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Vertintet
Im eichenholzgetäfelten Sitzungssaal des Landgerichts senkte sich die Geräuschkulisse, als der Vorsitzende und die Schöffen eintraten.
Alle Personen standen auf und warteten auf das Zeichen, sich wieder setzen zu dürfen.
„Ich eröffne das Strafverfahren gegen Herrn Füller. Zunächst zu Ihren Personalien.“
„Sie sind am 20.03.1987 in Hamburg geboren?“
„Herr Vorsitzender“, antwortete der Strafverteidiger, „bitte gestatten Sie mir, für den Angeklagten zu antworten, er ist nicht bei Stimme.“
Eine Augenbraue hebend blickte der Richter forschend zur Anklagebank.
„Nun gut, Sie sind ledig und kinderlos?“
Der Verteidiger nickte dienstbeflissen.
„Sie arbeiteten beim Geschädigten in München?“
„Seit über zwanzig Jahren“, ergänzte der Strafverteidiger.
„Herr Staatsanwalt, bitte verlesen Sie nun die Anklageschrift.“
„Ich klage Herrn Füller wegen schweren, vollendeten Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung an.
Zum Tathergang: Der in den Diensten des H. Stehende veranlasste durch Vorspiegelung falscher Tatsachen und bewusster Irreführung den H. zu einer Unterschrift, die dazu führte, dass er immense Vermögensmassen verlor und sein guter Ruf dauerhaft schwer beschädigt wurde. Das gegen den Geschädigten eingeleitete Steuerstrafverfahren führte zu seiner dreieinhalbjährigen Haftstrafe und verursachte einen Schaden von dreiundvierzig Millionen Euro.
Der Angeklagte, der die Tragweite seines schädlichen Tuns kannte, forderte vorsätzlich das Opfer auf, die Unterschrift zu leisten, wobei er den Irrtum erweckte, die Unterschrift sei vorteilhaft.
Das Gegenteil war jedoch der Fall. Eine Schadenslawine besonderen Ausmaßes trat ein, nachdem das Finanzamt das Schriftstück erhalten hatte, auf welchem sich die Unterschrift befand.
Die Urkundenfälschung ergibt sich aus der Tatsache, dass der Geschädigte niemals unterschrieben hätte, hätte er gewusst, was auf ihn zukommt.“
„Möchte sich der Angeklagte zur Sache einlassen?“
"Selbstverständlich möchte er das," rief der Strafverteidiger.
„Mein Mandant weist den gesamten Tatvorwurf weit von sich. Es trifft zu, er ermöglichte besagte Unterschrift, aber er ist nicht der Urheber.“
„Da muss ich Sie unterbrechen, Kollege Strafverteidiger“, schob der Staatsanwalt energisch ein.
„Es dürfte kaum zu leugnen sein, dass die Unterschrift konditio sine qua non für den Schaden gewesen ist. Ich bin gespannt, wie sich der Angeklagte da herauswinden möchte.“
„Nicht jede Unterschrift ist zugleich eine Straftat, Herr Staatsanwalt, darin sind wir uns doch wohl einig. Wenn ich einen Liebesbrief unterschreibe oder einen Kaufvertrag, dann ist das nicht strafbar oder wenn ...“
„Kommen Sie zur Sache!“, ermahnte der Richter.
„Ich will damit sagen, dass mein Mandant mit den Angaben des Herrn H. in seiner Steuererklärung nicht das Geringste zu tun hatte.“
„Das ist ja geradezu hanebüchen“, fiel ihm der Staatsanwalt forsch ins Wort. „Damit kehren Sie unser Rechtssystem auf links und verhöhnen alle Gesetzestreuen. Hätte der Angeklagte nicht das Opfer dazu bestimmt, die Unterschrift zu leisten, wäre nichts passiert. Das sind die Fakten, Herr Strafverteidiger. Ergo ist Ihr Mandant verantwortlich.“
„Mein Mandant hat niemanden", blaffte der Strafverteidiger, "ich betone, niemanden zu irgendwelchen Unterschriften bestimmt. Wie hätte er das können?“
„Wir wollen dazu die Zeugin hören“, sagte der Vorsitzende. „Es wird die Ehefrau des Geschädigten aufgerufen.“
Mit versteinerter Miene und konzentriertem Blick auf den Vorsitzenden nahm sie in der Mitte des Saales auf dem Zeugenstuhl Platz.
„Frau H., bitte schildern Sie uns den Vorfall, wie es dazu kam, dass Ihr Mann seine Unterschrift unter die Steuerselbstanzeige setzte.“
Frau H. drückte ihre Handtasche noch fester auf ihren Schoß, nickte gefasst und begann stockend:
„Der Angeklagte befand sich schon lange in den Diensten meines Mannes, ohne dass er mir besonders aufgefallen wäre. Er war ja nur einer von vielen, die für ihn arbeiteten. Irgendwann begann mein Mann jedoch, ihn allen anderen vorzuziehen. 'Warum ausgerechnet er?', fragte ich. 'Ich kann besonders gut mit ihm arbeiten', sagte mein Mann, 'man merkt, dass er ein goldiges Meisterstück ist. Die anderen sind mir zu kratzig im Umgang.'
„Bitte fahren Sie fort. Wie kam es zur Unterschrift?“
„Es war ein Dienstagabend im Büro meines Mannes. Dort befand sich dieses Papier, welches die furchtbare Erklärung enthielt. Herr Füller fläzte sich aufreizend in der Nähe des Schriftstücks herum und es war nicht zu übersehen, dass er meinen Mann provozierte und geradezu herausforderte."
„Wie soll er das denn gemacht haben?“, empörte sich der Verteidiger.
„Ich darf Sie doch bitten, die Zeugin nicht zu unterbrechen oder gar zu verunsichern“, rüffelte der Vorsitzende. "Bitte, Frau H."
„Er schwieg. Tat einfach nichts. Gerade das war das Provokante an ihm. Ich hab noch zu meinem Mann gesagt: 'Lass dich nicht zu etwas Unüberlegtem verleiten.', aber ich habe nur gegen eine Wand geredet. Plötzlich packte mein Mann den Angeklagten und sagte: 'Bringen wir es hinter uns'. Dann unterschrieb er das Papier.“
„Danke Frau H., Sie können jetzt den Saal verlassen. Die Sitzung wird unterbrochen und nach der Mittagspause um 14 Uhr fortgesetzt", verkündete der Vorsitzende. "Staatsanwaltschaft und Strafverteidigung sollen dann ihre Plädoyers halten.“
Der Richter erhob er sich und die Schöffen, die bisher in schlapper Schläfrigkeit den Wortbrei an sich hatten vorüber ziehen lassen, blickten erschrocken hoch.
Nachdem sich alle Beteiligten um 14 Uhr wieder an ihre Plätze sortiert hatten, richtete sich der Staatsanwalt hoch auf, kippte leicht schräg über den Tisch, drehte sich schwankend dem Vorsitzenden zu und sagte:
"Ich komme nun zum Schlussplädoyer."
Der Vorsitzende nickte.
„Ich werde mich kurz fassen. Die Tat ist unzweideutig bewiesen. Es erübrigen sich dazu weitere Ausführungen, denn was klar ist, ist klar. Ich halte den Angeklagten für schuldig und beantrage die Todesstrafe.“ Dann setzte sich der Staatsanwalt, seinen Stuhl geräuschvoll zurechtrückend, wieder hin.
Das Raunen im Zuhörerraum erstarb, als der Strafverteidiger anhob und mit krächzender Stimme, als habe er Sägespäne verschluckt, sagte:
„Ich beantrage Freispruch, mein Mandant hat nichts Unrechtes getan.“ Dann setzte auch er sich wieder, grimmig zum Staatsanwalt rüberblickend.
„Der Angeklagte hat das letzte Wort“, sagte der Vorsitzende.
„Ich spreche für meinen Mandanten“, schnellte der Verteidiger empor und räusperte sich. "Die Anklage ist ein schwerer Justizirrtum, wir bitten um Freispruch. Mein Mandant hat nichts Strafbares getan.“
Der Vorsitzende zog sich mit den Schöffen in das Beratungszimmer zurück. Nach zehn Minuten erschien er wieder und verkündete:
„Bitte erheben Sie sich! Es wird nun das Urteil gesprochen: Der Angeklagte Herr Füller wird wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung zum Tode durch den Hammer verurteilt.
Bitte nehmen Sie Platz. Selten gibt es in Strafverfahren so klare und eindeutige Beweise, wie es hier der Fall war. Die Schöffen und ich mussten daher über die Tat nicht nachdenken.
Allerdings haben wir uns die Zeit genommen, um das Strafmaß zu erörtern. Wir hatten zwischen den Alternativen: völlige Zerstörung des Herrn Füller, seiner Verbannung auf die Azoren oder der Streichung des Tintennachschubs zu entscheiden. Wir sind überzeugt, dass es keinesfalls ausgereicht hätte, ihm nur die Tinte zu versagen. Um ihm die Schwere seiner Straftaten vor Augen zu führen, mussten härtere Maßnahmen gewählt werden.
Mit dem verhängten Strafmaß ist dem Gerechtigkeitsgefühl aller unbescholtener Bürger Genüge getan.
Die Sitzung ist nun beendet.“
Während die Zuhörer zügig aus dem Gerichtssaal drängten, sammelte der Verteidiger seine Akten zusammen, schob sie mitsamt dem Angeklagten in seinen Koffer und stopfte seine Robe dazu.
"Dagegen legen wir Revision ein", raunte er in den Aktenkoffer und klappte den Deckel mit Schwung zu.