Verwackelt und deswegen unscharf und irgendwie gerade deshalb so schön
„Du musst es ihm sagen, Theo.“
Gehetzt reiße ich den Blick vom Spiegel los und sehe zu meinem Bruder Noah, der mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnt. Mit zusammengezogenen Augenbrauen mustert er mich forschend und lässt mich seine Sorge förmlich spüren.
„Ich muss gar nichts!“, fauche ich, während ich verzweifelt versuche, mir eine Fliege umzubinden. Seufzend stößt sich Noah ab und stellt sich vor mich. „Komm, lass.“
Konzentriert arbeitend gibt er mir Zeit, zu überlegen, wie ich dieses Thema umschiffen kann, aber er kennt mich viel zu gut, als dass er mich jetzt davonkommen lassen würde. Ich will mich wegdrehen, aber seine Hände auf meinen Schultern hindern mich daran. Sein warmer Atem streift mein Gesicht, während seine Wimpern blasse Schatten auf seine Haut werfen.
„Ich meine es ernst.“, murmelt er mit eindringlicher Stimme.
„Ich auch.“ Ich möchte stark und entschlossen klingen, doch es gelingt mir keineswegs. Dieses Mal lässt er mich gewähren, als ich mich zu lösen versuche und ich winde mich unter seinem mir stets folgenden Blick, als ich das Haargel zwischen meinen Fingern verteile und in meine Locken einarbeite. Die Stille im Badezimmer ist so laut, dass mein Kopf zu schmerzen beginnt und selbst das eiskalte Wasser, das nun über meine Finger rinnt, macht es nicht besser. Noah stellt den Hahn aus, bevor er von hinten die Arme um mich schlingt.
Er flüstert: „Rede mit mir.“
Ich schließe die Augen und lege den Kopf nach hinten auf seine Brust. Ich kann nichts sagen, weil ich mir selbst nicht traue. Der Kloß in meinem Hals ist so groß, dass ich kein Wort über die Lippen bringen kann, ohne eine Träne zu riskieren. Und ich möchte nicht vor Noah weinen, nicht jetzt.
Also warten wir schweigend, während die Lämpchen rund um unseren Badezimmerspiegel unsere Haut in ein seltsames Licht tauchen. Worauf wir eigentlich warten, weiß ich nicht, aber es ist irgendwie auch egal. Ich habe eigentlich noch viel zu viel Zeit, aber diese verdammte Nervosität treibt mich dazu, nun schon beinahe so gut auszusehen, wie ich es erst in einer Stunde zu tun brauche.
„Du siehst gut aus!“, sagt Noah dann auch sanft und ein Lächeln umspielt seine Lippen, als ich seinem musternden Blick im Spiegel begegne. Ich bedanke mich für das Kompliment, indem ich leicht zurücklächle. Jetzt sehe ich nicht weg, als Noah spricht.
„Du musst es ihm wirklich sagen, Theo. Er hört es von jedem, nur nicht von dir. Keinen einzigen Tag lang kann es so weitergehen, denn du leidest und deshalb muss sich etwas ändern.“
Ich ignoriere letzteres, horche aber auf. „Was hört er von jedem?“
Schwungvoll werde ich von Noah herumgedreht, damit er mir direkt ins Gesicht blicken kann. „Wenn du dich mal erleben könntest, wenn du bei ihm bist. Du...du...genießt alles, was er macht. Was er sagt, wie er es sagt...man könnte förmlich meinen, du hast Mühe, vor Genuss nicht die Augen zu schließen, wenn er dich berührt.“
Mir steigt die Röte ins Gesicht, als ich meinen Bruder diese Worte sagen höre. Er lacht bitter auf, während er mich leicht schüttelt. „Mein Gott, Theo! Wach auf! Deine Gefühle sind so offensichtlich, dass es geradezu dreist wäre, sie vor irgendjemandem zu leugnen.“
„Ich leugne sie nicht, nicht vor dir.“
„Ja, aber vor jedem anderen da draußen. Du bist den ganzen Tag mit nichts anderem beschäftigt, als zu versuchen, das für uns alle Sichtbare zu verstecken und abzustreiten.“
Darauf möchte ich unbedingt etwas erwidern, aber ich weiß nicht, was, weil Noah die Wahrheit sagt. Ich mache mich hastig von ihm los und verlasse das Bad, um nach dem Betreten meines Zimmers die Tür hinter mir zuzuwerfen. So nah am Fenster stehend, dass meine Nase beinahe das Glas berührt, starre ich auf die Straße, auf der Felix in knapp einer Stunde zu mir fahren wird, um mich abzuholen.
Als ich auf einmal Noah neben mir wahrnehme, zucke ich nicht zusammen. Sein Arm berührt meinen nur so leicht, dass ich die Wärme, die von ihm ausgeht, nicht direkt spüren kann.
„Klar ist, dass du so nicht glücklich bist.“, stellt er mit ruhiger Stimme fest.
Meine fehlende Antwort ist ihm Aussage genug.
„Darf ich fragen, warum genau du mit Felix bis jetzt nicht einmal einen Schritt in die Richtung gegangen bist , die du gerne einschlagen würdest? Ich meine...eure Freundschaft ist dir nicht genug. Und glaube mir, jeder, der Augen im Kopf hat, sieht das. Felix auch, er ist schließlich nicht blind!“, sagt Noah laut und wirft die Arme in die Luft, bevor er sie verschränkt.
Das Adrenalin bahnt sich den Weg durch meine Adern, während ich ihm zu erklären versuche, warum ich nicht einfach die Karten auf den Tisch legen kann.
„Ich bemühe mich doch, es ihn nicht sehen zu lassen!“, verteidige ich mich. „Er hat schließlich ein Recht darauf, von seinem schwulen besten Freund in Ruhe gelassen zu werden. Ein zu weit gehender Schritt von mir in eine Richtung, die er nie einschlagen wollte, und alles ist am Arsch. Es wäre nie wie vorher! Ein zu hohes Risiko. Wer sich dafür entscheidet, dieses einzugehen, muss verrückt sein! Sehr sehr verknallt und deshalb vollkommen verwirrt und verrückt.“
„Das heißt...etwas zu ändern oder einen gewissen Schritt zu wagen, wäre falsch, selbst wenn einer unter der Situation so sehr leidet, dass er...“
Ich schnaube verächtlich. „Selbst dann! Man kann nicht alles haben. Zufrieden sein mit dem, was man hat, selbst, wenn man noch viel mehr will. Ist es nicht das, worum es geht?“
Mein Bruder schüttelt verständnislos den Kopf. „Hörst du eigentlich, was du da sagst? Du sprichst von Felix, verdammt nochmal! Ihr beide seid quasi schon jetzt wie ein altes Ehepaar! Ich bin mir nicht mal sicher, ob du mehr Zeit mit ihm oder mit mir seit deiner Geburt verbracht hast.“
„Eben. Und genau deshalb verknallt man sich nicht in jemanden, mit dem man gemeinsam auf diese Weise aufgewachsen ist! Mich wundert es, dass er es überhaupt noch mit mir aushält. Ich bin eigentlich doch wie ein Bruder für ihn. Wie ein Bruder, der ihn anhimmelt. Was für eine Scheiße.“
„Du kannst doch eigentlich gar nicht wissen, was er von der ganzen Sache hält, wenn du nicht mal ehrlich und offen mit ihm darüber redest. Wenn du es ihm sagst und nicht länger krampfhaft so tust, als wäre da nichts.“, meint Noah langsam.
Ich seufze. „Wenn es doch laut dir so offensichtlich ist, dass ich mehr von ihm will und ihm das ja wohl auch jeder unter die Nase reibt, wieso kommt er dann nicht von sich aus zu mir, hm? Wenn es ein Thema für ihn wäre, hätten wir bereits darüber geredet. Aber das haben wir nicht. Weil es ihn anscheinend nicht beschäftigt oder ihm egal ist. Oder weil er den anderen vielleicht auch gar nicht glaubt. Oder weil er es nicht wahrhaben will und einfach ignorieren kann. Wir schweigen über die ja angeblich so offensichtliche Sache. Damit ist ja wohl sonnenklar, dass er das Ganze rein platonisch belassen will. Platonisch, verstehst du? Nur Kumpel. Nicht mehr.“
Noah knurrt mich daraufhin förmlich an. Seine Augen blitzen und er ist wirklich wütend. „Und du glaubst, es würde ihm so leicht fallen, in dieser Sache auf dich zuzugehen, ja?“
„Was willst du damit sagen? Dass er sich einfach nicht traut, mir zu sagen, dass er eigentlich überhaupt nichts dagegen hat? Dass es für ihn voll in Ordnung geht, wenn sein bester Freund ihn sich nackt unter Dusche vorstellt? Aber klar doch!“, fauche ich zurück.
„Vielleicht! Schon mal daran gedacht?“, ruft Noah aufgebracht.
Ich schnaube. Noah irrt sich und verrennt sich in seltsamen Gedanken, da bin ich mir sicher. Ich drehe mich weg von ihm und lasse angespannt meinen Blick schweifen, bis sich Noah abwendet und ächzend auf meinem Bett Platz nimmt. Er betrachtet die vielen Fotos, die ich mit Tesafilm an die Tapete geklebt habe.
Felix und ich letztes Jahr in New York. Arm in Arm strahlen wir in die Kamera.
Felix und ich nach unserem gemeinsam bestrittenen Marathon. Er hätte so viel schneller sein können, aber er ist nicht von meiner Seite gewichen und reckt meine Faust als Siegesgeste in die Luft.
Felix und ich bei unserem letzten Bandauftritt. Er hat noch nie so gut gespielt wie an diesem Abend.
Felix und ich. Nur Felix und ich. Es ist mein Lieblingsfoto, weil es so echt ist. Weil wir beide darauf so echt sind. Nur wir zwei. Verwackelt und deswegen unscharf und irgendwie gerade deshalb so schön.
Noah zupft das Foto von der Wand und fährt mit dem Daumen darüber. „Vielleicht hast du recht, und wir drei sind wirklich wie Brüder. Aber weißt du, welchen Beweis ich dafür habe, dass wir es nicht sind?“
Er wartet nicht ab, ob ich etwas sage.
„Ich mache es daran fest, dass es mich nicht im Geringsten stören würde, wenn ihr beide was miteinander hättet. Ehrlich gesagt würde sich nicht sehr viel ändern, glaube ich. Außer vielleicht, dass sich mein Kondomvorrat auf scheinbar unerklärliche Weise schneller leeren würde.“
Ich springe auf ihn zu und lasse mich auf sein neckendes Grinsen ein.
„Du wagst es...!“, rufe ich, während ich versuche, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen. Aber ich habe keine Chance gegen ihn und als er meine Handgelenke fest umklammert hält, wird er wieder ernst. Fahrig versucht er mein jetzt zerknittertes Hemd glatt zu streichen.
„Theo...warum, denkst du, hat Felix dich gefragt, ob du ihn heute als Date zum Ball begleiten willst?“, fragt er mich vorsichtig.
„Erstens bin ich ganz sicher nicht sein Date und zweitens hat er es getan, damit ich nicht wieder einsam herumstehe, während sich alle lachend mit ihren Partnern im Kreis drehen. Er hat mich gefragt, weil keiner da heute alleine hingeht. Es ist sein Geschenk an mich, er hat es selbst so genannt. Eine freundschaftliche Geste. Ein Geschenk! Er meint es nur gut.“
Noah wirft mir einen aufmerksamen Blick zu. „Ich bin mir sicher, dass er es nicht freundschaftliche Geste genannt hat.“
Ich verdrehe trotzig die Augen. „Keine Ahnung.“
Ich will nicht weiterreden. Ich will bloß diesen anstrengenden Abend hinter mich bringen, bei dem ich die ganze Zeit bloß versuchen werde, nicht zu viel von Felix anziehendem Geruch wahrzunehmen, um nicht durchzudrehen. Mir wird schlecht bei dem Gedanken daran, wie nah wir uns beim Tanzen sein werden. Den wird er nicht ausfallen lassen, das hat er extra betont. Ein Geschenk für dich. Ich schenke dir mich für diesen besonderen Anlass, mit einem Tanz. Ich bestehe darauf. Oder auch zwei. Du darfst entscheiden, es ist dein Abend, hat er gesagt.
Ich glaube, es wird mir jetzt schon zu viel. Die Verzweiflung frisst sich durch meinen Bauch und ich kann auch nicht ignorieren, dass ich so angespannt bin, dass es nicht mehr gesund sein kann. Ich will und darf Felix nicht verlieren, darum muss ich mich dringend zusammenreißen.
Noah legt sich auf die Seite und streckt einen Arm nach mir aus. Ich zögere, also schürzt er missbilligend die Lippen.
„Komm schon!“, fordert er mich auf und wedelt mit der Hand in seine Richtung.
Ergeben lasse ich mich mit dem Rücken zu ihm an ihn ziehen. Augenblicklich werde ich ruhiger und kann wieder durchatmen. Es ist wie früher. Beinahe kann ich das Baumhaus riechen, das Dad für uns gebaut hat. Dankbarkeit für diesen Moment der Entspannung durchflutet mich und erfüllt meinen Verstand mit der Erkenntnis, dass Noah sich seiner Wirkung damals wie heute bewusst ist. Er vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren.
„Weißt du noch, wie wir zu dritt diese Nacht drüben bei Opa auf dem Grundstück verbracht haben? Wie wir so lange durch den Wald gezogen sind, bis es so stockfinster war, dass wir uns gegenseitig nicht mehr sehen konnten? Und wie wir den Weg nur zurückgefunden haben, weil Felix zufällig in Opas Froschteich gestürzt ist, der uns die Orientierung wiedergebracht hat? Eine Stunde haben wir zur Scheune gebraucht, uns Schritt für Schritt vortastend. Eine ganz Stunde für dieses kurze Stück.“
„Ich erinnere mich.“, flüstere ich glucksend. „Ich bin nach wie vor der Meinung, dass da noch jemand anderes draußen im Wald war.“
Noah kichert. „Der schwarze Mann.“
„Tut mir leid, dass ich dich deshalb ständig geweckt habe.“
„Ach was. Ich hatte sehr viel Spaß daran, mir jedes Mal neue Strategien auszudenken, um ihn zu besiegen.“, murmelt Noah undeutlich. Seine Brust hebt und senkt sich mit jedem Atemzug an meinem Rücken.
Mit einem Schlag bin ich wieder ein kleiner Junge, der mit nackten Füßen durch den kalten dunklen Flur zur Zimmertür seines großen Bruders tapst und dabei sein Plüschtier fest an sich presst, während der Alptraum die Gedanken noch immer beherrscht. Noah hat stets alle bösen Geister vertrieben und unermüdlich für mich gekämpft. Damals wie heute. Immer.
„Ich muss dir was sagen.“, meint Noah plötzlich in die Stille hinein und richtet sich auf. Seine Stimme klingt eigenartig. Ich drehe mich um 180 Grad und stütze mich auf meinem Ellenbogen ab. Abwartend schaue ich ihn an. Ein seltsames Gefühl ergreift von mir Besitz, es ist eine sonderbare Mischung aus Neugierde und Angst. Es liegt etwas in der Luft, etwas Großes. Es wabert hier durch den Raum und wartet darauf, alles zu verändern.
„Hör zu.“, sagt Noah, nachdem er offensichtlich mit sich gehadert und sich dann einen Ruck gegeben hat. „Ich weiß nicht, ob ich das jetzt tun sollte. Ob es fair ist. Gleichzeitig solltest...ähm...musst du aber wissen, was ich...getan habe.“
Beunruhigt knete ich die Bettdecke. „Scheiße, das klingt nicht gut.“
„Nein, es ist...ich weiß nur einfach nicht, ob ich mich auf diese Weise einmischen sollte.“
„Geht´s um heute Abend?“ Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich setze mich in den Schneidersitz. „Was ist los?“
„Okay. Felix hat mich angerufen, bevor er dich gefragt hat, ob du ihn zum Ball begleiten willst.“
„Und weiter?“, frage ich verblüfft und weiß nicht, wo mir der Kopf steht.
Noah fährt sich durch die Haare. „Ja, er...hat mich angerufen. Und mich gebeten, zu ihm zu fahren. Ich war bei ihm und wir haben geredet. Lange und viel und ehrlich und...einfach über so ziemlich alles.“
Mühsam schlucke ich. „Worüber genau habt ihr geredet?“
Noahs Blick trifft auf meinen und lässt ihn nicht mehr los. „Wir haben über dich gesprochen, hauptsächlich. Über euch, Felix und dich.“
Mit großen Augen sehe ich meinen Bruder an. „Was...was hat er gesagt?“ Mein ganzer Körper kribbelt vor Aufregung. Noah wippt mit dem Oberkörper ganz leicht vor und zurück. Er beißt sich auf die Lippe. Ich halte es keine Sekunde länger aus.
„Was hat er...über mich gesagt?“, wispere ich so leise, als fürchte ich, Felix könne sich unter dem Lattenrost verstecken und lauschen.
„Du bist der wichtigste Mensch in seinem Leben. Das hat er dreimal gesagt, glaube ich. Oder viermal.“
Ich betrachte meine Knie. In meinem Brustkorb zieht sich alles zusammen.
„Theo, pass auf.“ Noah legt eine Hand auf meine Schulter. „Ich fühle mich nicht gut dabei, dir zu erzählen, was er mir anvertraut hat. So etwas macht man normalerweise nicht, aber ich tue es trotzdem, für dich. Für euch beide, weil ich denke, dass es hilft. Weil ich denke, dass du sonst nicht das sehen wirst, was er dir klarmachen will.“
Ich öffne den Mund, doch er lässt mich nicht zu Wort kommen. „In deiner Vorstellung rennt er schreiend davon, wenn du ihn mit deiner Liebe zu ihm konfrontierst und die Mutmaßungen aller anderen bestätigst.“
Es ist das erste Mal, dass Noah von Liebe spricht. Röte schießt mir in die Wangen und ich schnappe nach Luft.
„Du glaubst, es verheimlichen zu können und zu müssen. Aber ich habe dir vorhin schon versucht klarzumachen, dass er nicht blind ist! Deswegen wollte er es wirklich wissen. Er hat mich ganz explizit gefragt, ob ich weiß, was du wirklich für ihn empfindest. Keine Lügen, hat er gemeint, keine Ausreden. Er hat sich nicht getraut, dich direkt zu fragen...musste aber wissen, was an den Vermutungen der anderen wirklich dran ist. Und an seiner Vermutung. Er brauchte Klarheit und vor allem...die Wahrheit.“
Ich spreche so schnell, dass ich mich verhaspele. „Was hast du gesagt?“
Er zögert und ich schreie. „Was hast du ihm verdammt nochmal gesagt?“
„Ich habe ihm erzählt, du liebst ihn. Schon lange und ziemlich heftig.“
Ich kneife zitternd die Augen zusammen und balle meine Hände zu Fäusten. Mein Kopf ist wie leer gefegt. Warum hat Noah nicht für mich gelogen? Warum hat er mich verraten und damit alles verändert? Warum lädt er die Schuld auf sich, für das Aus meiner Freundschaft zu Felix verantwortlich zu sein? Jetzt ist tatsächlich alles zerstört!
Schwer atmend rücke ich von Noah ab. Ich will und kann ihn nicht ansehen. Bevor ich aus dem Zimmer stürmen kann, hält er mich fest und zieht mich mit all seiner Kraft zu sich zurück.
„Es tut mir leid! Aber es ist jetzt gut so!“
„Nichts ist gut! Wie konntest du nur? Wie konntest du mir das antun?“
„Mein Gott, denk nach, Theo! Denk nach! Ich habe es ihm doch gesagt, bevor er dich zum Ball eingeladen hat!“
Nun halte ich wirklich inne und höre auf, ihm meinen Arm entwinden zu wollen. „Aber warum sollte er…?“
„Verstehst du denn gar nichts?“ Er steht auf und stellt sich vor mich. „Es ist seine Art, dir zu zeigen, dass es für ihn okay ist. Es ging ihm bei der Einladung zum Ball nicht um etwas Freundschaftliches. Also auch, aber nicht nur. Es ist seine Gelegenheit, dir klarzumachen, dass es gut so ist. Ich habe ihn dazu ermutigt, weil er sich so unsicher war. Es ist sein erster Schritt. Er akzeptiert es, er akzeptiert dich. Genau so, wie du bist! Dass du ihn dir nackt unter der Dusche vorstellst. Oder so ähnlich.“
Ich kann nicht denken.
„Mit der Gewissheit, die ganze Zeit richtig gelegen zu haben, war er sich sicher, das heute durchziehen zu wollen. Theo, es stört ihn nicht. Im Gegenteil. Ich glaube, er mag dich mehr, als du je zu hoffen gewagt hast. Er beweist es dir mit diesem Abend. Und er hat mir erzählt, dass er sich...“
Ich reiße urplötzlich den Kopf herum, als der stechende Ton unserer Klingel mir durch und durch geht. Es scheint, als ob die Schallwellen nicht nur mein Trommelfell in Schwingung versetzen, sondern gleich alles um mich herum. Noahs Hände drücken mich nach vorne, er schiebt mich durch den Flur Richtung Türe, aber ich merke es kaum, weil noch immer der laute Ton der Klingel in mir wütet, sodass ich denke, er wird mich ab heute immer begleiten. Ich beginne vor Aufregung zu schwitzen. Verzweifelt versuche ich verarbeiten, was ich gerade erfahren habe. Was geht hier vor? Es geht mir alles zu schnell. Ich will mich setzen und sammeln, doch mir bleibt keine Zeit.
Vor der Tür steht Felix im Anzug. Er ist hier. Seine eine Hand hält Blumen, die andere winkt mir leicht zu. Wir starren uns an. Er sieht atemberaubend gut aus. Ganz kurz blitzt in mir die Vorstellung auf, wie er mich jetzt fest am Hemdkragen packt, gegen die nächste Wand presst und mit dem besten Zungenkuss meines Lebens beglückt. Aber das macht er natürlich nicht. Sein Blick flackert stattdessen unruhig hin und her und tastet mein Gesicht ab. Ich glaube, er bemüht sich darum, jede kleinste meiner Muskelbewegungen zu interpretieren und richtig auszulegen. Genau wie ich.
Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Wie entblößt fühle ich mich. Ungeschützt, geöffnet, nackt. Er weiß es endgültig. Keine Spekulationen mehr. Ich kann es nicht abstreiten und ich muss es auch nicht. Es ist real und er weiß es. Und, was noch viel wichtiger ist, es stört ihn nicht. Im Gegenteil.
„Ähm, hi!“, sagt Felix, „Na, fertig für die Party?“ Er hält mir die Blumen vor die Nase.
„Für dich.“, verkündet er feierlich und strahlt mich an.
Schmunzelnd nehme ich sie entgegen und versuche peinlich berührt zu verbergen, wie wahnsinnig nervös ich bin. „Danke.“
Ihm wird wohl bewusst, dass ich noch meine Jogginghose trage, denn seine Augenbrauen wandern ein Stück höher. „Du bist wohl noch nicht so richtig fertig, was?“
Ich trete auf ihn zu und während ich ihn zur Begrüßung umarme, inhaliere ich die Luft um uns herum. Ich tue es so deutlich, damit Felix es merkt und als er erschaudert, weiß ich, dass mein Vorhaben gelungen ist. Keinesfalls will ich mich an ihn klammern und ihn verschrecken, aber als ich ihn so nah bei mir spüre, kann ich nicht anders, als ihn so fest an mich zu drücken, dass ich merke, wie schnell sein Herz schlägt. Nur ein winziger Moment des Zögerns, dann erwidert er meine Umarmung sichtlich überrascht, aber umso inniger.
Er hat keine Ahnung davon, dass ich weiß, dass er weiß, dass ich ihn liebe. Ich liebe ihn. Weil er mein ganzes Leben mit mir verbracht hat. Weil er alles mit mir durchgestanden hat. Weil er er ist. Er ist heute hier, um mit mir zu feiern. Trotz meiner Gefühle für ihm. Und ich hoffe, auch gerade deshalb.
Sanft löse ich mich von ihm und ergreife seine Hand. Wie hypnotisiert beobachten wir beide gemeinsam, wie ich sie langsam zu meinen Lippen führe und einen Kuss darauf setze.
„Okay?“, frage ich vorsichtig.
Einst hat er das Lächeln von meinem Lieblingsfoto der Kamera geschenkt. Jetzt schenkt er es mir.