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Verregnet
Verregnet
Er geht mit dem Regen spazieren. Von der Haustüre begleitet er ihn ins Tal, wo die Felder ins Dorf münden. Tropfen trommeln auf seinem Kopf als würden sie ihn nur anfeuern. Pfeifende Pirouetten um Matschlöcher. Wenn er hineinspringt, dann schimmern sie, blau, grün, grau, wie die Augen seiner Oma, je nach Lichteinfall und je näher das Dorf rückt, desto höher werden die Zäune. Nur der Regen verschafft sich ungefragt Zutritt, umfließt Absperrungen, Hecken, marode Hausmauern. Zerstört aber meint es nicht böse und keiner schimpft. Tropfen tanzen auf dem Asphalt hin- und her, um dann zischend im Untergrund zu verschwinden, unentschlossene Grasbüschel auf dem Weg mitzureißen und zu verdampfen. Wie gerne wäre er mitgetrieben.
Die Schule hat schon lange begonnen. Er wird es auf den Regen schieben. Und dem Regen, dem ist keiner böse.
Die Stadt ist menschenleer. Ein Drittel der Menschen ist in der Arbeit, ein Drittel in der Schule und das andere ein Drittel hat Angst vor dem Regen. Wie eine Entschuldigung, die immer zählt. Nur die weißen Bettlaken schaukeln regenschwer über den Gassen. Was wäre, wenn man das Prinzip Schwerkraft nicht verstehen würde? Wenn der Regen plötzlich die Seiten wechseln würde? Wenn es nach oben statt unten regnen würde, unendlich ins Weltall, statt endlich in muffelige Rohre. Die Lacken würden wie hysterische Stiefmütter nach oben zetern. Ob die Erwachsenen dort unten im Trockenen weniger aufgewühlt wären? Aber der Regen hält wie sie an den Dingen fest, die immer schon so waren. Von oben nach unten. Diagonal, schon zu viel für die Regenschirmabwehr. Alles in seiner Ordnung, denkt er sich und biegt nach einer angedeuteten Rechtskurve rechts ab und folgt dem Regen durch ein verschlossenes Gatter.
Rechts, in die Kurve zwischen Beckenknochen und Hüfte kriecht der Schmerz, von ihren Knien hinaus, über das Herz, die Schläfe. Von der offenen Balkontüre aus beobachtet sie die Wäsche im Regen schwingen, wie zu einem schweren Polka. Es scheint ihr, als liefe der Regen ungehindert über ihre Stirn, die Nasespitze über das Kinn hinab. Die Polka in ihren Gedanken kommt zum Stillstand, als sie die Schlüssel in der Haustür hört. Sie ahnt, wie er im Erdgeschoss die Schuhe abstreifen würde. Dann seine Schirmmütze auf den Hacken hängen. Wie er den Anzug, scheinbar aus Regentropfen gewebt, abstreift, die Augenbrauen zusammenzieht und etwas in seinen Bart brummt. An dem Klang seiner Pantoffeln erkennt sie, welche der hölzernen Stufen er gerade nimmt. Oben angekommen wäre das Erste, was er sehen würde, die grau-nasse Wäsche. Unfähig würde er sie nennen.
Je nach dem, wie sein Tag war, würde er sie von hinten mit Vorwürfen überfallen, sie, die Beschuldigte, in flagranti erwischt. Weil sie den Regen nicht vorhersehen konnte, obwohl sie das Unwetter lange davor roch, noch bevor sie den Wetterbericht hörte.
Sie ist zu müde um sich umzudrehen, klammert die Hände um das metallene Geländer und atmete tief, die Augen geschlossen als warte sie nur den Schlag ab. Nichts konnte die Situation jetzt noch ändern. Sie summt zum Prasseln wie zu einer dramatischen Hintergrundmusik, als seine Schritte die Holzdiele vor der Schlafzimmertür erreichen. Die leise Hand auf der Klinkte. Ein Knirschen. Dann die Stille wie ein Folterinstrument. Als sich die Schritte wieder entfernen, geben ihre Knie nach.
Nachdenklich starrt sie nach Draußen. Es ist der dritte Versuch. Die Hände auf dem Gehstock geparkt, der gepackte Koffer neben ihr wie das Versprechen, es dieses Mal ernst zu meinen. Sie trinkt den viel zu heißen Tee hastig. Dieses Mal, muss es klappen. So versicherte ihr es das Horoskop, und steht schwarz-auf-weiß an ihrer Pinnwand: „Diese Woche wird Veränderung bringen“. Zumindest ist es dieses Mal nicht ihre Schuld. Könnte sie den Regen nur bezwingen. Sie wird sich den Tod holen noch bevor er sie holt. Dabei ist alles geregelt. Seit Monaten liegt der Abschiedsbrief in der Kammer hinter der Küche, zwischen Kartoffeln und Äpfeln versteckt.
Von ihren Plänen erfährt nur ihr Liebster, im Zwiegespräch zwischen Jenseits und Diesseits. Stolz wäre er, wenn er noch leben würde. Er hätte sie gehen lassen und geduldig gewartet, wie ihr Leben lang. Leerer wird die Nachbarschaft. Leere Steinhäuschen in dem leere Gesichter wohnen. Leer die Hoffnung, selbst zu entscheiden, wo die Reise gehen soll. Oder enden. Ihr Enkel entfachte den Gedanken, dass es über dem Tal noch schöner sein konnte. Wenn nicht jetzt, dann würde sie hier verrecken und verregnen.
Verwegen, fast lautlos schleicht er in sein Arbeitszimmer, noch bevor er sie begrüßt, zieht die Türe hinter sich zu und dreht den Schlüssel im Schloss um, ein, zwei, drei Mal. Dann ist alles ruhig. Das Ticken der Wanduhr spielt eine Symphonie mit dem Regen als er aus dem inneren seiner Aktentasche ein Papier fischt. Regeninfizierte Tinte fließt abwärts über das Blatt auf seinen Teakholzschreibtisch, wie schwarze Rinnsale im Moor. Nur schemenhaft ist die Schrift seines Schülers zu erkennen. 4b, kein Musterschüler, zugegeben, aber talentiert. Er pinnt den Aufsatz an die Wand, die tapeziert ist mit beschriebenen Blättern. Wäre er sein Sohn, er könnte ihn richtig fördern. Mit etwas Disziplin die Verträumtheit dosieren. Nur etwas. Er könnte ein großartiger Autor werden. Vielleicht sollte er mit ihm sprechen, nach der Stunde. Nicht mit den Eltern, er war alt genug. Er könnte Nachhilfe bekommen, Einzelstunden, hier, bei ihm Zuhause. Dann würde er auch mittags hier essen. Seine Frau hätte endlich jemanden, für den sie kochen, um den sie sich kümmern könnte. Sie würden hier zusammen am Tisch essen. Fast wie eine richtige Familie. Heute, heute, hätte er mit ihm sprechen wollen.
Für Leute, die nicht sprechen, aber lieber schreiben, bringt er die Wahrheit bis vor die Haustür. In der Fahrradtasche des Postboten zerfließen sie ins Unkenntliche: regenaufgelöste Abschiedsbriefe, Kündigungen, Liebesnachrichten, die es nie machen werden. Botschaften, die relativ werden, wenn der Himmel über dem Dorf zusammenkrachte und sich ergöße. Er flucht in den Himmel, der ihm den Tag vermieste und bekommt doch keine Antwort. Die Schuhe nass bis auf Schnürsenkel entscheidet er sich für eine letzte Runde, als die Straßenlaternen schon angehen. Er klopft an die morsche Ladentüre, wie immer zum Feierabend. Sie ist angelehnt. Im Inneren findet er nur einen Gehstock und eine Tasse kalten Tee.