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Versäumtes zu bedauern brennt Löcher in die Seel!
Er konnte sich an Onkel Olaf kaum erinnern.
Eigentlich nur an eine einzige Begegnung im Jahr 1967, kurz vor Ostern.
Benni, damals acht Jahre alt, sollte mit seiner Mutter Bea im Zug von Niedersachsen nach Franken reisen,
um an der Beerdigung des Großvaters mütterlicherseits teilzunehmen. Sein Vater war beruflich verhindert.
Nein, wahrscheinlich hatte er nur keine Lust, wegen der Verwandtschaft seiner Gattin
eine so weite Strecke zurückzulegen.
Bennis Eltern hatten damals noch kein eigenes Auto und mit der Bahn dorthin fahren hieß:
Zweimal umsteigen, mit langen Wartezeiten zwischendurch.
Nein, diese Reise erschien ihm ungefähr so anstrengend, wie heutzutage ein Flug nach New York, nur nicht so aufregend.
Der Vater galt allgemein als feiner Mensch, brav und treu. Doch oft fehlte ihm der nötige Antrieb.
Jede noch so kleine Veränderung war ihm furchtbar lästig.
Mutter wollte sich aber nicht allein auf den Weg machen, also sollte der jüngere ihrer beiden Söhne sie begleiten.
Zur Begründung hieß es, Opa Erwin wäre sehr enttäuscht, sollte sein Lieblingsenkel die Beerdigung schwänzen.
Warum er "Lieblingsenkel" genannt wurde, konnte Benni nicht verstehen, schließlich war er dem Großvater nie begegnet.
"Familiengeheimnisse" vermutete Bennis großer Bruder Mike.
Eigentlich hieß dieser ja Werner. Aber damals machte der Zwölfjährige gerade eine schwierige Phase durch.
Zum Beispiel lief er überall, auch in der Wohnung, mit einer grünen Pudelmütze herum, was den Eltern Kopfzerbrechen bereitete.
Der Grund dafür war aber nicht krankheitsbedingt, sondern lag an Michael Nesmith,
einem Mitglied der beliebten Popgruppe "The Monkees".
Werner fand wohl, daß er dem Sänger ähnlich sah. Die gemeinsame Art der Kopfbedeckung sollte dies unterstreichen.
Benni stimmte Mike zu mit der Bemerkung: "Ja, du siehst wirklich so aus wie er. Allerdings nur,
wenn du die Mütze runterziehst bis zum Kinn!¨
Das brachte ihm erst eine Kopfnuss und danach den Titel "Lieblingsenkel" ein.
Widerspruch war zwecklos und ein Ausflug in den Osterferien hatte ja auch was für sich.
So konnte er endlich seinen Fotoapparat einweihen, den der Großvater ihm zu Weihnachten geschickt hatte.
Benni konnte nicht anders, er mußte Mike ärgern: "Werner!
Während Mutter und ich weg sind, hast du ja viel Zeit für die tolle Weihnachtsüberraschung, die der Opa für dich
ausgesucht hat."
Benni kicherte und Werner, alias Mike, machte ein säuerliches Gesicht.
Sogar der Vater hatte Heilig Abend die Stirn gerunzelt und schelmisch gefragt: ¨Wie kommt das Christkind nur darauf,
daß ein -Mikroskop für den kleinen Naturforscher- (so stand es auf der Verpackung) ein passendes Geschenk für einen zwölfjährigen Rock´n "rollenden" Popmusiker ist?"
Mike fing sich gleich wieder und frotzelte: "Nun! Seid ihr beide gerüstet für die Reise ins Ungewisse?"
Seine linke Hand steckte in der Hosentasche und mit der Rechten hielt er Bennis Leuchtglobus in die Höhe.
Aber alle um ihn herum waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sein Auftritt keinen gebührenden Beifall erntete.
Werner brummte etwas in sich hinein und trollte sich.
Vater mahnte zur Eile. Mutter stand in der Schlafstube vor dem Kleiderschrank und warf zum zehnten Mal einen letzten Blick
in ihre kleine rote Reisetasche. "Irgendwas Wichtiges hab ich bestimmt vergessen."
Benni rief: "Ich geh schon mal vor!"
Er öffnete die Haustür und maschierte den schmalen Weg entlang zum Gartentürchen, schob den Riegel zurück und rief etwas lauter: "Ich warte!"
Eine Windböe wirbelte seinen dunkelblonden Haarschopf durcheinander, den er doch gerade erst mühevoll
zu seiner "Sonntagsfrisur" zurechtgeplättet hatte. Nun stand er da, mit einem albernen Pony über der Stirn.
Den Riemen seiner Kamera hatte er geschultert wie ein Tourist und wippte mit den Füßen
ungeduldig auf und ab. Er wirkte etwas verloren. Ganz allein stand er da, auf dem grauen Kopfsteinpflaster -
und fror.
"Mamaa! Wo bleibst du?"
Mike riß das Küchenfenster auf: "Nur Geduld, das Muttertier kommt gleich. Nur noch ein bis zwei Stunden,
oder so." Er grinste frech, als sein Blick auf den kleinen Bruder fiel: "Mama, beeil dich!
Kaspar Hauser steht vor der Tür -
Der wartet auf seine fränkische Verwandtschaft."
Diese Frechheit mußte bestraft werden. Benni zückte den Fotoapparat und lachte sich sogleich schlapp
über den gelungenen Schnappschuß:
"Mike im Feinrippunterhemd mit Pudelmütze auf dem Kopf und Erdbeermarmelade im Mundwinkel.
Das Foto schicke ich deinem Schwarm Biggi. Die wird sich dann sicher sofort verlieben."
Rums, wurde das Küchenfenster zugeschlagen.
Gleichzeitig kamen die Eltern durch die offenstehende Haustür geeilt.
Vater trug die vollgestopfte Reisetasche und Mutter knöpfte noch im Laufen den schwarzen Trenchcoat zu,
den sie sich extra für die Beerdigung noch schnell gekauft hatte.
"So los, jetzt aber schnell. Der Zug wartet nicht auf uns!" Der Vater begleitete die zwei noch bis zum Bahnhof.
Vorbei an roten Backsteinhäusern mit grün gestrichenen Holztoren.
In den noch wintermüden Vorgärten drehten sich die Flügel kleiner Windmühlen
und verschmitzt grinsende Gartenzwerge winkten zum Abschied.
Der Zug fuhr ein.
Mutter verdrehte genervt die Augen, weil ihr Gatte meinte, er müsse noch mit einsteigen, um den passenden Platz
für sie zu suchen.
Die rote Tasche wurde ins Gepäcknetz gewuchtet und dann fielen ihm noch so viele Ratschläge ein, daß er
fast doch noch mitgefahren wäre, hätte Mutter nicht gerufen: "Der Schaffner pfeift schon ab, schnell, schnell
raus mit dir!"
Ein letztes Handküßchen, dann ging es endlich los.
Sie hatten Fensterplätze und saßen allein im Abteil. Benni sah hinaus. Es ging vorbei an endlosen Kuhweiden,
kleinen Dörfern, Pferdekoppeln. Die noch karge Landschaft hielt keine aufregenden Überraschungen bereit.
"Hast du was zu naschen dabei?" fragte Benni gelangweilt.
Seine Mutter zog eine Packung Butterkekse aus ihrer Handtasche. Sie wollte ihn etwas aufmuntern. "Soll ich dir verraten, warum unser Werner ein Mikroskop bekommen hat?"
Bea mußte schmunzeln, während sie ihrem jüngeren einige Kekse in die Hand drückte. "Ich fürchte, das war meine Schuld.
Ich habe dem Opa einen Brief geschrieben und wollte ihm erklären, daß unser Mike sich über eine Schallplatte dieser "Monkees" freuen würde.
Aber, da weder Opa, noch Tante Ottilie, die ja immer die Geschenke kaufen geht, englisch verstehen,
habe ich versucht auf deutsch zu übersetzen. Dabei habe ich mich vielleicht ungeschickt ausgedrückt, na ja,
wahrscheinlich hat Tante Ottilie verstanden, daß Werner sich für langhaarige Affen interessiert und
da wäre doch ein Geschenk für den Biologieunterricht genau das Richtige."
Benni mußte laut lachen und er lästerte: "Mike interessiert sich schon für Biologie,
aber für Biggi´s Atombusen braucht er nun wirklich kein Mikroskop."
Die Mutter gab ihm einen Klaps auf den Arm: "Also wirklich, Junge, was redest du da?
Zur Strafe zählst du jetzt die Kühe, damit du was Spannendes erzählen kannst, wenn wir in Stufenbach ankommen."
Sie bemühte sich, ein pädagogisch ernstes Gesicht zu machen, konnte sich aber ein Kichern doch nicht verkneifen.
Benni kaute auf einem der trockenen Kekse herum und fragte dann: "Wird diese Tante Ottilie auch da sein?"
Bea freute sich über sein Interesse und fing an zu erklären:
Also, Tante Ottilie, genannt - die Feine - ist die vier Jahre jüngere Schwester von Großvater,
also deine Großtante.
Dann ist da Gerda. Du kannst sie Tante Gerdi nennen. Sie ist deine Stiefoma -
glaub ich - ja doch! Opa´s zweite Frau, meine Stiefmutter, also - es stimmt.
Olaf wird auch da sein. Er ist Gerda´s Sohn, ungefähr so alt wie ich. Olaf ist dein Stiefonkel.
Blickst du noch durch?"
Benni runzelte die Stirn: "So ungefähr. Warum hab ich die alle denn noch nie gesehen?"
"Ich hab da was!" Bea beantwortete seine Frage nicht. Stattdessen sprang sie auf
und zog die Reisetasche etwas nach vorn, sodaß sie den Reißverschluß des Seitenfaches öffnen konnte.
Sie griff hinein und holte ein kleines Fotoalbum heraus: " Das hab ich extra für den Besuch zusammengestellt.
Da sind alle drin. Außer Olaf, den kenne ich selbst noch nicht".
Jetzt saß sie nicht mehr gegenüber, sondern neben Benni und schlug das Album auf.
"Also, fangen wir an.
Als erste sind da Opa und Oma an ihrem Hochzeitstag".
Ein stattlicher Bräutigam sah stolz in die Kamera. Neben ihm - seine Braut.
"Sie ist viel kleiner als der Opa und ganz schön pummelig." Benni kritisierte weiter:
"Außerdem schaut sie so streng - beim Friseur war sie wohl auch nicht!"
"Also, Junge, hör auf zu lästern. Damals waren die Menschen nicht so schick wie heute. Es waren schwere Zeiten.
Schau nicht so auf´s Äußere. Die inneren Werte zählen."
Bea musterte nun aber auch den Gesichtsausdruck ihrer Mutter: "Na ja, vielleicht -
hat das Blitzlicht sie erschreckt."
Sie blätterte weiter und deutete auf ein winziges Schwarzweißfoto mit einem rundum gezackten Rand.
Benni beugte sich dicht darüber: "Man kann ja kaum was erkennen." brummte er,
"Eine riesige Schleife mit einem kleinen Mädchen darunter".
Die Mutter löste das Bildchen aus den Fotoecken und drehte es um: "Ottilie im Sonntagskleid.
Das Datum kann man nicht mehr entziffern. Da war sie wohl ungefähr so alt wie du heute.
Ein aktuelleres Foto hab ich nicht. Heute ist sie 66 und hat etwas zugelegt. Aber sie hat immer noch
eine Vorliebe für Schleifen und Rüschchen.
Sie war ein wunderhübsches Kind. Das bekam ich oft zu hören.
Ottilie war die jüngste von fünf Kindern. Das Nesthäkchen. Sie wurde verwöhnt. Die anderen drei Schwestern
sind bereits verstorben. Sie sahen aus wie die üblichen Landpomeranzen. Also, der Ausdruck kommt von Opa,
nicht von mir. Er hat auch immer auf das kleine Engelchen aufgepaßt, als wäre sie ein wertvoller Edelstein.
Dementsprechend hat sie sich später auch aufgeführt."
"Wie denn?" hakte Benni nach. "Na sie hat die Jungs reihenweise an der Nase herumgeführt.
Geheiratet hat sie einen reichen Geschäftsmann, der zwanzig Jahre älter war als sie und ist mit ihm
nach Hamburg gezogen.
Reich geworden ist er mit Kurzwaren. Schnürsenkel, Bindfäden und solche Sachen.
Die hat er erst auf Märkten verkauft. Später hatte er so viel verdient, daß er bald einige feine Läden besaß.
Also merke dir! Jeder fängt mal klein an. Aber mit viel Fleiß kann man es weit bringen. Nimm dir ein Beispiel!"
"Was macht er heute?"
"Oh, er ist schon lange tot. Herzinfarkt mit 58."
Bea stoppte ihren Redefluß. Durch den letzten Satz wirkte ihr mütterlicher Rat irgendwie niederträchtig.
Benni fand es witzig: "Also merke!" Er hob den Zeigefinger
"Meide Streß bei der Arbeit und junge Frauen, die dein Geld verprassen, sonst beißt du früh ins Grab!"
Bea mußte schmunzeln. Sie kniff ihm sanft ins Kinn: "Was bist du doch für ein schlaues Bürschchen."
Jedenfalls hat er Ottilie ein Vermögen hinterlassen. Sie hatte es sehr bequem im Leben.
Keine Kinder, keine Geldsorgen - sie mußte nie arbeiten. Fährt zur Kur nach Baden Baden. Vergnügt sich
auf Kreuzfahrten durchs Mittelmeer, wo die Sonne scheint -"
Bea sah aus dem Fenster und preßte die Lippen fest aufeinander, als wollte sie dem Zorn, der plötzlich in ihr hochstieg, den Weg nach draußen versperren.
Benni bemerkte dies und fragte vorsichtig: "Wär es dir denn lieber, du hättest keine Kinder und dafür mehr Geld?"
Die Antwort seiner Mutter konnte er allerdings vorhersehen: "Benni, spinnst du?
Was soll ich denn auf einem Dampfer. Da werd ich doch blos seekrank. Nein, meine beiden Räuber sind mir doch
tausend Mal lieber." Sie lachte und drückte ihren Jüngsten kurz und heftig.
Der letzte trockene Keks flog in hohem Bogen zwischen die Sitzreihen, was Benni ganz recht war.
Zufrieden mit der Reaktion seiner Mutter drängte er nach mehr Informationen.
"Hatte Opa Erwin auch einen Herzinfarkt?"
Bea runzelte die Stirn "Genaues wollte Gerda am Telefon nicht sagen. Aber es muß wohl eine Art Unfall gewesen sein.
- Abgestürzt - hab ich glaub ich verstanden. Sie will es mir lieber persönlich erzählen."
Die Mutter schlug die letzte Seite auf. "Hier ein Bild von Tante Gerdi. Meine Stiefmutter neben deinem Opa.
Wieder ein Hochzeitsfoto.
Kurz vor der Trauung hab ich sie erst kennengelernt. Olaf war nicht dabei. Er war zu der Zeit im Ausland auf Fortbildung und hat nur eine lustige Postkarte geschickt, mit Köpfen aus Stein von vier amerikanischen Präsidenten.
Dein Opa und Gerda haben sich auf einem Weinfest kennengelernt, da war ich aber schon mit deinem Vati
nach Niedersachsen gezogen, ins Haus seiner Eltern. Damals habe ich den Kontakt zu meiner fränkischen
Verwandtschaft etwas verloren.
Der kranke Schwiegervater, dazu mein Haushalt und auch bald das erste Kind - also eine Ehe hatte ich mir ganz anders vorgestellt.
Zu Hause in Franken hatte ich ja schon meine Mutter gepflegt. Nach ihrem Tod dachte ich, mich haut so schnell
nichts um. Aber eine nörgelnde Schwiegermutter ist nochmal eine Herausforderung für sich.
Erst als die Schwiegereltern gestorben waren, kamst du zu Welt. Wir haben dann renoviert und umgebaut
und erst von da an habe ich mich dort so richtig zu Hause gefühlt. Aber ich bin abgeschweift.
Gerdi, jedenfalls hat dem Opa gut getan. Sie hatte es nicht leicht im Leben. Ein uneheliches Kind zu haben,
war zu der Zeit damals furchtbar schwierig. Sie mußte immer kämpfen, um ihren Jungen durchzubringen.
Gerdi ist weder eitel, noch verwöhnt. Die Marotten meines Vaters waren für sie kein Grund zur Aufregung.
Er flirtete halt gar zu gern.
Meine Mutter hat das verrückt gemacht. Immer wieder wurden ihm Affären nachgesagt.
Dauernd gab es Streit. Dabei hat sie immer betont, daß der Opa ihre ganz große Liebe war.
Er oder keiner!
Als meine Mutter dann so krank wurde gab sie ihm die Schuld dafür. Kurz vor ihrem Tod sagte sie zu mir:
"Such dir lieber einen zuerlässigen Mann. Egal, wie er aussieht. Hauptsache, er ist fleißig und treu -
große Lieb bringt oft großes Leid."
Im Zug schaltete sich eine kleine Notbeleuchtung ein und er brauste durch einen langen Tunnel.
Benni bemerkte, daß seine Mutter aus dem Fenster sah, obwohl es doch garnichts zu sehen gab.
Sie schien in Gedanken meilenweit entfernt zu sein - irgendwo in vergangenen Zeiten.
Sie hatte ihm heute ungewöhnlich viel und auch "Erwachsenengeschichten" erzählt, deshalb
fragte er sie mutig: "Mama, war denn der Papa dein einziger Verehrer? Ich mein, er ist ja sehr nett,
aber besonders aufregend kann er nicht gewesen sein. Ich mein ja nur, schließlich siehst du ja,
auch jetzt noch mit 40, ziemlich klasse aus."
Vielleicht hatte er sich jetzt doch etwas zu weit vor gewagt. Normalerweise duldete sie keine Frechheiten
dem Vater gegenüber. Aber sie lächelte ihn an und meinte nur ganz leise: "Er war halt so zuverlässig und treu,
und außerdem ist er ja wohl der beste Papa der Welt."
Sie sah Benni an und für einen Moment sah es so aus, als wolle sie ihm noch etwas anvertrauen.
Vielleicht - ein großes Geheimnis?
Aber sie holte nur tief Luft und wechselte das Thema.
Den Rest der Zugreise fand Benni ziemlich öde. Sie mußten Fahrkarten vorzeigen, umsteigen, sich neue
Sitzplätze suchen, aus dem Fenster sehen und vor sich hindösen.
Dann wurde die Gegend hügeliger und endlich, am späten Nachmittag, fuhr der Zug in den Zielbahnhof ein.
Jetzt noch einige Kilometer mit dem Bus, dann hatten sie Mutter´s Heimatort Stufenbach erreicht.
Sie stiegen aus und holten tief Luft.
Es roch nach Bauerngärten im Frühling. Die Kirschbäume waren kurz davor ihre Knospen zu öffnen und
der kleine Bach, der sich mitten durch das Dorf schlängelte, plätscherte munter vor sich hin.
Jetzt hatten sie nur noch einen kleinen Fußmarsch vor sich.
Die Mutter gab Benni einen der beiden Tragegriffe in die Hand und sie schwenkten fröhlich die Reisetasche
vor und zurück, während sie die Hauptstraße überquerten. Eigentlich ging es geradeaus,
aber Bea wechselte die Richtung. "Wir nehmen die Abkürzung durch den Friedhof. Es ist ja noch schön hell."
"Denkst du etwa, ich hab im Dunkeln Angst?" beschwerte sich der Junge.
"Selbst wenn wir durch die Hölle müßten, egal, Hauptsache - Abkürzung -.
Er war inzwischen so müde, daß ihn sogar das Gezwitscher der Spatzen nervte. Keine Menschenseele war zu sehen, als sie den Kirchenvorplatz überquerten.
Beas Herz schlug bis zum Hals. "Oft träume ich das gleiche.
Immer steige ich allein die vier Stufen zur Kirche hoch und gehe dabei unter einer gläsernen Glocke.
Ich kann alle Leute sehen - aber niemand sieht mich - "
Bea räusperte sich: "Jetzt nach rechts zur Aussegnungshalle. Siehst du, das Totenlicht brennt.
Da drin ist der Opa aufgebahrt."
Sie blieben stehen. Bea bekreuzigte sich und hielt einen Moment inne.
"Meinst du die Tür ist zugesperrt?" Benni hoffte es, denn er wollte keinen Blick auf den Verstorbenen werfen.
"Abends ist sie immer verschlossen" antwortete sie. "Komm, wir gehen weiter."
Der gepflasterte Weg führte vorbei an einer Mauer, bestückt mt mehreren Gießkannen.
Bea wurde langsamer. Sie hatte einen Klos im Hals.
"Die Mauer ist aus rotem Wüstenzeller Mainsandstein. Der eignet sich wunderbar für Heiligenfiguren
und wunderschöne Engel."
"Was?" Benni wußte zwar, daß es seine Mutter war, die da sprach. Es kam ihm aber seltsam vor,
so als hätte ihr jemand diese Worte gerade zugeflüstert.
Er stubste sie an. Sie reagierte nicht, sondern zog ihn ein Stückchen weiter bis zu einem Steintrog,
der als Wasserspeicher diente.
Zwischen Mauer und Trog wuchs ein Schlehenstrauch, den man aber wohl vor kurzem erst halbiert hatte.
Die abgesägten Zweige lagen noch aufgehäuft am Boden. Der Blick auf diesen Teil der Mauer war jetzt frei.
In der Abenddämmerung war die Inschrift kaum lesbar. Auch hatten sich Moose darin festgesetzt.
Regen und Kälte nagten seit Jahren an der schönen Handschrift.
Mit einem Werkzeug eingekratzte Buchstaben - eigentlich nur noch unregelmäßige Vertiefungen im roten Stein.
Aber Bea mußte ihre Augen nicht anstrengen. Sie konnte sich erinnern.
Die Botschaft galt ihr: "Versäumtes bedauern brennt Löcher in die Seel!"
Damals stand an dieser Stelle eine Bank. Sie wollten sich hier treffen und durchbrennen.
Aber sie hatte eine Entscheidung getroffen und war nicht gekommen.
Alle Kirchenbesucher konnten am nächsten Tag die Inschrift lesen, doch niemand konnte etwas damit anfangen.
Nur Bea wußte was gemeint war.
Immerwieder hatte er ihr vorhergesagt, daß sie es bedauern würde, sollte sie auf ihre Mutter hören,
statt auf ihr Herz. Sie glaubte ihm und doch hatte sie es beendet. Die Angst war stärker, als ihre Sehnsucht.
"Mama! ist es wegen Großvater?" Benni hatte seine Mutter noch nie weinen sehn.
"Nein keine Sorge, Ich hab nur grad daran gedacht, wie schön meine Jugendzeit hier gewesen ist.
Es sind Freudentränen, weiß du!"
Benni glaubte ihr kein Wort, aber er belies es dabei.
"Jetzt ist es nicht mehr weit." Seine Mutter wischte sich über das Gesicht und sie setzten ihren Weg fort.
Nach fünf Minuten standen sie vor ihrem Elternhaus.
Noch eh sie läuten konnten, flog die Tür auf und vier Frauenarme umschlangen die beiden mit einem herzlichen
"Grüß Gott ihr Lieben!"
Die geröteten Augen von Bea wurden auf die Wiedersehensfreude geschoben.
Nach einem kleinen Nachtmahl wurde Benni, schon halbschlafend, in eine kleine Kammer geführt
und war sofort ins Bett gefallen.
Eine schwarz-weiß gefleckte Kuh jagte Benni über weite Felder in ein kleines Dorf mit Fachwerkhäusern.
Er flüchtete durch eine dunkle Gasse. Diese verengte sich immer mehr, bis die Kuh stecken blieb und ihm
nicht weiter folgen konnte. Benni entkam und schwebte plötzlich auf einer weißen Wolke, in der es
nach Bratwurst und frisch geernteten Tomaten duftete.
Was für ein Traum!
Am nächsten Morgen wurde Benni durch das Klappern von Löffelchen in Kaffeetassen geweckt.
"Frühstück." Er sprang auf und mußte sich aber ersteinmal in der fremden Umgebung orientieren.
Als er die Tür seiner Schlafkammer öffnete, sah er nur eines - Chaos!
Möbelberge, aufgerollte Teppiche, Putzeimer. Nur eine schmale Gasse, wir in seinem Traum, war noch frei,
durch die gerade eine große weißhaarige Frau in einem eleganten schwarzen Kleid, mit einer großen Schleife
am Ausschnitt, vier Tassen balancierte.
"Das muß Tante O. sein" dachte Benni. An den Abend zuvor konnte er sich kaum erinnern.
Tante Ottilie hatte ihn bemerkt. "Vorsicht Bub, stolper nicht. Dein Opa hat sich einen schlechten Zeitpunkt
ausgesucht zum Sterben.
Wir wollten vor Ostern noch schnell die Küche streichen und hatten bereits die Möbel ausgeräumt.
Dann ist das Unglück passiert. Komm frühstücken. Umziehen kannst du dich später."
Er sah durch die Wohnzimmertür. Links eine Couch von der ihm eine Frau mit großen gütigen Augen
entgegenlächelte. "Ich bin Tante Gerdi, komm setz dich neben mich."
"Dich kenn ich schon" gab Benni altklug von sich und ließ sich in die Kissen fallen.
Gegenüber saß bereits seine Mutter am Tisch und schnitt Brötchen auf. Sie erklärte Tante Gerdi:
"Wir haben uns im Zug einige Fotos angesehen." Gerdi nickte freundlich.
" Ich bin Tante Ottilie!" Die große weißhaarige Frau strich Benni über den Kopf.
"Zu was für einem traurigen Anlaß müssen wir uns kennenlernen."
Tante O. schritt voran, schlug einen Bogen um Beas Stuhl und schwebte förmlich an das andere Ende
des Tisches, wo sie sich in einem gemütlich wirkenden Ohrensessel unter dem Blumenfenster niederließ.
Gerda hatte sie mit den Augen verfolgt, sagte aber kein Wort.
"Ja, ja Gerda ich weiß, das war immer Erwins Lieblingssessel. Aber er hat Strafe verdient.
Ich bleib hier sitzen!"
Ottilie richtete ihren Blick nach oben und jammerte: "Wie konntest du uns das nur antun?"
Gerda brummte leis: "Vielleicht solltest du besser nach unten blicken."
Bea ergriff die Gelegenheit und stellte endlich die brennende Frage: "Was ist denn nun passiert?"
Die beiden Tanten setzten gleichzeitig an um zu erzählen, aber Gerda ließ dann Ottilie den Vortritt.
"Erwin, mit seinen 70 Jahren auf dem Buckel, muß wohl bei einem Schäferstündchen vom gehörnten Ehemann erwischt worden sein. So hat sich der Polizist ausgedrückt, der uns früh aus dem Bett geklingelt hat.
Ministranten haben ihn im Morgengrauen im Friedhof entdeckt -
barfuß, ohne Schuhe und Socken. Er steckte Kopfüber in dem großen Schlehenbusch, der zwischen der
Mülltonne und dem Wassertrog wächst."
Bea strich mit der Hand über eine kleine Falte, die sich in der feinen Damasttischdecke gebildet hatte,
als Ottilie den Tisch umrundete. Ihr fehlten ganz einfach die Worte.
Dann stammelte sie: "Ich dachte er wäre bei einem Ausflug mit seinen Wanderfreunden irgendwo abgestürzt, oder so."
Ottilie legte sanft die Hand auf Gerdas Unterarm, als wolle sie die folgende Beschreibung der Ereignisse
etwas abmildern. "Saufen war er, mit seinen Freunden, im "Goldenen Adler".
Gegen Mitternacht ist er dann verschwunden. Wen er dann aufgesucht hat, ist noch nicht raus. Jedenfalls
muß er aus westlicher Richtung gekommen sein. Eine Socke hat man gefunden. Die Schuhe nicht.¨
Gerda warf ein: "Jemand hat ausgesagt, daß gegen zwei Uhr nachts ein Hund gebellt hat."
Ottilie unterbrach sie sogleich. "Ob er nun vor dem Ehemann, oder dessen Hund geflüchtet ist
macht keinen Unterschied. Er hat versucht über die Friedhofsmauer zu klettern, ist wohl gestrauchelt
und mit dem Kopf voran in den Dornenbusch gefallen. Ein abgebrochener Zweig hat dabei seinen Hals
so unglücklich verletzt, daß die Schlagader aufgerissen ist. Erwin ist verblutet. Selbst wenn sofort jemand
da gewesen wäre, hätte man ihm nicht mehr helfen können. Die Feuerwehr mußte das Gestrüpp auseinandersägen, um Erwin zu befreien."
Gerda schluchste und mußte sich die Nase putzen. Bea startete einen hilflosen Erklärungsversuch:
¨Vielleicht hat er sich ja nur verlaufen, dann kam der Hund, er hat versucht den mit seinen Schuhen zu vertreiben,
es hat nicht geklappt und er mußte sich auf die Mauer flüchten -¨
Unbeeindruckt fuhr Ottilie fort: "Als man ihn auf den Rücken legte, sah man -
Gerda schneuzte dazwischen und beendete die Geschichte: "Jemand hat ihm, wohl im Schlaf, mit dem
rußigen Docht einer Kerze, unter die Nase und am Kinn ein lustiges kleines Bärtchen gemalt.
Der Pfarrer hat es schnell mit etwas Weihwasser weggewischt, eh der Polizeifotograf eine Aufnahme machen konnte. Gott sei Dank!"
Gerda hatte sich gefangen und schenkte allen Kaffee ein. "Fremdverschulden ist jedenfalls ausgeschlossen.
Es kann ja auch ganz anders gewesen sein. Wenn Erwin blau war hat er gerne mal anderen einen Streich gespielt.
Wißt ihr noch? Letztes Jahr zum Beispiel, da hat er im Suff der Post-Erika den Hauseingang zugemauert.¨
Ottilie gab zu bedenken: ¨Da waren sie allerdings zu dritt.¨ ¨Ja schon, aber Erwin war der Anführer. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie konnte er die Erika nie leiden - ¨
¨Ach was, das war im Fasching, das zählt nicht.¨ Ottilie zog eine Schnute und grübelte -
Gerda war der Ansicht, daß die Spekulationen und Gerüchte ja doch nichts brächten und zog einen Schlußstrich:
¨Wir brauchen garnicht weiter darüber nachdenken. Wie es wirklich war, werden wir nie erfahren.¨
Alle waren plötzlich ganz still. Jeder versuchte wohl sich in Gedanken die Szenen im Kopf bildlich vorzustellen.
Benni fühlte sich schrecklich unwohl in seiner Haut. Er konnte sich nicht helfen. Eigentlich -
fand er die Geschichte lustig. Da spürte er den strengen Blick seiner Mutter. Das half.
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Man konnte die Wanduhr ticken hören. Benni traute sich kaum seinen Zwieback zu zerkauen, weil der gar so laut knusperte.
Endlich drangen Geräusche an sein Ohr. Sie kamen aus der Küche. Ein Klappern von Geschirr und Besteck
war zu hören.
"Das ist Olaf." Gerda beugte sich etwas zur Seite und rief: "Hallo mein Großer!
Wir sind schon im Wohnzimmer!" Sie mußte unbedingt noch hinzufügen: "Olaf ist Künstler von Beruf.
Er hat von der Stadt den Auftrag bekommen, für die große Gartenausstellung im Sommer
den Skulpturenweg zu gestalten." Benni spitzte neugierig um die Ecke.
In der Küchentür stand eine mächtige Erscheinung. An die 1,90 Meter groß. Mit seiner kastanienbraunen Mähne
und dem Vollbart erinnerte er an einen rauhbeinigen Wickinger.
Am Zeigefinger seiner rechten Hand baumelte der Henkel einer XXL-Tasse samt Kaffeelöffel.
In der linken Hand jonglierte er eine zum Tablett umfunktionierte Herdplattenabdeckung, in die er sich ein
großes Stück Streußelkuchen geladen hatte.
Mit einem konzentrierten Blick plante er zunächst die ungefährlichste Route zwischen Wohnküchensofa und einem
schräg stehendem Schuhschränkchen hindurch.
Dann trippelte er los, bemüht den Hinternissen nur mit dem unteren Teil seines Körpers auszuweichen, damit
seine Hände mit der zerbrechlichen Fracht nicht aus der Balance gerieten. Sein Mund formte tonlos ein
"Oh" und "Ah", als er mit einem eleganten Ausfallschritt über den Putzeimer stieg. Den Hintern schob er dabei
nach vorn, um ja nicht den Schrubber umzustoßen, da dieser als Stützbalken für diverse Malerutensilien diente.
"Was habt ihr denn da für Mausfallen aufgestellt?" fragte er grinsend in die Runde, noch ehe er
einen guten Morgen wünschte. Benni rutschte ein Stückchen nach links, damit Onkel Olaf Platz nehmen konnte.
Durch die düsteren Blicke der drei Damen verlor der für einen Moment die Kontrolle über seine Feinmotorik.
Er hielt sein Tellerchen etwas schief, der Kuchen plumste runter und die Streußelchen verteilten sich
kreuz und quer über die Tischdecke.
Alle waren erschrocken und saßen jetzt da mit offenem Mund, aber immer noch schweigend.
Auch der Onkel schien eine Sekunde ratlos, hob aber dann den Kopf, blickte ruhig auf die Bescherung, die
er verursacht hatte. Mit dem Dialekt des braven Soldaten Schwejk, sowie einigen schlesischen Brocken
verteidigte er sich: "Hab ich so aufgepasst, daß kein Kriemel soll bräseln auf Tischdäcke und jetzt schau dirr an
die Sauerei. Muß ich schnell in Kiche, wie geälter Blitz in Puschen, den Lappen holen ui, jui, jui...
Auf dem gleichen Weg wie zuvor, nur doppelt so schnell mit Gestolper und unter dem jetzt einsetzenden
Gejole und Gekreische der Tanten verließ er den Tatort.
Der Schweigebann war gebrochen.
Ottilie hatte sich rückwärts in den Sessel plumsen lassen und ihr war es anscheinend egal, daß man
den halbzerkauten Bissen Toastbrot sehen konnte, als sie mit vollem Mund lauthals lachend von sich gab:
"Unsere Mutter stammt aus Schweignitz. Genauso hat sie immer geredet.
Von ihr stammt auch das Rezept - ¨ hust, hust, keuch - ¨für den Prasselkuchen.¨
Gerdi versuchte noch schnell den letzten Schluck Kaffee herunterzuschlucken, um nicht die braune Flüssigkeit
über die Kuchenbrösel zu prusten. Es gelang ihr jedoch nicht.
Benni war es nicht entgangen, wie die Augen seiner Mutter erst verwundert, dann strahlend - Lachtränen verströmten.
Kichernd wie ein Teenager stand sie sogar auf, um die Rückkehr des Onkels aus der Küche nicht zu verpassen.
Gebückt, wie ein Rumpelstilzchen auf Fußspitzen hastete er zurück und mit einem Wischtuch wedelnd mahnte er:
"Na, na Mädels, was soll denn der Opa denken. Ihr führt Euch ja auf, wie Backfische.
Heut nachmittag ist schließlich die Beerdigung.¨
Bea sah ihn an und wurde plötzlich ganz still. Er hatte diese Augen, die schon lächelten,
noch ehe sich seine Lippen bewegten. Sie kannte diesen Blick -
wenn sie sich noch den Bart wegdachte und die Haare kürzer...
"Ich kannte mal einen jungen Mann, der war Steinmetz und nannte sich Olli."
Die Tanten gackerten noch durcheinander und hatten die Bemerkung garnicht gehört.
Olaf schon -
Frühling 1949
"Ach komm doch mit, bitte, bitte. Sei doch keine Spielverderberin.
Rudi leiht sich das Fahrrad von seinem Onkel. Wir fahren zu zweit und du kannst meines haben.
Bitte, wenn du mitkommst, erlaubt es meine Mama.
Der erste große "Rummel" nach dem Krieg. Aber das beste ist, es gibt dort ein Tanzzelt. Schon nachmittags spielen da
amerikanische Musiker. Das wird soo schön! Dein Papa hat bestimmt nichts dagegen."
"Nein, das sicher nicht. Der will höchstens mit. Aber mein Robert besucht seinen kranken Vater und ich geh tanzen.
Wie schaut denn das aus?"
"Du gehst nicht tanzen, sondern du passt auf deine beste Freundin auf. Komm schon! Meiner Mama soll ich ein Lebkuchenherz mitbringen."
Wenn Anne etwas wollte, ließ sie nicht locker.
"Also gut, aber vor Mitternacht sind wir zurück!"
"Versprochen!"
Die beste Freundin war ganz aus dem Häuschen.
In ihrem hübschesten Sonntagskleid stämmte sie sich hoch auf die Fahrradstange und Rudi schwang sich auf den Sattel. Dann ging es los.
Sie strampelte den beiden hinterher und fühlte sich wie ein unnötiges Anhängsel.
Die zwei knutschten und kicherten und obwohl sie allein auf einem Rad saß, hatte sie Mühe den beiden zu folgen.
Ganz verschwitzt war sie, als sie endlich nach zehn Kilometern ihr Ziel erreicht hatten.
Anne dagegen war frisch und munter. Rudi muffelte so wie immer.
Vor dem Tanzzelt hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Kaum geöffnet, war das Gedränge groß.
Es gab eine kleine Bar und auch einen Verkaufsstand mit süßen Leckereien.
Anne war bald nicht mehr zu sehen, nur noch zu hören. Ihr grelles Gekicher übertönte sogar die vier Musiker,
die auf einer Bretterbühne mit den neuesten Swing-Rythmen für Stimmung sorgten.
Sie hatte sich mit einer Limonade in eine etwas ruhigere Ecke geflüchtet und sah dem bunten Treiben zu.
Schade daß ihr Robert jetzt nicht hier sei konnte. Allein fühlte sie sich schrecklich unwohl.
Die Band spielte gerade eine tanzbare Version des Bumble Boogies.
Anne wirbelte mit einem schicken Uniformierten an ihr vorbei und winkte fröhlich.
"Na der Rudi war das jetzt aber nicht" dachte sie noch, als ihr jemand seine Schnapsfahne ins Gesicht pustete.
"Hallo kleines Fräulein, wie wär´s mit einem Tänzchen?"
Er ignorierte ihr "Nein danke, ich will nicht tanzen!" und legte seinen Arm um ihre Taille. Sie schob ihn von sich
und trat ihm sogar auf den Fuß. Aber nichts schreckte ihn ab.
Jetzt legte auch noch eine Person, die plötzlich hinter ihr stand, einen Arm über ihre Schultern und eine
kräftige Stimme fragte ruhig aber bestimmt: "Haben sie nicht gehört, daß meine Freundin -nein- gesagt hat?"
Der aufdringliche Kerl schaute verdutzt, ließ von ihr ab und torgelte davon.
Sie drehte sich um und mußte den Kopf heben um zu sehen, wer sie da als "seine Freundin" bezeichnet hatte.
Nein, den kannte sie nicht. Seinen Arm hatte er inzwischen zurückgezogen und bemühte sich,
den gerade beginnenden Perry Como Song mitzusummen. Da er aber nur gelegendlich den passenden Ton traf, rümpfte er die Nase und entschuldigte sich: ¨Ich weiß, ich singe schrecklich, aber ich singe halt so schrecklich gern.¨
Sie lächelte und wollte sich bedanken, als er ihre Hand ergriff und einfach bestimmte: ¨Hier bleiben wir nicht stehen.
Schau, da drüben wird gleich eine Platz frei.¨ Er schob sie in Richtung Bar und tatsächlich verabschiedete sich
wie auf Knopfdruck eine Person und gab einen Sitzplatz frei. ¨Woher wußten sie das?¨
Er hob sie hoch auf den Hocker. Trotzdem war er immer noch ein Stückchen größer als sie.
Er blieb neben ihr stehen und lehnte sich so schräg an den Tresen, daß sie beide auf Augenhöhe waren.
¨Ich bin wirklich froh, daß du nicht tanzen willst. Wenn das Gedränge dort drüben etwas nachläßt, hol ich uns
lieber zwei Stück Kuchen.¨ Er sah Richtung Barmann, hob die Hand und mit geheimnisvollen Fingerbewegungen
gab er seine Bestellung auf. Gleich darauf bekam sie ungefragt eine Flasche Cola in die Hand gedrückt.
Abermals begann er mitzusummen, ziemlich schräg, aber bestens gelaunt.
Jetzt konnte sie ihn etwas genauer betrachten. Er spürte ihren prüfenden Blick und schenkte ihr ein
strahlendes Lächeln. Sie merkte, wie ihre Wangen sich rot färbten und ärgerte sich darüber.
¨Schrecklich warm hier drin.¨ Er zauberte ein großes Taschentuch hervor und wedelte damit so kräftig herum,
daß der Luftwirbel beiden gleichzeitig Kühlung brachte.
¨Ich bin auch kein großer Tänzer. Wintersport ist mir lieber. Hast du Schlittschuhe?¨ Sie schüttelte den Kopf.
"Macht nichts, ich hab Beziehungen. Schuhgröße 37.¨ schätzte er. Das war eine günstige Gelegenheit für ihn,
um gleichzeitig ihre schönen Beine zu betrachten.
¨Wir haben Juni, was soll ich denn mit Schlittschuhen?¨ Sie verschränkte ihre Füße um sie vor seinen Blicken
zu verstecken. ¨Na ich hoffe doch stark, daß wir auch noch im Dezember miteinander gehn.¨
Er kicherte in sich hinein, bekam aber sogleich eine Breitseite ab. ¨Wie bitte? Hören sie: Ich bin verlobt!¨
Darauf folgte erst eine kurze Gedenkpause, dann - ¨Du kannst Olli zu mir sagen! Wie heißt du?¨
Sie war fest entschlossen, darauf nicht zu antworten, da rief Anne aus Richtung Ausgang: ¨Hallo Beate!
Kommst du zurecht? Ich geh mit dem Rudi noch woanders hin!¨ Sie winkte nochmal kurz
und verschwand nach draußen.
¨Deine Freundin ist ja vielleicht eine untreue Tomate, läßt dich einfach hier zurück. Gut, daß du mich hast.
Ich sag Bea zu dir.¨
Er war zwar unglaublich frech, aber immerhin hatte er nicht versucht sie zu begrabschen.Trotzdem hielt sie es
für besser zu flüchten. ¨Also, vielen Dank nochmal, aber ich muß jetzt los. Mein Verlobter wartet.¨ ¨Was?
Wir wollten doch noch Kuchen essen!¨ ¨Sie vielleicht. Mich haben sie ja garnicht gefragt.¨
¨Du magst keinen Kuchen?¨ ¨Nein, ich geh jetzt.¨
Sie war gerade zur Hälfte vom Hocker gerutscht, als sich durch den Eingang eine grölende Gruppe,
angetrunkener Halbstarker schob.
Erschrocken griff sie in seinen Hemdsärmel und zog sich daran wieder hoch.
¨Ach schön, du willst doch noch etwas bleiben?¨ Sie blickte ihm ins Gesicht. Seine grünen Augen
lächelten immer schon, noch bevor er seine Lippen bewegte. Das machte sie ganz nervös.
Dauernd wollte sie ihn ansehen. So wie man ständig auf eine Uhr sieht, wenn man auf etwas wartet.
Sie mußte blinzeln. Irgendwas kitzelte sie im Gesicht.
Das Gegröle am anderen Ende der Tanzfläche ging in ein grobes Gerangel über, welches er
aufmerksam im Blick behielt, während er ihr so ganz nebenbei mit einem Finger ein loses Haar von der Nase strich.
Beide schwiegen für einen Moment.
Das Gerangel hatte sich inzwischen zu einer handfesten Schlägerei entwickelt.
¨So, jetzt reichst!¨ brummte er. ¨Komm dort drüben ist eine Art Notausgang. Er nahm ihre Hand und führte sie
an der Theke vorbei zu einer kleinen offenstehenden Tür. In ihr stand der Barmann, der sich gerade genüsslich
eine amerikanische Zigarette schmecken ließ. ¨Na Olli, willst du dich verdrücken?¨
Olli klopfte ihm auf die Schulter. ¨Machs gut Alter! Drin prügeln sie sich mal wieder.¨
Sie liefen über ein Stück Wiese. Nach kurzer Orientierung rief sie: ¨Da drüben steht mein Fahrrad.¨
"Ein hübsches Rad. Ein Wunder, daß es keiner geklaut hat. Ich hab mein Moped vorsichtshalber
zu Hause gelassen.¨ Olli hielt immer noch Beas Hand. Einen Moment sah sie in Gedanken Anne und Rudi auf der Herfahrt, gemeinsam auf dem klapprigen Drahtesel. Er, fröhlich hin und herlenkend, sie kichernd zwischen seinen Armen auf der Fahrradstange sitzend.
¨Rudi hat ein Herrenfahrrad¨ hörte sie sich sagen, ¨meines hat nicht einmal einen Gepäckständer.¨
¨Ja, das ist schade.¨ Olli grinste vergnüglich. Bea wurde schon wieder rot. Sie ahnte, daß er ihre Gedanken
lesen konnte. ¨Dein Verlobter wär mir bestimmt böse, wenn ich dich allein nach Stufenbach radeln lass.¨
¨Woher weiß du, wo ich wohne?¨
¨Ach, euer Rudi saß vorhin mal verlassen an der Bar. Ich hab ihm was spendiert und dem Ami, der mit
deiner Freundin getanzt hat, mal kurz ein Bein gestellt. Jetzt sind Rudi und ich gute Freunde -
¨Also gut, wenn ich nicht allein fahren darf und du kein Rad hast, müssen wir beide zu Fuß gehn.
Aber du schiebst mein Rad!¨ Bea war froh, daß er kein Hellseher war, nur schlau.
Nach dem längsten Spaziergang aller Zeiten hatten sie sich beinah alles von einander erzählt.
Bea von ihrer kranken Mutter, die sie allein bis zu deren Tod hat pflegen müssen. Olli von seiner Arbeit
als Steinmetz und wie stolz er war, daß ihm sein Chef den erzbischöflichen Auftrag für einen
lebensgroßen Engel anvertraut hatte. Dabei hatte er Beas Gesicht auffällig gemustert.
Zu Hause angekommen, machte er ihr einen Vorschlag. ¨Paß auf! Du hast gesagt, daß dein Verlobter
erst in zwei Wochen aus Niedersachsen zurück sein wird. Ich hole dich jeden Abend von der Arbeit ab
und wir unternehmen ein bißchen was zusammen. Wenn du nach fünf Tagen immer noch deinen Robert
heiraten willst, lass ich dich für immer in Ruh - und dann sauf ich mich zu Tode.¨ Sie lachte ¨Ja, freilich.¨
Olli blieb dabei: ¨Ich schwör´s dir. Ich hab Beziehungen. Der Barmann von heut Nachmittag ist ein
alter Schulfreund von mir. Also abgemacht?¨
¨Ja gut, abgemacht!¨
Vier Tage vergingen wie im Traum. Dann drängte Olli, sie solle doch Robert einen Abschiedsbrief schreiben.
Sie solle einige Sachen zusammenpacken und könne solange bei seiner Mutter wohnen, bis alles geregelt sei.
Bea war einverstanden.
Doch als sie nach Hause kam wartete ihr Vater auf sie.
¨Die Erika von der Poststelle war hier. Dein Robert hat dort angerufen. Sein Vater ist schwerer krank als gedacht.
Der Arzt gibt ihm nur noch zwei bis drei Monate. Zu allem Unglück ist jetzt auch noch seine Mutter gestürzt
und liegt mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. Robert kommt allein nicht zurecht und fragt, ob du nicht
hochfahren und ihm helfen könntest. Die Erika meint, es wäre deine Pflicht.¨
Bea war wie erstarrt. Ihr Vater rang nach Worten. ¨Kind überleg dir das. Grad jetzt wo du doch im Hotel
so eine schöne Arbeit als Telefonistin gefunden hast. Du hast doch schon die Mama so lang gepflegt.
Eh du dich versiehst ist deine Jugend vorbei. Merk nicht auf die Meinung irgendwelcher Leut.¨
¨Aber ich kann den Robert doch jetzt nicht im Stich lassen - ¨
¨Wenn du in Niedersachsen lebst, bist du so ewig weit weg von mir...
¨ Ach so? Jetzt versteh ich was du meinst. Du möchtest, daß ich hier bleibe damit ich dich pflegen kann,
wenn es mal so weit ist. Du Egoist! Die Mama hast du im Stich gelassen, als sie deine Hilfe gebraucht hätte.¨
¨Nein das stimmt so nicht. Sie hat mich aus dem Zimmer gejagt, wenn ich was für sie tun wollte. Ich will nicht,
daß du für mich sorgst, ich will nur nicht allein bleiben in dem großen leeren Haus.¨
¨Die Mama ist an gebrochenem Herzen gestorben. Dauernd hat sie gejammert, daß du sie nur
wegen ihrer Mitgift geheiratet hast.¨
¨Nein Beate, so war das nicht!¨
Mit tränenerstickter Stimme schrie sie den Vater an: ¨Niemals werd ich für dich sorgen.
Lieber pfleg ich fremde Menschen -
wo ist die rote Reisetasche ?¨ ...
Tante Ottilie sah auf die Uhr.
¨Um Gotteswillen schon so spät. In einer Stunde beginnt der Gottesdienst. Olaf geh doch schon mal vor
und schau, ob der Pfarrer da ist. Der hatte heute früh im Nachbarort schon eine Taufe. Nicht daß sein Käfer
wieder streikt.
Die laute Stimme der Tante hatte Bea aus ihrem Tagtraum geweckt. Sie flüsterte Gerda zu: ¨Sag mal,
die Ottilie führt hier das Regiment?¨ Gerda seufste: ¨ Oh ja, sie ist mir eine große Hilfe. Um alle Formalitäten
hat sie sich gekümmert und auch um alles andere.¨ ¨Wie ist sie denn so schnell aus Hamburg hierher gekommen?¨
¨Ach in Hamburg wohnt sie schon lang nicht mehr. Dort war es ihr zu einsam.¨
Ottilie hatte den letzten Satz der Unterhaltung mitbekommen und ergänzte: ¨Ja ich habe mir hier in Stufenbach
ein Häuschen bauen lassen.¨ Gerda mußte lachen ¨Häuschen ist gut, du meinst wohl eher ein Schloss.
Egal aus welcher Richtung man in den Ort reinkommt, man kann die Türmchen und Erkerchen nicht übersehen.¨
Ottilie winkte ab ¨Was soll ich denn sonst mit dem vielen Geld anfangen. Der Leichenschmaus wird jedenfalls
dort stattfinden, da haben alle Platz.¨ ¨Bea wunderte sich: ¨Wer soll denn alles kommen, die meisten Verwandten
sind doch schon tot.¨ ¨Na du bist gut. Das halbe Dorf wird da sein. Alle hatten deinen Vater gern.¨
Bea machte ein ungläubiges Gesicht, doch Gerda nickte. ¨Ich weiß Bea, zwischen ihm und dir gab es Mißverständnisse. Er war sehr traurig darüber, daß ihr euch im Streit getrennt habt.¨
Beas Stimme wurde bitter ¨Sein Motto war doch - wer nix derheiert und nix dererbt, bleibt a armer Hund,
bis daß er sterbt. Deshalb hat er die Mama geheiratet.¨ Jetzt mischte sich Ottilie ein: ¨Falsch, das war der Spruch deines Großvaters, Bea! Dein Vater fand deine Mutter süß. Er hat sie geheiratet, obwohl sie arm war, wie eine Kirchenmaus. Erst als deine Mutter mit dir schwanger war, bekam sie von ihrer Oma das Haus geschenkt.
Es war damals ein alter Kasten. Erwin mußte es vom Keller bis zum Dach renovieren. Er hat sich abgerackert.
Alles sollte schön sein für seine zwei Lieben.
Aber deine Mutter war übertrieben eifersüchtig. Dein Vater war ein fescher Mann. Es waren aber anfangs die Frauen,
die sich nach ihm umgedreht haben, nicht umgekehrt. Dauernd gab es Streit, der dann mit dem Spruch endete:
- Das ist mein Haus, vergiß das nicht! -
Ich hab versucht sie zu warnen. Tu das nicht, willst du daß er aus Dankbarkeit bleibt, oder aus Liebe.
Laß ihn spüren, daß es euer gemeinsames Zuhause ist. Wenn du ihm drohst, läuft er dir davon.
Sie wollte nicht hören. Trotzdem ist er geblieben, denn sein kleines Mädchen hätte er nie im Stich gelassen.¨
Das mußte Bea erst einmal verarbeiten. Sie hatte immer nur die Version ihrer Mutter gekannt.
Gerda sah, wie sie sich quälte. ¨Bea, ich sollte dir schon lange einen Brief schreiben und die Dinge
ins rechte Licht rücken. Aber ich bin doch Erwins zweite Frau. Wie konnte ich dir denn was schlechtes
über deine Mutter schreiben. Es ist mir so schwer gefallen, die richtigen Worte zu finden.
Dauernd hat er mich gefragt: ¨Hast du ihr schon geschrieben?¨ Vor etwa zwei Wochen hab ich ihn dann angelogen. Ich hab -ja- gesagt und dann noch behauptet, du hättes deinen Besuch für Ostern zugesagt.
Die letzten zwei Wochen war er sehr glücklich und ich hatte Bauchschmerzen. Schau her, hier hab ich ihn endlich,
den fertigen Brief. Der Unfall ist passiert und ich konnte ihn nicht mehr wegschicken.
Bea, kannst du mir das verzeihen?¨ Tränen liefen Gerda über das Gesicht. Bea sprang auf und umarmte sie.
¨Ach Gerdi, nur ein Wort von dir und ich wäre gekommen mit der ganzen Familie. Schon allein um dich
nicht bloszustellen, denn du bist wirklich ein Schatz. Schau, es war doch eine Notlüge.
Du hast nur die Zeit ein bißchen verdreht, nicht die Wahrheit.¨
Ottilie steckte den beiden Taschentücher zu. ¨Das hast du schön gesagt, Bea. Wer weiß, vielleicht
sollte ja alles so kommen. Erwin ist gut gelaunt gestorben und es ging vor allem schnell. Immer hatte er
große Angst davor, im Alter krank zu werden und dahinzusiechen, wie ein hilfloser Tattergreis.
Gerdi ist ja nicht allein. Sie hat ihren Sohn und wir beide sind inzwischen die besten Freundinnen.
Fast wohne ich schon hier. Es gibt immer was zu tun. Meine Villa steht meistens leer.
Es ist mir dort einfach zu langweilig. Jetzt muß ich aber nochmal nach oben, meine Jacke holen.¨
Bea sah Ottilie nach, wie sie die steile Treppe hochstieg. ¨Gerda, du machst doch wohl die ganze Arbeit
und Ottilie sieht dir dabei zu.¨ ¨Nein Bea, schon wieder täuscht du dich. Ottilie war als Kind furchtbar unglücklich.
Sie war überzeugt, daß sie wohl schrecklich dumm sein muß, weil man ihr immer alles aus der Hand genommen hat.
Sie wurde stets in Watte gepackt, weil sie so zart und zerbrechlich wirkte. Das hat sie mir erzählt.
Erwin war da keine Ausnahme. Erst ihr Ehemann hat ihr einen Tritt in den Hintern versetzt.
Den Spruch -Das kann ich nicht- ließ er ihr nicht durchgehen. ¨Wenn ich es dir zeige, dann kannst du alles!¨
Als der Griff vom Kühlschrank ausgerissen war, drückte er ihr einen Schraubendreher in die Hand und erklärte ihr nur was sie tun muß. Die Arbeit hat sie ganz allein erledigt. Er hat sie hoch gelobt. Das war ihr erstes Erfolgserlebnis. Danach hat sie sich selbst immer mehr zugetraut.
Alle dachten immer sie habe ihren Mann nur des Geldes wegen geheiratet. Doch das stimmt nicht.
Sie hat ihn wirklich über alles geliebt. Deshalb hat sie auch nie wieder einen anderen angesehen.
Den alten schäbigen Kühlschrank hat sie sogar aus Hamburg mitgebracht und ihn sich in ihre schicke,
neue Küche gestellt, zur Erinnerung.
Heute kümmert sie sich um alles, was anliegt. Egal ob das Klo verstopft ist, oder eine Torte gebacken werden muß. Ottilie steht bereit und bringt auch immer gleich das passende Handwerkszeug mit. Nicht wahr Otti?¨
Bea war total verblüfft: ¨Ich kann es nicht fassen. Mein ganzes Weltbild wird heute auf den Kopf gestellt.¨
Benni und Ottilie kamen die Treppe herabgestiegen. Sie hielt Gerda ein kleines, schwarzes Etwas entgegen.
¨Schau Gerdi, was ich in der Stadt für dich gekauft habe!¨ Gerda griff danach und ergänzte ihren Vortrag von eben: ¨Gell Ottilie, und meine Modeberaterin bist du außerdem.¨
Sie setzte sich das neue Hütchen auf den Kopf und fragte: ¨Na Benni, sag wie steht es mir?¨
Benni baute sich vor ihr auf und meinte: ¨Mensch Tante Gerdi! Du siehst ja aus wie Jackie Kennedy.¨
¨Tatsächlich?¨ Gerdi suchte sich einen Spiegel, sah hinein und in fränkischem Dialekt lobte sie:
¨Wärklich wahr, des schaut fei schö aus. Besonders, do o dä Seitn die klan Schleifla.¨
Die Turmuhr mahnte zur Eile und sie machten sich alle auf den Weg zur Kirche. Benni in seinem schicken Kommunionsanzug führte die Gruppe an.
Von all den Eindrücken war Bea ganz aufgewühlt und hängte sich bei ihrer Stiefmutter ein.
¨Gerdi darf ich dich noch was fragen?¨ ¨Natürlich Bea.¨ ¨Warum ist dein Olaf denn nicht verheiratet?
¨Ach na ja, es war schon ein paarmal fast soweit. Die Frauen lieben ihn, aber sie wünschen sich halt auch Kinder
und er hatte halt als kleiner Bub diese Krankheit - ¨
Die Kirche war gefüllt, wie sonst nur zu Weihnachten oder Ostern. Es wurden feierliche Reden gehalten.
Aber am offenen Grab spielte wohl Opa Erwin aus dem Jenseits dem armen Pfarrer noch einen kleinen Streich.
Als der nämlich den, schon etwas betagten, Weihwassersprenger zu ruckartig bewegte, brach der Borstenkopf ab
und polterte hinunter auf den Sargdeckel. Der Pfarrer sah ihm etwas ratlos hinterher und bewegte noch eine Weile den schwarzen Griff auf und nieder. Dann drückte er diesen jedoch Olaf in die Hand mit der Bemerkung:
¨Nimm mir doch bitte den Stab hier ab, ich steh ja da wie ein Zauberer.¨
Diese kleine Anektode sorgte dann auch in der Zukunft bei so manchem Leichenschmaus für Belustigung
unter dem Stichwort: ¨Opa Erwin und sein Zauberstab.¨
Das Frühstück am Morgen der Abreise fand in Onkel Olafs Haus statt. Nach einer kleinen Führung durch seine
Bildhauerwerkstatt, klopfte er Benni auf die Schulter und machte ihm ein Angebot: "Du kannst jederzeit bei mir
in die Lehre gehn, wenn du später mal Steinmetz werden willst. Aber du mußt versprechen, daß du mir
regelmäßig schreibst!" Benni schwor: "Hoch und heilig, das mach ich. Großes Ehrenwort!"
Alle hatten nochmal ihre festliche Kleidung angelegt, weil Benni verkündet hatte, daß er noch ein Gruppenfoto
schießen wolle. Er befand den prächtigen Zimmerasparagus als passenden Hintergrund und platzierte die drei Damen
wie ein Profi: ¨Links Tante Ottilie, in der Mitte Tante Gerdi und rechts die Mama. Onkel Olaf du bist der größte und
stellst dich hinter die drei." Jeder folgte brav den Anweisungen. Olaf breitete seine Arme aus, wie ein Schutzpatron.
"Auf mein Kommando sagen alle -Cheese-!" Wie auf Knopfdruck wurde gelächelt und chorgleich ertönte
ein mehrstimmiges - Tschiiiees - .
Doch kurz bevor Benni abdrückte, kniff Olaf den beiden Außenstehenden so hinterhältig in die Seite,
daß diese einknickten. Tante Gerdi wurde angerempelt und zusammengedrückt. Ihr Hütchen verrutschte und das Blitzlicht besorgte den Rest. Alle quickten und machten komische Gesichter.
"Das Foto wird spitze!" freute sich Benni, "Tante Gerdi du hast ausgesehen, wie -a Bratwurscht im Weckla -!"
"Nein!" hatte seine Mutter protestiert. "Das Foto muß wiederholt werden, sonst denken alle, das war eine
spassige Beerdigung. Olaf, nimm deine Hände weg!"
Alle waren gut drauf. Aber dann war es wieder mal soweit. Die Zeit drängte. Man mußte Abschied nehmen.
Olaf fuhr die beiden Gäste in seinem blauen VW-Bus zum Bahnhof. Er bestand darauf, mit einzusteigen um
für die zwei schöne Fensterplätze zu suchen.
Bea nahm Olafs Hand, dann - eine letzte Umarmung - die nicht enden wollte -
Doch der Schaffner hob bereits die Signalkelle und Olaf sprang schnell hinaus, bevor die Tür sich hinter ihm schloß.
Er winkte mit einem großen Taschentuch und mit feuchten Augen wurden noch Handküsschen ausgetauscht.
Dann fuhr der Zug endgültig ab.
Seltsam, daß einem die Heimfahrt immer viel kürzer erscheint -
Mike wartete bereits am Bahnsteig und bestand darauf, die Reisetasche allein zu tragen,
die doch jetzt um einige Mitbringsel und viele Erinnerungen schwerer wog.
Zu Hause in der guten Stube erwartete sie ein festlich gedeckter Kaffeetisch. Vater stellte noch einen
prächtigen Marmorkuchen in die Mitte und schwor: "Den hab ich ganz allein gebacken!"
Mike ergänzte: "Und ich hab hinterher die Küche renoviert."
Bea jubelte begeistert: "Robert! Ich glaub, ich muß euch öfter mal allein lassen, ihr entwickelt ganz neue Fähigkeiten.
Ach zu Hause ist es doch am schönsten, bei meinen drei Männern." Alle bekamen einen fetten Schmatzer.
Als Robert sich beim Aufschneiden des Kuchens dann etwas anstrengen mußte, flüsterte Benni seiner Mutter ins Ohr "Das ist ein echter Wüstenzeller Mainsandstein-Marmorkuchen."
Doch Bea lachte "Nein, der ist genau richtig so. Der bröselt wenigstens nicht, wenn er runterfällt."
Mike nahm sich gleich zwei Stücke "Ich tunke sowieso immer ein." Robert klatschte in die Hände vor Vergnügen
und Benni - machte ein Foto. Danach gab es viel zu erzählen.
Robert und Mike waren sich einig: "Irgendwie war das wohl eine spassige Beerdigung."
2016
Nun stand Benno wieder vor einem offenen Grab.
Von der Trauerfeier hatte er kaum etwas mitbekommen, zu tief war er in Gedanken versunken an die Ereignisse
vor 49 Jahren.
Onkel Olaf war stolze 91 Jahre alt geworden und hatte bis zum Schluß in seiner Werkstatt gearbeitet.
Als Benno von seinem Tod erfuhr fühlte er sich richtig schuldig, da der Kontakt völlig abgebrochen war.
Die Trauergäste hatten den kleinen Friedhof bereits verlassen. Nur er stand noch da, ganz allein - und fror.
"Es tut mir so leid, Onkel Olaf -"
Jemand aus der Gemeindeverwaltung hatte ihm die Schlüssel ausgehändigt. Er schritt die vier Stufen hinunter
und überquerte den Kirchenvorplatz. Die kleine Straße zur Werkstatt kannte er noch, als wäre es
erst gestern gewesen. Er öffnete das Holztürchen und durchquerte den etwas verwilderten Garten.
Rechts und links säumten moderne Steinskulpturen den schmalen Kiesweg, der zum Wohnhaus führte.
Neben der Eingangstür stand ein lebensgroßer Engel. Eine anmutige Gestalt mit feinen Gesichtszügen, jedoch -
die Flügel fehlten...
Das Haus und auch die Räume darin kamen Benno viel kleiner vor als damals. Sein Blick fiel durchs Wohnzimmerfenster auf die Mainauen. Der gegenüberliegende Baggersee glitzerte im Sonnenlicht.
Warum nur hatte er sein Versprechen nicht gehalten. Mit wievielen Menschen umgibt man sich zeitlebens,
die einem gleichgültig, oder sogar unangenehm sind. Onkel Olaf dagegen war ihm damals sofort vertraut, wie ein großer Bruder, oder väterlicher Freund - und doch hatte er seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht.
Der Onkel aber, hatte ihn nicht vergessen und Benno sogar zu seinem Erben bestimmt.
Gerade als er den Raum verlassen wollte, fiel sein Blick auf eine kleine Bildergalerie in einer Schranknische.
Da waren: Tante Gerdi, Schulfreunde, sein Lehrherr, wie er Olaf die Meisterurkunde überreicht und -
Nun schossen Benno bittere Tränen in die Augen, in einer Mischung aus Trauer und Wut auf sich selbst.
Das Foto, das er als kleiner Junge damals am Abreisetag geschossen hatte, in Onkel Olafs Haus.
Er hatte es damals in den Briefumschlag gesteckt, zusammen mit dem einzigen Brief,
den Olaf je von ihm erhalten hatte.
Benno nahm den schmucken Rahmen und hielt das alte Foto ins Licht um es genauer betrachten zu können.
Die drei Damen mit lachenden, jedoch durch die plötzliche Bewegung, leicht verschwommenen Gesichtern.
Nur da! Olaf - kerzengerade stand er da, blickte verschmitzt geradeaus in die Kamera.
Es sah aus, als würde Olaf ihm zuzwinkern und sagen: "Mach dir doch kan Kopf Benno - des paßt scho so!"