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Verwaiste Weihnacht
Während ich gemächlich durch die schlecht beleuchtete Gasse streife, genehmige ich mir einen Bissen von dem Salami-Sandwich, das ich heute Mittag einem unaufmerksamen Besucher des Weihnachtsmarktes stibitzt habe. Es schmeckt vorzüglich, die Weihnachtszeit ist eine der wenigen im Jahr, in der man überhaupt etwas findet; der Weihnachtsmarkt ist eine gute Quelle. Am Ende der Gasse stehen einige Müllcontainer, ich werde mich ihrer heute glücklicherweise nicht bedienen müssen, um irgendetwas Essbares aufzutreiben. Ich biege vor ihnen in eine andere, etwas breitere Straße ein. Es wird bereits dunkel und an den Fenstern sieht man tanzende Lichter in allen Formen und Farben, die ihren Schein auf die Straße werfen, wodurch teilweise lange Schatten entstehen. Einen letzten Bissen von meinem Sandwich nehme ich noch, ich muss es mir einteilen.
Aus einer nahe gelegenen Mülltonne springt mir ein kleines Buch ins Auge, dessen Seitenränder vergoldet sind; vielleicht ist es wertvoll. Ich nehme es aus der Tonne und schlage, nachdem ich den gröbsten Schmutz mit den Händen abgestreift habe, willkürlich eine der vorderen Seiten auf. Das Papier ist dünn und die Schrift klein und das Buch scheint daher viel kürzer zu sein, als es eigentlich ist. Ich überfliege diese Seite: sie handelt von einigen Hirten, die sich gerade mitten in der Nacht auf den Weg machen, um ein Neugeborenes in einem heruntergekommenen Stall zu sehen, nur weil ihnen angeblich ein Engel davon berichtet hat. Ich habe nichts für Fantasy-Romane übrig, sie lenken nur von der Wirklichkeit ab, weil die Autoren diese nicht wahr haben wollen. Sie verschleiern den Menschen den Blick für das Wirkliche. Dennoch stecke ich das Buch ein, vielleicht kann ich es irgendwann mal jemandem verkaufen, immerhin sieht es kostbar aus und hat recht viele Seiten.
Die ganze Zeit schon denke ich angestrengt nach, ob ich irgendetwas vergessen habe, denn heute sind für die Weihnachtszeit erstaunlich wenig Menschen unterwegs, obwohl ich mich schon in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt befinde. Das wird eine magere Ausbeute werden, aber daran lässt sich wohl nichts ändern.
Prunkvoll erscheint vor mir die Innenstadt, als ich um die nächste Straßenecke biege. Von Kaufhaus zu Kaufhaus sind Lichtbögen in der Form von Sternschnuppen gespannt, auf jedem größeren Platz steht ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum. Vom Weihnachtsmarkt tönt, aufgrund der Entfernung noch leise, Weihnachtsmusik herüber. In der Nähe singt ein recht kleiner Kinderchor und sammelt Geld für einen guten Zweck; wie man einem Schild entnehmen kann, für ein Waisenhaus; wahrscheinlich sind diese Kinder selbst die Bewohner. Während ich auf den Chor zugehe, fahre ich mit der Hand in die Hosentasche und krame darin nach einem Geldstück. Ich fördere eine 50-Cent-Münze zutage und umklammere sie fest in der Hand. Etwas von dem wenigen Geld, das ich besitze; ich fand diese Münze vor nicht allzu langer Zeit auf dem Boden einer Kirche. Was ich dort wollte? Etwas von der Kollekte abzweigen, aber der Gottesdienst hatte scheinbar zu früh geendet und so fand ich in der leeren Kirche nur noch diese Münze auf dem Boden zwischen zwei Kirchenbänken. Ein Besucher wird sie dort verloren haben.
Ich lausche einige Minuten dem Kinderchor, mein eigentliches Interesse gilt aber der Schale mit dem gesammelten Geld; darin befinden sich bereits einige Münzen, sodass es gar nicht auffallen würde, wenn dort ein paar fehlten. Gerade beendet der Chor die letzte Strophe eines Liedes, dass ich in der Weihnachtszeit recht oft zu hören bekomme, es erscheint mir jedoch recht sinnlos, welche Nacht war denn schon still und gar heilig? Unter der Brücke gab es keine Heiligkeit.
Ich lockere meinen Griff um die Münze und werfe sie möglichst lässig in Richtung der Schale mit dem übrigen Geld. Wie beabsichtigt fällt sie daneben. Ich trete näher und bücke mich, um die Münze aufzuheben, nehme sie in die Hand und bewege diese flüchtig zur Schale. Nach außen hin musste es so aussehen, als würde ich die Münze behutsam hineinlegen, aber tatsächlich erhasche ich mit einer schnellen Greifbewegung mehrere andere Münzen und streiche, während ich mich wieder erhebe, mit der Hand ruckartig durch die Schale, um die entstandene Lücke zu füllen.
So schnell wie möglich will ich wegrennen, bevor es jemand bemerken könnte. Ich beherrsche mich aber, drehe mich möglichst ruhig herum und entferne mich; langsam, obwohl meine Beine rennen wollen. Die Münzen brennen in meiner Hand, scheinen in das Fleisch zu schneiden. Die nächstmögliche Seitengasse nutze ich, um das Geld im Schutz der Abgeschiedenheit in meiner Hosentasche zu verstauen. Kaum bin ich um die Ecke gebogen, verfliegt auch die Hektik. Ich lehne mich an die Hauswand und verschnaufe ein wenig. Seltsamerweise geht mein Atem schneller, obwohl ich mich doch besonders bemüht habe, nicht zu eilen. Fragen drängen sich in meinen Kopf: Habe ich vielleicht zuviel Geld mitgenommen, wäre ich nicht auch mit weniger zufrieden gewesen? Das hätte die Gefahr aufzufliegen reduziert. Hat man etwas bemerkt? Ist man vielleicht bereits hinter mir her? Oder habe ich den Kindern vielleicht mehr geschadet als ich wollte? Im Prinzip waren sie doch Leidensgenossen, die Waisen...
Unsinn, ich muss an mich denken. Denen geht es doch gut in ihrem warmen Waisenhaus, immer mit Essen versorgt. Ich dagegen muss mich durchschlagen, muss hart bleiben in dieser noch härteren Welt. Dennoch will ich jetzt weg hier, weg von dem Weihnachtstrubel, der mir durch die heute geringe Anzahl an Besuchern des Weihnachtsmarktes noch überschwänglicher erscheint als sonst. Wohin auch immer diese Seitengasse mich also führen mag. Langsam stellt sich Fröhlichkeit über die erhaschte Beute bei mir ein und je weiter ich komme – wobei ich willkürlich in weitere Seitenstraßen abbiege – desto weniger Weihnachtsbeleuchtung belästigt mich mit ihrem grellen Schein. Ich brauche schließlich keine Angst zu haben, mich zu verlaufen, denn ich muss keinen bestimmten Ort finden. Schließlich aber kommt mir die Umgebung bekannt vor; seltsam, auf diesem Wege war ich noch nie hierher gelangt und eigentlich denke ich, dass ich die Stadt inzwischen ganz gut kenne. Da ich mich nun also orientieren kann, finde ich zum Bahnhof, der im Prinzip ein ganz guter Platz zum Übernachten ist; nur morgens wird es etwas ungemütlich, wenn die ersten Reisenden auftauchen und die Züge polternd einfahren. Darauf habe ich heute keine Lust und beschließe also, mich nach einem anderen Platz umzusehen.
Während ich in immer abgelegenere Stadtteile vordringe, werden die Häuser ringsum immer schäbiger; einige davon sind gar nicht bewohnt. Von Weihnachten ist hier nichts mehr zu spüren. An den Straßenecken sieht man jetzt immer mehr schlafende Obdachlose, teils auch Ansammlungen an einem Fleck. Obwohl ich einer von ihnen bin, verstehe ich sie nicht ganz; ich will viel lieber alleine sein. Warum mich mit noch mehr Elend abgeben, wenn meines schon für zehn normale Menschen ausreicht?
Eine kleine Straße mit einer flackernden Laterne scheint mir geeignet. Als ich mich jedoch gerade auf den harten Pflastersteinen zur Ruhe betten will, horche ich auf. Leise dringen mir merkwürdig bekannte Stimmen eines Chores an mein Ohr, die ein Weihnachtslied singen; „Ihr Kinderlein kommet“, lautet es. So leise, dass ich zuerst denke, es mir einzubilden, nachdem ich mich zuerst in der festlichen Innenstadt herumgetrieben habe und es hier nun so ruhig ist. Dennoch folge ich den Stimmen; sie werden lauter, als ich um eine Straßenecke biege. Eines der wenigen Häuser hat noch ein erleuchtetes Fenster. Behutsam schleiche ich mich heran; schleiche, obwohl mich doch niemand in der dunklen Gasse sieht oder hört. Aus einiger Entfernung, um ja nicht gesehen zu werden, spähe ich durch das verschmutzte Fenster: Dahinter liegt ein für die Verhältnisse in diesem Stadtteil recht großer Raum; darin befinden sich einige Kinder und wenige Erwachsene. Der weihnachtliche Chor rührt von den Kindern her, die – unter diesen schäbigen Verhältnissen doch recht fröhlich – um einen kleinen und kaum, aber dennoch liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum tanzen.
Mein Blick fällt auf das verwitterte Schild über der Haustür: „Waisenhaus Sonnenschein“
Kurz blitzt die Erinnerung an meine Eltern auf und mit ihr entflammt die alte Wut: Wie konnten sie mich damals, als ich noch ein Kind war, verlassen? Wie konnten sie einfach sterben, sich ihrer Verantwortung entziehen? Und mich als ihr einziges Kind zurücklassen?
Ich schaue wieder durch das Fenster und beobachte, wie ein jedes Kind nacheinander eines der mit kleinen Zetteln versehenen Geschenke unter dem Baum hervorholt und mit Vorfreude im Gesicht auspackt. Was sich in den Geschenken befindet, ist zwar von geringem materiellem Wert, doch die Kinder freuen sich trotzdem königlich darüber: eine kleine Holzeisenbahn, ein Bilderbuch, eine altmodische Puppe, Bauklötzchen und dergleichen mehr. Nur ein Kind steht mit tränenverschmierten Gesicht etwas abseits und sieht so aus, als würde es jeden Moment wieder zu weinen beginnen, jedoch beherrscht es sich noch; es hat als einziges kein Geschenk bekommen. Ich sehe mir nun auch die Gesichter der anderen Kinder genauer an; einige kommen mir seltsam bekannt vor… woher nur? Wie ein Lichtblitz streift ein Gedanke, eine Erinnerung meinen Geist; ich weiche vom Fenster zurück und stehe kurz regungslos da. Dann schaue ich auf die Uhr, es ist gerade mal acht Uhr abends. Ich drehe mich um und renne davon, biege um einige Ecken, nicht genau wissend, wonach ich eigentlich suche; ich habe nur eine vage Vorstellung.
Da endlich werde ich fündig, am Ende der Straße befindet sich ein kleiner Spielzeugladen; der Besitzer, ein alter, weißhaariger Mann, will gerade schließen; ich stürze noch herein. Er mustert mich argwöhnisch, wahrlich, ich erwecke wohl eher den Anschein, den Laden ausrauben zu wollen, so wie ich erscheine. Wortlos schreite ich das Regal entlang; mein Blick fällt auf ein kleines Säckchen mit bunten Murmeln, die mich faszinieren: Einige davon sind trüb, andere erstaunlich klar; manche einfarbig, andere von vielen farbigen und filigranen Linien durchzogen; doch eines haben sie alle gemein: wenn man sie ins Licht hält, leuchtet irgendetwas kleines in ihnen auf.
Ich nehme das Säckchen aus dem Regal und gehe damit zur Kasse; der alte Mann nennt mir den Preis. Meine Hand fährt in die Hosentasche und kramt die erst kurz zuvor erbeuteten Münzen heraus. Sie glänzen im Schein der Lampe an der Decke. Ich lege sie dem alten Mann hin und verlasse schnell den Laden; er sieht mir noch etwas nach; zwar drehe ich mich nicht um, doch spüre ich seine Blicke im Rücken. Nachdem ich um die nächste Straßenecke gebogen bin, beginne ich wieder zu laufen; behänd tragen mich meine Beine dahin, als ob sie den Weg kennen. Ich umklammere das Säckchen mit dem Murmeln fester, habe Angst, jemand könne aus einer der dunklen Ecken hervorschießen und es mir aus der Hand reißen; seltsam, so erging es mir mit Münzen nie. Die Murmeln dagegen scheinen viel wertvoller zu sein; sie haben ein Ziel, sie haben eine Bestimmung, sie müssen ankommen!
Der Rückweg erscheint mir viel länger als der Hinweg, doch schließlich komme ich wieder am Waisenhaus an. Die Kinder sitzen nun bei Tisch und essen Suppe; viel gibt es nicht. Nur der Junge, der ohne Geschenk blieb, rührt mit seinem Löffel lustlos und gedankenversunken darin herum. Ich erhebe die Hand zum Türknauf und zögere kurz, doch dann trete ich ein. Viel wärmer als draußen ist es hier nicht. Eine alte und verdrängte Erinnerung kommt in mir auf, das Waisenhaus, in das man mich damals gebracht hatte, erscheint vor meinem geistigen Auge; obwohl es ganz anders war als dieses hier - nicht so heruntergekommen - haben die beiden Waisenhäuser irgendetwas gemeinsam, das mich erschauern lässt. Ich habe diese Einrichtungen damals schon nicht gemocht und glücklicherweise waren die Betreuer - man sollte sie besser "Bewacher" nennen - nicht so aufmerksam, sodass ich eines nachts entfliehen konnte. Seltsam, die Kinder hier scheinen alle fröhlich zu sein und nicht an Flucht zu denken, obwohl die Zustände hier noch schlimmer sind als in meinem Waisenhaus damals.
Zögerlich gehe ich bis zu der Tür, hinter der sich der Raum befinden muss, in den ich eben durch das Fenster hineinsah. Ich öffne sie, alle Blicke wenden sich mir zu. Nun gibt es kein zurück mehr, eine der Betreuerinnen hat sich bereits erhoben und macht Anstalten, auf mich zuzugehen. Zielstrebig gehe ich um den großen Tisch herum zu dem Jungen, der mich nun ängstlich und zugleich erwartungsvoll ansieht. Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich lockere meinen Griff und überreiche ihm das Säckchen mit den Murmeln. Während er es öffnet und Murmel für Murmel einzeln in die Hand nimmt und herumdreht, strahlt er übers ganze Gesicht. „Frohe Weihnachten“, entfährt es mir.