Verschlafen
Verschlafen
Warum gab dieser blöde Wecker immer dann den Geist auf, wenn man ihn am meisten brauchte? Es war bereits das zweite Mal diese Woche, daß Anja verschlafen hatte. In einer halben Stunde mußte sie im Büro sitzen oder ihr Chef Herr Schubert würde ihr vorschlagen sich nach einem neuen Ausbildungsplatz umzusehen. Für ein Frühstück blieb jedenfalls keine Zeit. Schnell noch die Haare zurecht gemacht und ja keine Minute mehr verlieren.
Anja stieg in ihr Auto und konnte den Berufsverkehr schon spüren. Es würde in der Innenstadt kein Durchkommen geben. Anja legte ihren Kopf auf das Lenkrad und atmete tief durch.
„Denk’ nach, denk’ nach!“ sagte sie zu sich.
Plötzlich fiel ihr die alte Pappelallee ein, eine kleine Landstrasse, die seit über zwei Monaten gesperrt war. Die vielen Schlaglöcher sollten schon lange beseitigt werden, doch bis jetzt hatten die Bauarbeiten noch nicht begonnen.
‚Wenn ich die Allee nehme und dann über die Dörfer fahre, brauche ich nicht durch die Innenstadt schleichen und hätte mir das Verkehrsgedrängel am Stadteingang gespart.’, dachte Anja.
Anja bog nach einer Weile in die Pappelallee ein. Noch zwanzig Minuten. Sie sah den alten Schubert schon vor sich, wie er ihr eine Standpauke hielt und keine Möglichkeit zur Rechtfertigung gab. Anja trat das Gaspedal durch. Die Tachonadel kitzelte bereits die einhundertdreißig. Auf einmal fuhr sie durch ein Schlagloch, das über die halbe Fahrbahn reichte. Ihr Wagen schaukelte sich auf. Anja bremste und versuchte gegenzulenken, doch sie verlor die Kontrolle. Die Reifen quietschten. Das Auto preschte durch zwei Gebüsche im Straßengraben und kam an einem kleinen Baum zum Stehen.
Nach einer Weile öffnete Anja langsam die Augen. Sie hatte Kopfschmerzen wie nach einer durchzechten Nacht und ihr linkes Knie fühlte sich an, als hätte es jemand als Amboß missbraucht. Anja versuchte das Auto zu verlassen, doch die Fahrertür klemmte. Sie rutschte auf den Beifahrersitz und öffnete die Tür. Sie stieg aus, doch sofort wurde ihr schwindlig. Anja setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an ihr Auto.
„Hier findet mich doch in zehn Jahren kein Mensch.“, murmelte sie.
Plötzlich hörte Anja Geräusche im Laub. Schritte.
„Hallo!“ rief sie. Keine Antwort. Die Schritte kamen näher.
Anja zog sich am Wagen hoch und blickte über die Motorhaube. Am Straßenrand stand ein schwarzer Mischlingshund mit einem braunen Halsband und schaute sie mitleidig an. Der Hund bellte und lief über die Straße auf eine Wiese. Dort blieb er stehen, drehte sich um und bellte erneut.
„Ich soll dir wohl nachkommen?“ Anja humpelte über die Straße. Bei jedem Schritt durchzuckte ein stechender Schmerz ihr Bein. Der Hund rannte einen kleinen Hügel hinauf und blieb am höchsten Punkt stehen. Anja folgte ihm. Oben angekommen, atmete sie auf. Am Fuß des Hügels stand ein altes Bauerngut.
‚Zum Glück, dort gibt es bestimmt ein Telefon.’, dachte Anja.
Der Hund rannte zu dem Haus und bellte, viel lauter als eben. Anja lief ihm so schnell es ihr Bein zuließ nach. Plötzlich blickte ein Mann aus einem Fenster.
„Lord, bist du etwa schon wieder ausgerissen?“ rief er.
Sekunden später kam der Mann aus der Haustür und entdeckte nun auch Anja.
„Frau Hähnel? Was ist denn mit ihnen passiert?“
Anja erkannte ihren Chef Herr Schubert.
„Ich wollte ... hatte kaum noch Zeit ... und dann ist mein Auto gegen den Baum ...“
„Sie hatten einen Unfall? Wo?“
„Pappelallee.“
„Kommen Sie erst einmal mit rein. Wir rufen einen Notarzt und die Polizei. Sie können von Glück reden, daß ich noch zu Hause bin. Wissen Sie, ich habe heute nämlich verschlafen.“