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Versuch über den Krieg
Der kleine Dicke rieb sich aufgeregt das Kinn. Seine Augen funkelten, als wolle er jeden Moment zum Angriff übergehen.
„Hast du dir einmal überlegt welche psychischen Schäden ein Bombenangriff bei einem Menschen hinterlassen kann? Welchen irreversiblen Schaden dergleichen auf eine Seele ausübt? Auf eine Kultur? Stell dir vor, du sitzt im Keller deines Hauses. Von oben her hörst du noch Dumpf das Jaulen der Luftschlagsirenen. Du hockst zusammengekauert in einer Ecke, die Hände gefaltet und vor den Mund gepresst. Deine Atem pfeift durch die Nase und du blickst an die Decke, in den Himmel. Du weißt nicht, was passieren wird. Das wissen nicht einmal die Männer, die die Bomben abwerfen. Es ist wie Roulette. Trifft es dich? Deinen Nachbarn? Einen Verwandten? Du weißt es nicht. Keiner weiß es; hockst nur da in deiner Nische, direkt unter dem massiven Balken an der Decke, in der Hoffnung, er möge dir Schutz gewähren oder dich sofort erschlagen. Und dann beginnt es.
Die Detonation kommt nicht wie erwartet von oben herab, sondern von unten. Durch den Boden, die Sohlen deiner Schuhe, über deine Füße, die Beine, Knie, Becken, Rumpf, Hals und bis in die Füllungen deiner Zähne. Eine blitzschnelle Erschütterung jagt in den Himmel, Sekundenbruchteile später knallt es draußen. Du zuckst zusammen, sucht mit den Füßen neuen Halt, machst dich noch etwas kleiner. Und ehe du irgendetwas begreifen kannst, bevor dein Hirn irgendein Ausmaß des Ganzen fassen kann, bebt der Boden erneut und dir wird klar, dass sind die Bomben, die dort draußen so einen Krach machen. Oben im Haus klappern die Fensterläden. Das ganze Gebäude scheint einen kurzen Hüpfer gemacht zu haben. An der Kellerklappe schabt etwas. Es ist die Katze. Im Bombenhagel entgegen all ihrer Gewohnheiten tagsüber in ihr Heim zurück gekehrt. Doch du gehst nicht hin, lässt sie nicht herein. Ihr Leben für deines - Milchmädchenrechnung. Eine weitere Fliegerbombe schlägt ein, das ganze Haus ruckt hin und her, verrückt das Mobiliar, das Schaben der Katze verstummt unter einem erstickten Schrei. Draußen ist das Krachen von Holz zu hören, ein Regen von Schutt trommelt auf die Erde, es rieselt Sand herab und legt sich wie ein kurzer Schauer. Sekunden lang ist alles still. Mit geschlossener Augen versucht du den Momenten zu entrinnen, doch dein Mund ist nicht geöffnet, denn du schläfst nicht. Ist dein Haus schon verschwunden? Ist es alles bereits dem Erdboden gleich gemacht? Du weißt es nicht, weißt gar nichts. Atmest Zug für Zug, bewusst, nichts steuert noch deinen Körper, musst dich dazu zwingen, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Du weißt gar nichts mehr. Nicht was dort draußen gerade geschieht, nicht den Namen dieser Stadt, dieser Straße oder deinen eigenen, bist weder Mann noch Frau, weder Kind noch Erwachsener, nicht einmal mehr Mensch, sondern nur ein einsames, erschüttertes Bewusstsein, das Sekunde um Sekunde weiter existiert. Doch was ist das? Leise, ganz leise und zaghaft wie eine Kinderseele beginnt das Kratzen an der Kellerklappe erneut. Deine Katze! Sie lebt noch. Lebt noch in irgendeiner Form dort oben, ein paar Mal kratzt sie schwach von außen an der Luke, das Haus muss noch da sein, dann wird es still. Dein Blick ist zur Decke hinaufgerichtet, du fokussierst all deine Gedanke auf das, was dahinter liegt. Denkst an diese gottlose Katze, hoffst dass sie weiterschaben wird oder aber ganz tot ist, dass sie als Zeichen der Ordnung dort draußen Stellung hält. Ab jetzt soll gar nichts mehr passieren, denkst du und hoffst, dass die Flieger abgedreht haben, für heute nur ein kurzes Bombardement geplant hatten, sich einen anderen Stadtteil vornehmen oder ganz umkehren. Du machst Pläne, wie du all deine Sachen packst, es ist doch inzwischen schon so lange still, und gehst; die Stadt verlässt, aufs Land flüchtest, im Wald lebst, ganz egal, wie ist es, zu sterben?, du würdest alles auf dich nehmen, um dieser Mausefalle zu entkommen, Tag um Tag von Beeren leben, in einer Höhle hausen, einem Erdloch, Sterben, unter freiem Himmel, ein frommer Christ werden. Und weißt du, was dann passiert? Ein heller Blitz.
Wie ist es, von einer Fliegerbombe getötet zu werden? Alles, was du siehst ist ein Aufleuchten von allen Dingen in deinem Sichtfeld. Kürzer, als man es jemals fassen könnte, es ist wie ein Federstreich für die Rezeptoren deiner Netzhaut, und nahtlos darauf, man könnte sagen tout de suite, ist dein Körper zerrissen wie ein platzender Ballon, alles Leben wird getrennt, zerteilt, pulverisiert in Nanosekunden, kein Knall dringt mehr an deine Ohren, keine Hitze verbrennt noch deine Haut, kein Gedanke bahnt sich seinen Weg, du stirbst schneller als der Schall. Es hat etwas schwereloses und ekelerregend voreiliges. Du kommst gewissermaßen zu spät. Wenn es Geister gibt, dann müssen sie so entstanden sein. Unheimlich oder? Nun fragst du mich: Ist es nicht vielleicht sogar ein gewisser Segen so zu sterben in Zeiten wie diesen? Und ich sage "ja", wenn nur nicht die Folter des Wartens wäre. Dieses ganze Ballett von Abwarten, von Warnungen, vom Schutzsuchen bis hin zum erneuten, noch bangeren Abwarten und vor allem dem elenden Hervorkriechen aus dem Schutt, wenn man es dann doch mal überlebt hat, in der trügerischen Empfindung, dass sich das Blatt im letzten Moment noch wenden könne, all das zerstört die menschliche Seele, die Kultur, lässt sie ihren eigenen Tod tausende und abertausende Male durchleben, um am Ende ungeachtet all der marternden Überlegungen doch wieder eines Besseren belehrt zu werden. Es sind nicht die Bomben selbst, nicht ihre Köpfe oder der Sprengstoff, sondern ihr Flug, der uns auseinander treibt. Und es ist ansteckend. Menschlichkeit ist so ansteckend. Ich glaube, dass wurmt uns am meisten - dass wir uns irren, irren, irren!“
Und er packte einen imaginären Gegner und schüttelte ihn nach Leibeskräften.