Verschollen
Jim und Tom starrten apathisch in den Weltraum. Die Langeweile war quälend geworden. Zu sagen hatten sich die beiden bereits seit Tagen nichts mehr gehabt.
Der jüngste SOS-Ruf hatte das Schiff vor einer Viertelstunde verlassen, als das piepende Funkgerät die erdrückende Stille unterbrach.
„Irgendwelche Pulsare“, dachte sich Jim, „Sternensysteme, die Radiowellen absenden. Solche Signale wurden schon früher fälschlicherweise für Leben aus dem All gehalten.“
Er stand auf und drehte eine Runde durch den Raum. Doch die Vorzeichen waren dieselben geblieben: Eine rote Fehlerleuchte blinkte auf dem Armaturenbrett. Der Druckluftzeiger senkte sich. Die letzte Tütensuppe kauerte einsam in der hintersten Ecke ihres Vorratsspeichers. Er sah den Tod durch Ersticken leibhaftig vor sich.
Tom drehte Däumchen, schien sich ihrer aussichtslosen Situation so gar nicht bewusst. Zumindest kam es Jim so vor. Tom war in seinen Augen ein genialer Forscher, ohne Zweifel, doch leider durchgedreht. Sein Sinn für die Realität war hinter seinen anderen fünf Sinnen deutlich zurückgeblieben.
Während Jim grübelte, zeichneten sich erste Merkmale einer Sprache in der Übertragung ab. Eine hektische Melodie, die von einem Rauschen durchsetzt war: Wörter, so fremd wie Hyroglyphen. Jim spitzte die Ohren. Er konnte zunächst kaum glauben, was er hörte. Seit Tagen war er von Todesangst befallen. Den Gedanken an eine Rettung hatte er als Utopie abgetan.
„Ein Lebenszeichen“, rief er strahlend.
Doch Tom verzog nur schwach die Mundwinkel.
„Was sagt er?“, fragte er dann in seiner typisch schnoddrigen Art, die Jim an seine schwerhörige Oma erinnerte, wenn jemand zu undeutlich sprach.
„Woher soll ich das wissen?“, fragte Jim zurück.
„Falls es dir entgangen ist: Wir sind abgetrieben, weil unsere Steuerung ausfiel. Dieses System ist uns komplett unbekannt, und zu Hause haben sie uns mit Sicherheit schon für tot erklärt. Es ist ein Alien, das gerade zu uns spricht.“
Aus dem unterschwelligen Grinsen schloss er, dass Tom ihn diesmal bloß ein wenig zu necken versuchte. Doch wissen konnte er das bei dem zerstreuten Physiker nie.
„Jetzt wo du es sagst“, erklärte Tom und verbiss sich ein lautes Losprusten, „ich erinnere mich. Nun ja, sieh mal nicht alles so verbissen.“
Er hielt sein Ohr näher an die Lautsprecher, ahmte die Sprachmelodie nach und blickte dann fragend zu Jim.
„Du bist hier doch der Sprachexperte“, nervte er ihn. „Hattest du nicht Kurse zur Entschlüsselung fremder Idiome belegt?“
Jim seufzte. Immer noch schritt er im Raum auf und ab.
„Habe den Computer schon programmiert“, erklärte er. „Aber er braucht Zeit, und außerdem entschieden mehr Text.“
Tom zeigte sich nicht beeindruckt. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück.
„Was könnten die denn groß von uns wissen wollen?“, fragte er spitz.
„Wahrscheinlich die Frage der Fragen. Krieg oder Frieden? Liebe oder Hass? Können sie einen Angriff von uns erwarten oder einen gemütlichen Plausch?“
„Einfach mal die Fresse halten“, fuhr Jim ihn an.
Er beendete seine Runde an dem kleinen Hocker vor ihrem Funkgerät. Da er die Aliens als Gesprächspartner in diesem Moment Tom gegenüber bevorzugte, drückte er die Sprechtaste hinunter. Vielleicht war der Übersetzer ja doch schneller als gedacht.
„Wir bitten sie um Asyl“, sprach er ins Mikrofon hinein.
„und steuerungsunfähig sind wir auch“, fügte er hinzu. Dann erzählte er den Aliens von ihrer gescheiterten Mission und teilte ihnen ihre wichtigsten Bedürfnisse mit – Wasser, Luft, und was sie sonst noch so brauchten.
Danach betete er - wie so oft in den letzten Tagen. Immer weiter drifteten sie in das unbekannte Sonnensystem hinein. Die ersten Planeten erschienen durch das Fenster zu ihrer Rechten.
Kurze Zeit später, als Tom ihn gerade einmal wieder mit physikalischen Weisheiten belästigte, hörte er die erste vom Computer übersetzte Mitteilung aus den Lautsprechern.
„Wir werden sie einfangen und bringen sie zu unserer Raumstation“, erklang die metallische Stimme ihres Computers. Sie hatte keinerlei Tonfall – keinerlei Botschaften wurden ihnen zwischen den Zeilen vermittelt. Doch war die Botschaft freundschaftlich.
„Für uns ist das Zusammentreffen genau so spannend wie für sie“, erklärte der Fremde am anderen Ende der Funkstrecke.
„Was brauchen sie für Nahrung?“
Jim überlegte.
„C6H12O6, können sie das arrangieren? Und ein paar Vitamine wären auch nicht schlecht.“
Tom hatte seine kindliche Freude wieder zurück.
„Du wolltest doch immer Aliens sehen, als Biologe, freu dich doch“, strahlte er, und klopfte Jim auf die Schenkel.
Jim lächelte. In gewisser Weise hatte Tom recht. Sowohl sein Studium als auch seine Arbeit bei der Raumfahrtbehörde hatte er nur aus diesem Grund überhaupt begonnen.
„Wenn nur die Umstände besser gewesen wären“, sagte er.
Doch um sich abzulenken, versuchte er, auch Tom ein wenig für seine Leidenschaft zu interessieren.
„Lebewesen auf anderen Planeten sehen vermutlich gar nicht viel anders aus als wir“, erklärte er ihm liebevoll.
„zumindest ist das eine Theorie. Nimm zum Beispiel das Linsenauge. Das wurde mehrfach entwickelt, bei fünf verschiedenen Tierstämmen, die nicht miteinander verwandt sind.“
Jim schlug seine Augenlider hoch. Er zeigte auf seine Iris.
„Nicht unwahrscheinlich, dass es ein solches Sehorgan bei Bewohnern anderer Planeten auch gibt.“
„Hmm“, brummte Tom nachdenklich, lehnte sich dann wieder zurück.
Die letzen Lichtminuten verbrachten sie in relativer Harmonie. Sie teilten sich die letzte Tütensuppe und stießen nach langer Zeit einmal wieder auf ihr Projekt an. Dann sahen sie den Planeten, der die Heimat ihrer Retter war, bereits auf ihrem Schirm. Nun schaute auch Tom gebannt auf den Himmelskörper, auf den sie zusteuerten. Im Blick des Physikers erkannte Jim sogar ein wenig Ehrfurcht.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Die Raumfährte, die sie einfangen sollte, nahte, klappte ihre Außenhülle auf und erfüllte ihre Aufgabe ohne Fehler. Sie war hypermodern, im Gegensatz zu der Station, zu der sie sie brachte - eine uralte, verschachtelte, schon verfallene Raumbasis. Die Raumfähre dockte an sie an und füllte ihre innere Kammer mit Luft. Tom und Jim wurde klargemacht, dass sie nun die Tür ihres Raumschiffes öffnen könnten. Sie waren erleichtert, als sie bemerkten, dass es exakt das Luftgemisch war, das sie sich über Funk gewünscht hatten, und welches die Aliens zufällig auch noch selber atmeten.
Eine Weile standen sie in der leeren, kahlen Innenkammer der Fähre. Eine sterile Atmosphäre umgab sie. Dann öffnete sich die Tür zur Station – die etwas wohnlicher war. Doch hatten sie zunächst bloß Zutritt in eine schmale, von Glas umgebene Kammer.
Ein Alien stand hinter einer Scheibe und sprach durch ein Mikrofon zu ihnen.
„Wir müssen sie zunächst leider in Quarantäne nehmen“, teilte es ihnen mit.
Jim und Tom nickten, blickten aus dem Fenster. Unter ihnen zogen Wolken ihre feingliedrigen Schleier über dem dunklen Blau der Ozeane. Ein sichelförmiger Kontinent wurde freigelegt. Hinter dem Horizont erhob sich der einzige Trabant, der diesen urigen Planeten zu umkreisen schien.
„Willkommen auf der Erde, wir nennen uns Menschen“, begrüßte sie das Alien.
Tom hob zum Gruß seine geschuppte Pranke mit den neun Fingern und der roten Haut. Jim nickte ihm kurz zu, schob dann seinen Schweif zur Seite und setzte sich auf den Hocker, der in ihrem Käfig stand.