

Was mir auch nicht gefällt, aber das ist persönlicher Geschmack, ist, dass die Protagonistin bei aller ausufernden Selbstreflexion nicht einmal bemekrt, dass sie den gleichen Fehler, den sie mit Manuel gemacht hat, mit Daniel zu wiederholen droht. Immerhin könnte ihr zum Schluss die Erkenntnis kommen, warum sie auf der Stelle tritt: aus vermeintlichem Verantwortungsgefühl ihrer Mutter gegenüber, die sie mit Kontrolle, Besserwisserei und Fürsorge (und vielleicht auch dem Leid, in dem sie sich aalt) angekettet hat.
Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass der Protagonistin das bewusst werden wird.
Am Schluss bleibt alles, wie es war. Die Geschichte tritt auf der Stelle, inhaltlich wie erzählerisch, und zwischen Anfang und Ende bleibt ein ermüdender, ichfixierte Monolog.

V.a. aus der Figurenkonstellation könnte man sehr viel machen, bei dieser Umsetzuing ist es schade um den Stoff.

LG, Pardus

 

Hey Kasa,

Also mir hat diese Geschichte sehr gut gefallen: Gerade die detaillierte Erzählweise der Protagonistin macht sie in meinen Augen zu einem schönen Text. Die Geschichte wirkt vollkommen real. Die Allegorien, die du mit den Bildern aufbaust, fügen sich perfekt in die Erzählung ein.

Vor allem am Anfang ist die Atmosphäre eine besondere, geschaffen durch Sätze wie:

"Die Tatsache, dass wir das Aroma von Roibos oder Minze nicht gemeinsam genießen können und die Teestunden somit recht einseitig verlaufen, macht mich jedoch nicht traurig, im Gegenteil."
- Formulierungen wie diese sind dir wirklich gelungen, sie sind teilweise fast unauffällig im Text versteckt und trotzdem ganz groß: Man könnte die Stimmung, die in der Erzählung vermittelt wird, kaum besser einfangen. Die Protagonistin scheint eine leichte Distanz von sich selbst zu wahren, während sie erzählt. Das macht sie jedoch ohne ins Ironische abzugleiten. Ihre Distanziertheit, die weniger kalt, als viel mehr sich selbst beobachtend wirkt, rührt vielleicht daher, dass sie sich gewisse Fragen nicht zu beantworten traut. Die Antworten liegen wohl hinter Fragen über die Mutter (wohlgemerkt nicht in Antworten von der Mutter) versteckt, die manches mal angedeutet aber nicht konsequent gestellt werden, weshalb die Protagonistin dazu verdammt ist, wieder in den gleichen ausweglosen Kreis zurückzufallen. Die Fixierung auf die Mutter erreicht vielleicht den Höhepunkt wenn die junge Frau in Depressionen verfällt und denkt, ihre Mutter hätte die Lösung für beider Probleme.

"Sind nicht ungeahnt viele Menschen auf etwas fixiert, das sie davon abhält, ihr wahres Leben zu leben, etwas, das sie schließlich zerstört? Einige können sich von dieser Schlange befreien, ohne, dass ihnen überhaupt bewusst war, dass sie sich in Gefahr befunden haben. Andere führen einen lebenslangen Kampf mit ihr aus, und wieder andere ergeben sich ihr einfach, ignorieren sie und hinterfragen ihr Dasein und ihre Auswirkung auf ihre eigene Existenz nicht.
Daniel gehört zur ersten Gruppe, ich zur zweiten und meine Mutter zur letzten."

Auch dieser Teil vom Text ist sehr interessant. Daniel hinterfragt einfach nicht, das neurotische Mädchen ist neurotisch und die Mutter. Was ist mit der Mutter? Das Mädchen identifiziert sich in ihrem Leid mit der Mutter (beide haben Depressionen), doch was sind die Auslöser? Bei dem Mädchen haben wir starke Andeutungen, warum sie immer wieder in den gleichen Bahnen gefangen ist (und realistischerweise, anders als mein Vorkritiker in Bezug auf das Ende der Geschichte kritisiert hat, gar nicht aus ihnen ausbrechen kann), doch was ist mit der Mutter? Wir wissen nicht, weshalb die Mutter von Depressionen geplagt ist. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es die Protagonistin weiß, bleibt aus irgendeinem Grund die Fixierung bestehen: Vielleicht, weil sie sie nicht allein leiden lassen will (ähnlich wird es auch einmal im Text erwähnt glaube ich). Deshalb erscheint die Mutter uns, und auch dem Mädchen, als fast schon mysteriöse Figur. Die Bedeutung, die ihr zukommt, ist vollkommen überhöhend:

"Und Mutter?
Wie aus einem Traum schrecke ich auf und wundere mich, wie ich sie in all meinen Überlegungen kurzzeitig vergessen konnte. Ja, Mutter. Mutter würde alleine zurückbleiben."

Das steigert sich bis zu dieser Formulierung, die zumindest auf mich, fast erschreckend gewirkt hat. Hier wird die gesamte Monströsität von dieser zwanghaften Fixierung ersichtlich: Ebenso wie bei den Bildern im Museum geht es hier schon weniger um die reale Mutter als das Bild der Mutter im Kopf des Mädchens, das hier endlos fordernd die Lebensenergie der Protagonistin in Anspruch nimmt.

Der Ausweg ist nicht sichtbar. Noch schwankt die Protagonistin zwischen der Negation der Mutter (was in der kurz aufflackernden Aggression zum Vorschein kommt) und dem abermaligen zurückfallen unter ihren (zumindest erdachten, denn wir wissen nicht, ob die Mutter tatsächlich sagte: "Du musst immer für mich da sein".) allumfassenden Einfluss. Beide Wege sind natürlich keine Lösungen. Ein dritter muss her.

Wirklich eine sehr schöne Geschichte. Gerade dadurch, dass sie ohne spektakuläre Ereignisse aufzutrumpfen versucht, gestattet sie den Blick für das Kleine offen zu halten, dass dann schließlich erdrückend groß werden kann.

Nur die Absätze hätten für das Lesen am Bildschirm wirklich besser gesetzt werden können.

lg,
tagträumer.

 

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