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Verwässert
Unaufhaltsam fiel der Schnee, schon den ganzen Tag. Wie weißes Rauschen, nicht stark genug, um das Signal zu überdecken. Es war kein schöner Schnee. Unangenehm war es, von den dicken, wässrigen Flocken getroffen zu werden. Nichtsdestotrotz trugen sie viel mehr Wasser in sich, als man annehmen sollte. Jede war übervoll und gab alles erst frei bei ihrem abrupten Ende auf dem unnachgiebigen Asphalt, auf dem sich der Schnee im scharfen Kontrast zu den wenigen, rettenden grünen Inseln einfach nicht halten konnte.
Niemand hatte mich verabschiedet, niemand würde mich begrüßen oder erwarten, und doch würde ich mit viel zu vielen Personen ungewollte Gespräche führen müssen. Derart ungewollte Gespräche, dass mich allein der Gedanke daran in genau die angst- und zugleich hasserfüllte Stimmung versetzte, die die Grenzen meines guten Vorsatzes aufdeckte. Also klärte ich all die Dinge, denen ich nicht ausweichen konnte, so schnell wie möglich und dann stand ich auf dem großen Platz, der so ungewohnt leer war. Ich stand dort und es war 11 Uhr und ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Dabei hatte auf dem Papier alles, was man braucht, um ein glückliches Leben zu leben. Es gab sogar Orte, an denen sich meine Anwesenheit vermutlich positiv ausgewirkt hätte, aber ich wollte nicht in die WG. Ich wollte nicht den Handwerkern begegnen und mir wie immer so fehl am Platz vorkommen. Und selbst der Gedanke an den echten menschlichen Kontakt, den ich so dringend gebraucht hätte und den ich hätte haben können, indem ich mich mit Christian unterhalten hätte war es in diesem Moment nicht Wert, abgewiesen zu werden. Es wäre Abweisung in ihrer schwächsten Form gewesen, aber es wäre Abweisung gewesen, ich wäre allein in meinem Zimmer gesessen, hätte mich selbst und alle anderen gehasst und diesen Hass dann online betäubt. Wäre ich nur gegangen.
Aber ich ging nicht und so stand ich alleine auf dem großen leeren Platz, auf dessen unebenem Kopfsteinpflaster sich riesige Pfützen ansammelten. Die Schneeflocken wurden immer dicker und trieben mir ins Gesicht und durchnässten mich bei ihrem Auftreffen mit ihrer gewaltigen nassen Last. Ich hielt es nicht mehr aus und ging los, hastig in verschiedene Gebäude, ohne zu wissen, was ich dort wirklich wollte. Jeder fragende Blick, der mich traf, ließ mich weiter taumeln in eine Richtung, die kein Mensch mit einem klaren Kopf jemals einschlagen würde.
Am Ende landete ich in der ebenfalls noch vollkommen leeren Kantine, vor mir eine zu meinem nicht vorhandenen Appetit unverhältnismäßige Portion Essen als Schutzwall vor jenen Blicken, vor denen mich nichts schützen konnte außer Isolation. Und so saß ich dort und genoss in einer seltsamen Art und Weise wie mir mein Essen mit jedem Biss mehr widerstand. Es schmeckte nach genau der überflüssigen, lieblosen Nahrung, die sie auch war, und nach nichts sonst. Und mir wurde schlecht davon, schlecht von dem ganzen, noch so jungen Tag, schlecht von der pummeligen Asiatin, die ein paar Tische weiter ebenfalls alleine aß und dabei auf ihrem Laptop eine Serie anschaute. Ich erhob mich über sie, ich schaute mit Abscheu auf sie herab und lechzte gleichzeitig nach der schützenden Betäubung, die sie erfuhr, statt wie ich qualvoll meiner bewussten Wahrnehmung jedes einzelnen dieser Momente ausgeliefert zu sein. Ein Ende schien der Natur meiner Situation zu widersprechen.
Niemand saß neben mir, aber der Zug war voll mit Kindern nach Schulende. Voll mit pubertären Lakaien, geleitet von einer unsichtbaren Hand, bereit alles zu tun für ein bisschen Popularität. Ich fühlte mich ihnen überlegen in ihrer unwissenden, unüberlegten, verletzenden Art. Der Geruch ihrer billigen Snacks aus dem Automaten am Bahnhof wurde zu purem Hass sobald ihn meine Sinne aufnahmen.
Ich wusste, dass es falsch war, diese Kinder zu verurteilen. Ich wusste, wie brutal ihr Leben ist, erst recht wenn man sich nicht jenem barbarischen Gerangel um soziale Stände unterwarf. Normalerweise war ich bemüht, mich nicht davon überkommen zu lassen. Von der abgrundtiefen Abneigung, die mich gegenüber allem in meiner Umgebung überkam, mit dem ich mich nicht hundertprozentig vereinbaren konnte. Ein Video hatte mir vor einiger Zeit zu denken gegeben, dass ich mich in andere hineinversetzen solle und mir verständliche Gründe vorstellen solle, aus denen sie mir auf die Nerven gehen. Aber jeder gute Vorsatz hat seine Grenzen, dieser hatte seine mit jenem Tag gefunden. Und so ließ ich den Hass frei fließen, Hass auf die Kinder im Zug, Hass auf den so unangenehmen Schnee, der weiterhin ununterbrochen fiel, Hass auf alles und jeden, allen voran auf mich selbst.
Die Schneeflocken hatten die Größe von Tennisbällen als in nachts aus dem Fenster schaute, nachdem ich meine Zähne geputzt hatte. Den ganzen Tag über schienen die einzelnen Flocken oder inzwischen eher Klumpen dauerhaft an Größe und verborgenem Inhalt zugenommen zu haben. Aber viel größer konnten sie nicht mehr werden ohne unter ihrer Last zu zerbrechen, schon ihre jetzige Größe erschien mir unnatürlich in geradezu lächerlichem Ausmaß. Wieso war die gewaltige Schneemasse nicht auf viele kleinere Flocken verteilt, sondern sank in einem großen Haufen so langsam und scheinbar leicht zu Boden, als sollte einem vorgegaukelt werden, es handle sich einfach um eine ganz gewöhnliche Schneeflocke?
Ich strich mir mit einem stumpfen, alten, grob gezackten Messer aus der Küche meiner seit Jahren toten Großeltern über die Hauptschlagader, über die Kehle. Ich war mir nicht sicher, ob ich die ganze Situation herbeigezwungen habe, aber es fühlte sich zu meiner Überraschung tatsächlich gut an. Ich legte das Messer wieder in die Schublade, machte sie so leise wie möglich zu und ging ins Bett. Ich war noch zu vernünftig.