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Versprechen

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20.03.2015
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Versprechen

Ein Cocktail aus Angst, Panik und Verzweiflung brodelte in seinen Adern, als er den Boulevard de Belleville hinaufrannte. Ein weiß schwarzer Wolkenschleier hing über Paris. Der letzte Wolkenbruch hatte seine Kleider komplett durchnässt. Die vom Regen gereinigte Luft wurde von dem undefinierbaren Gestank aus den zwielichtigen Geschäften, die sich an dieser Straße aneinanderreihten, überdeckt. Er lag beißend in seiner Nase. Der Schmutz der Straße floss in einer dicken Brühe, den Boulevard hinunter. In diesem kleinen Bächlein, der entlang des Bürgersteigs, hin zum Gully floss, lösten sich allmählich Zeitungen und Pappbecher auf, die tagsüber achtlos auf die Straße geworfen wurden. Anstatt wie sonst auf diese Menschen zu schimpfen, hatte er diesmal nur einen einzigen im Sinn. Einen ganz besonderen, für ihn einzigartigen Menschen. Sie hatte ihn gleich im ersten Moment fasziniert, als sie sich das erste Mal in die Augen schauten und sich ein Lächeln schenkten. Diese Erinnerung schien sein Herz zu zerreißen. Er durfte sie nicht verlieren. Er durfte es einfach nicht. Nicht heute, nicht jetzt. Einfach nie. Er hatte ihr versprochen, auf sie aufzupassen.
„Eva.“, keuchte er mit letzter Kraft, „ich werde dich retten, hörst du, ich werde dich nicht sterben lassen!“
Die Kraft in seinen Beinen fing an nachzulassen, er merkte wie er schwächer wurde.
„Nein, bitte nicht“, betete er und versuchte gegen die Tränen anzukämpfen. Tränen bedeuteten, dass man schon verloren hat, doch das wollte er nicht wahr haben. Sie war nicht verloren. Sie war doch verdammt noch mal zu retten! Oder? Er rannte an den beiden dicken Chinesen vorbei, vorbei an dem Obdachlosen, der sein Quartier schon ewig in der Telefonzelle hatte. Er stank. Es stank überall! Seine Beine wurden immer schwerer, sie schienen ihm beinahe nicht mehr zu gehorchen. Schneller, er wollte schneller sein, nicht langsamer werden. In der Ferne sah er schon das erleuchtete Schild des Hotels. Es war eigentlich nicht mehr weit, doch er müsste schon längst dort sein.
Die Menschen vermischten sich mit den Geschäften zu seinem einzigen Fraktal. Nur das stillgelegene Karussell auf der anderen Straßenseite schien sich nicht mit zu vermischen. Das Karussell. Hier hatte er sie das erste Mal geküsst, dass erste Mal verstanden, was Liebe war. Nun schien die Trostlosigkeit auch das mit zu verschlucken. Genauso wie jegliche Freude, Musik und Helligkeit, die damals diesen Ort umgaben. Aus dieser Erinnerung schien er neue Kraft zu tanken, mit der er das Hotel erreichen konnte.
Er prallte gegen die Eingangstür, riss sie auf und stürmte in den kleinen Raum, in dem auch die jämmerliche Rezeption war. Er hatte gehofft, dass Eva wie immer hinter dem Tresen stand und verträumt auf die riesen Weltkarte starrte, die gegenüber hing. Hatte er das wirklich gehofft? Niemand stand hinter dem Tresen und starrte die Weltkarte an, dieser Platz war leer. Ohne Eva wirkte dieser Ort noch heruntergekommener. Er hatte dieses Hotel verabscheut, genau wie den Boulevard und ganz Belleville. Doch sie, sie hatte ihn geliebt, nur ihretwegen war er geblieben. Eva war an diesem Ort wie eine rote Rose, die in einem Beet voller Unkraut wuchs.
„Eva!“, schrie er keuchend. Es war kaum mehr als ein krächzen. Sein ganzer Körper zitterte vor Kraftlosigkeit, ihm wurde auf einmal so schwindelig, dass er sich an der Wand stützen musste. Angeekelt zog er die Hand aber wieder zurück, als er merkte, dass er in eine klebrige Flüssigkeit gegriffen hatte. Dieser Ort war voll davon, aber diesmal war es warm und roch nach Eisen. Als er es betrachtete, stach ihm das knallige rot sofort ins Auge. Blut!
„Nein!“, flehte er, „Eva, Oh Gott, bitte lass sie nicht sterben“
Es war das erste Mal, dass er zu Gott betete, er war nie gläubig gewesen. Aber jetzt verstand er, dass es so viel einfacher war an einen Gott zu glauben. Er schenkte einem noch Hoffnung, wenn es eigentlich längst zu spät war.

Er streifte sich das Blut an seiner Hose ab und setzte einen Schritt vor den nächsten, er fühlte sich so unglaublich schwach.
„Eva, wo bist du?“ Seine Stimme war wieder klar, stark und voller Wille. Er wollte sie finden, er wollte sie retten und sie für immer in Sicherheit bringen. Er durfte nicht verzweifeln. Er versuchte in sich zu kehren, atmete tief durch die Nase ein und krackzelte in die höchste Etage. Oben angelangt schienen seine Beine ihn nicht mehr zu tragen, es war als würde der Tod persönlich daran zerren. Mit allerletzter Kraft öffnete er jede Tür, jedes Mal war das Zimmer leer. Er war zu spät, er glaubte sie schon verloren zu haben, als er sie plötzlich auf einem der Betten liegen sah. Ängstlich wie ein Mäuschen, das in die bösartige Fratze einer Katze guckte. Ihre Augen aufgerissen, in ihnen konnte man lesen. Angst, stand darin, Angst, pure, reine, süße Angst. Auf ihrem so zerbrechlich wirkenden Körper lag der Schatten einer so viel mächtigeren Gestalt. Der Schatten des Teufels.
Er schien zu ihr zu fliegen, mit einem Schwall Erleichterung fiel er ihr in den Arm und vergrub wie ein kleiner Junge sein Gesicht auf ihrer Brust. Er roch sie, er spürte ihre Wärme. Er spürte aber auch den Schatten auf sich fallen. Der Schatten des Teufels.
„Oh Eva, geht es dir gut?“, fragte er flüsternd.
Sie legte ihre vertraute Hand auf seinen Rücken und strich sacht darüber, um ihn zu beruhigen.
„Ich hab Angst, was hat der Mann vor?“, raunte Eva.
„Nichts, was ich nicht verhindern werde!“, antwortete er und löste sich von ihr. Blind suchte er nach ihrer Hand und ergriff sie. „Ich werde sie nicht mehr loslassen“
„Versprochen?“, fragte sie mit zitternder Stimme.
„Versprochen!“, seine Stimme brach, er musste schlucken, als er sich umdrehte, zu der mächtigen Gestalt, dessen Schatten auf ihnen lag. Der Schatten des Teufels.
Die Gestalt, wessen Gesicht in der Dunkelheit verborgen lag fing an hämisch so lachen.
„Wie rührend“, meinte er dabei, mit einer großen Portion Ironie. „Spaß, ich weiß ja gar nicht, wie sich so etwas anfühlt“ Es schien darüber zu lachen.
„Verschwinde!“, befahl er, „sofort.“
Die Gestalt lachte noch lauter auf. Es war ein hässliches lachen, er würde am liebsten seine Kehle durchscheiden, nur damit dieses Lachen verstummte.
Er spürte, wie Eva seine Hand fester drückte.
„Sieh dich an, mein Junge. So schwach, so mickrig, so beschämend für deinen alten Herren“, fuhr die Gestalt ihn an, „Wo ist das Böse in dir, ich habe es dir gelehrt, du undankbares Ding!“
Nun drückte auch er ihre Hand fester. Nicht nur, weil er ihr zeigen wollte, dass er da war, sondern auch um halt zu finden.
„Du weißt, was zu tun ist, mein Sohn.“ Die Gestalt schien sich daran zu ergötzen.
„Niemals!“, fauchte er. Seine Augen begannen böse zu funkeln.
Erst waren es nur ein paar Tropfen, die gegen das kleine kaputte Fenster prallten, dann waren es Millionen. Sie schlugen ungehindert gegen die Scheibe und liefen in Rinnsalen hinunter und vermischten sich mit anderen. Im Zimmer hörte man bloß ein Rauschen und das Geplätscher des Regenwassers in den Regenrinnen. Die alten Fenster klapperten zu und wurden bei dem nächsten Windstoß wieder nach draußen gezerrt. Die letzten Menschen verschwanden von den Straßen, die Stimmen verstummten, nun war nur noch das Motorengeräusch der Autos zu hören. An den Sehenswürdigkeiten, die die Stadt Paris zu bieten hatte, versuchten die fliegenden Händler nicht mehr kleine Eiffeltürme aus Metall an den Mann zu bringen, sondern Regenschirme, indem sie wiederholt „Umbrella, Umbrella, Umbrella“ den Touristen zuriefen. Nach wenigen Minuten wurde der Regen weniger, das Rauschen wurde leiser, dadurch war das Plätschern noch deutlicher zu hören. Die ersten Menschen trauten sich wieder auf die Straßen. Es war noch gar nicht so spät, es war bloß schon so dunkel, weil Winter war. Eisig kalter Winter. Die Fensterläden wurden nicht mehr so stark vom Wind auf -und zu gerissen, sondern nur noch leicht und ab und zu gegen den Fensterrahmen geschlagen, als eine Gestalt sie vollends aufschlug und hinaussprang und in der Dunkelheit verschwand.
Evas Blick war längst nicht mehr Ängstlich, er wirkte sogar friedlich. Ein müdes Lächeln lag auf ihren Lippen. Neben ihr lag er, fest um sie geschlungen, wärmend, da ihre Wärme wich. Der Gedanke, sie nie wieder lachen zu hören, sie nie wieder fröhlich zu sehen, zerfleischte sein Herz, seine Seele, sein Verstand. Aus ihrem Mund sickerte dunkles, fast schwarzes Blut. Ihre Augen sahen in die Ferne. Mit ihren Gedanken war sie nicht mehr hier, sondern weit, weit weg. Ein letzter Atemzug. Ein letzter Wimpernschlag. Ein letzter Gedanke. Ein letzter Herzschlag. Behutsam streichelte er ihr mit einer Hand über ihr dunkles Haar, wissend, dass sie gerade gestorben ist. Mit der anderen Hand hielt er noch fest ihre Hand. Er hatte sein Versprechen nicht gebrochen.
„Ich werde dich rächen!“

 

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