Verraten
Anaril war bis aufs Äußerste gespannt, und am ganzen Körper zitterte er fast unmerklich, während sich seine filigranen Finger so fest um den Schwertgriff verkrampften, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die schmale, leicht gebogene Klinge vibrierte.
Jetzt war es also Wirklichkeit geworden, obwohl er insgeheim nie erwartet hatte, dass es so kommen würde, dass sie so weit gehen würden. Und gewünscht hatte er es sich erst recht nicht, er hatte ihnen auch nicht zugetraut, dass sie es wagen würden. Doch es war alles anders gekommen, anders, als er je gedacht hätte.
Nie hatte er es für möglich gehalten, dass er je in seinem Leben einmal so tief sinken könnte, doch auch dies war geschehen. Viele Gedankengänge und bis dahin als unumstößlich geltende Gewissheiten stellten sich in letzter Zeit als bloße Täuschungen heraus, denen er sich bisher blind hingegeben hatte, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu hinterfragen. Die Folgen seines alles andere als umsichtigen Handelns hatte er am eigenen Leib zu spüren bekommen. Und da sollte er auch jetzt noch einmal tun, sogar mehr denn je.
Hastig und mit einer fahrig wirkenden Bewegung, die ganz und gar nichts hoheitliches mehr an sich hatte, strich Anaril sich die hellblonden, fast weißen Haare hinter die spitzen Ohren. Den silbernen, reich verzierten Reif, von dem sie früher gehalten worden waren, hatte man ihm, wie so vieles andere auch, genommen. Nur wenig war ihm geblieben: Sein Schwert, das seit jeher sein treuester Begleiter und in allen Gefahren an seiner Seite gewesen war, die schmucklose, aber vortrefflich gefertigte Rüstung aus hunderten, in unendlich langer Arbeit zusammengefügten Eisenplättchen, und, als letztes und gleichzeitig wertvollstes Gut: Sein Leben. Doch außer ihm war dieses nur noch den wenigsten etwas wert, und er konnte nicht sagen, wie lange er es noch würde behalten können.
Möglichst lange, so hoffte er zumindest, doch in dieser Angelegenheit war er sich, wie in so vielem, alles andere als sicher. Doch sein Leben war, nüchtern betrachtet, wohl keinen roten Heller mehr wert, so schwierig es für ihn auch war, sich das einzugestehen, es blieb ihm keine andere Wahl. Er konnte und durfte es sich jetzt nicht leisten, sich selbst falsche Tatsachen vorzuspiegeln, noch weniger jetzt, als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt. Die Folgen wären fatal. Er musste sich der Wahrheit stellen, so grausam diese auch sein mochte.
Mit bebenden Schultern und rasendem Herzen schaute er sich im Inneren des großen Tempels um, den er noch vor wenigen Wochen regelmäßig aufgesucht hatte, um den Göttern zu huldigen oder ihnen Opfer darzubringen. Das hatte sich jetzt grundlegend geändert. Der Grund seiner Anwesenheit war diese Mal ein gänzlich anderer, nicht einmal ansatzweise mit denen seiner vorigen Besuche zu vergleichen.
Die großen, reich verzierten Säulen, Götterstatuen, Opferschalen und Altäre schienen ihm auf einmal fremd und grausam zu sein, er konnte ihnen nichts mehr abgewinnen, rein gar nichts. Hochmütig und hasserfüllt schienen die toten, blinden Augen der steinernen Figuren ihn anzustarren, als warteten auch sie nur auf seinen Tod. Vielleicht konnten sie ihn nicht einmal mehr erwarten.
Ganz anders war das gewesen, als er noch der Fürst des Reiches gewesen war, ein junger, aufstrebender Elf, klug und stark zugleich, und sogar beim Volk beliebt. Sie hatten ihn zu ihrem Fürsten gewählt, sie alle, und es war ihre Entscheidung gewesen, nicht seine. Obwohl er sie mit Freuden begrüßt und als eine große Ehre empfunden hatte, die höchste Ehre überhaupt, die einem widerfahren konnte. Damals waren ihm die Götter freundlich und ihm wohlgesonnen vorgekommen, wie gute alte Bekannte, und es hatte den Anschein gehabt, als hätten sie ihn nach Kräften unterstützt, ihm bei seinem ungewöhnlich raschen Aufstieg immer wieder unter die Arme gegriffen und ihn vor jedem Sturz rechtzeitig aufgefangen.
Damals hatte er versucht, ein guter, weiser und gerechter Fürst zu sein und den Bürgern einen guten Dienst zu erweisen, und zuerst war ihm das auch gelungen, einwandfrei, er war sogar einer der beliebtesten Herrscher überhaupt gewesen – bis es passiert war.
Leiser Gesang setzte ein und hallte von der hohen, goldenen Kuppel des Tempels wider, er verschmolz sofort zu einem Klangteppich, wie ihn keines Menschen Kehle je erschaffen konnte. Der Gesang ließ einen vor Ehrfurcht erschaudern, klang gleichzeitig jedoch unendlich schön. Normalerweise empfand auch Anaril diese Töne als überwältigend und ließ sich von ihnen ins Reich der Träume und der Fantasie entführen, doch dies war der denkbar ungünstigste Augenblick, mit den Gedanken woanders zu sein.
Den Schwertgriff noch fester umklammernd und die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, hinter denen ein forschender, wachsamer Blick hervorloderte, schaute er sich nach den Sängern um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Kein Wunder eigentlich bei dem riesigen, weitläufigen Raum und den vielen verwinkelten Nischen und Emporen, die er von seinem jetzigen Standpunkt aus nicht einsehen konnte. Sie boten hervorragende Verstecke. Dass er sie nicht sah, weckte ein Gefühl der Beunruhigung, vielleicht sogar der Furcht in ihm, obwohl er sonst die Ruhe in Person war.
Er musste sie einfach sehen, um sein inneres Gleichgewicht zurückzugewinnen, sonst war er so gut wie verloren – auch wenn das sowieso schon gewissermaßen der Fall war. Doch vielleicht bekam er wenigstens noch eine Chance, eine einzige, wenn auch nur geringe. Eine sehr geringe.
Er schloss widerstrebend die Augen und zwang sich innerlich zur Ruhe. Wider Erwarten hatte er Erfolg damit. Nach und nach brachte er sich selbst wieder unter Kontrolle, im selben Maß wich auch die Furcht.
Vollkommen ruhig geworden, öffnete er die Augen wieder und rief seine Magie. Er spürte deutlich, wie ihn die unfassbare Kraft durchströmte und sich seine Handflächen erwärmten, bereit, die Energie entweichen zu lassen. Die Magie pulste gemeinsam mit seinem Blut durch die Adern und verströmte dabei eine starke, aber angenehme Hitze.
Nach kurzem Zögern sagte er einige Worte in der uralten Sprache seines Volkes, die nur die Elfen und die Zauberer der Menschen, von denen es freilich nur wenige gab, verstanden. Dazu vollführte er einige knappe Gesten mit der rechten Hand.
Der Zauber war im Grunde genommen recht einfacher Natur, verlangte aber, wie jeder andere auch, eiserne Konzentration und Durchhaltevermögen. Obwohl er sich nicht sicher war, ob er die Konzentration lange genug aufrechterhalten konnte, wirkte Anaril ihn. Er gehorchte seinem inneren Zwang.
Die Magie, die er gewirkt hatte, erlaubte es ihm, Dinge in seiner Nähe zu sehen, ohne dass sie direkt von seinem Auge erfasst wurden. Es war einer der ersten Zauber, die er gelernt hatte. Und er weckte Erinnerungen an seine Jugend in ihm, als er, Sohn einer adeligen Familie, noch ein unbeschwertes und glückliches Leben geführt hatte, ohne all die Probleme, Widrigkeiten und Sorgen, die ihn jetzt plagten und von denen er damals noch nicht das Geringste geahnt hatte. Wie sehr sehnte er sich doch danach zurück!
Doch es rief auch Erinnerungen an seine Familie und Corlas, seinen Lehrmeister und guten Freund, wach, der ihn in der Magie, der Kampfkunst, der Heilkunde, der Geschichte ihres Volkes und in vielen weiteren Dingen unterrichtet hatte, bis auch Anaril es in alldem zu wahrer Meisterschaft gebracht hatte. Ein treuer Freund war Corlas ihm auch später noch gewesen, während seiner Zeit als Fürst des Reiches, und als einziger hatte er ihm auch noch zur Seite gestanden, nachdem es geschehen war. Als alle anderen ihn schon im Stich gelassen hatten, sogar seine eigene Familie.
Doch selbst das hatte seine Eltern, Geschwister, Verwandten und Freunde nicht retten können, auch sie waren jetzt tot, ermordet allesamt. Das gleiche Schicksal hatte schließlich auch Corlas ereilt, und Anaril selbst war wohl als Nächster an der Reihe. Doch wenn er sein Leben schon nicht behalten konnte, so wollte er es wenigstens möglichst teuer verkaufen.
Er ließ sein magisches Auge durch den Raum gleiten, auf der Suche nach der Quelle des himmlischen Gesangs. Als er sie jedoch fand, verspürte er alles andere als Erleichterung – im Gegenteil, Angst, beinahe Panik, machte sich in ihm breit. Die Sänger waren es nicht, die diese Gefühle in ihm hervorriefen. Es waren die anderen.
Sie hatten also ihre Entscheidung gefällt, würden es wagen, obwohl er bis zuletzt gehofft hatte, dass sie es nicht tun würden. Nun war diese Hoffnung endgültig enttäuscht. Die Stunde war gekommen, in der er entweder fallen oder triumphieren würde. Er entschied sich für Letzteres, im Gegensatz zu allen anderen.
Langsam strömten immer mehr Elfen ins Innere des Tempels, sodass sich der Raum schnell füllte und Anaril sie bald auch ohne magische Unterstützung sehen konnte. Er löste den nutzlos gewordenen Zauber, um nicht noch mehr Zeit und Kraft zu verschwenden. Während sich die Elfen, allesamt mit wie aus Stein gemeißelten, abweisenden Mienen, um ihn herum versammelten, stand er stolz aufgerichtet da, wie ein Fels in der Brandung, und ließ sich von ihnen nicht einschüchtern. Auch nicht, als sie den Kreis immer enger zogen, so eng schließlich, dass er fast keinen Bewegungsraum mehr hatte.
Entschlossen hob Anaril das Schwert, der Gesang verstummte und es legte sich absolute, endgültige Stille über den Raum. Man hätte eine Stecknadel fallen hören, so leise war es. Anaril sträubten sich die feinen Härchen an den Armen, denn diese Stille hatte etwas ungemein Düsteres an sich.
Auffordernd und mit hochmütigem Gesichtsausdruck sah er in die Runde, doch niemand sprach ihn an oder sagte ihm, wie es jetzt weitergehen sollte, obwohl alle ihn abschätzig musterten und die ganze Versammlung sich nur für ihn zu interessieren schien. Doch er musste sich nicht im Mindesten bemühen, um zu erkennen, dass dies kein freundschaftliches Interesse war, das sie ihm entgegenbrachten. Im Gegenteil, es zeugte von Abneigung, wenn nicht sogar Hass ihm gegenüber.
Doch was um alles in der Welt hatte er nur falsch gemacht? Er konnte es nicht verstehen, er hatte immer sein Bestes gegeben, für seine Untertanen, die sich jetzt gegen ihn wandten, wie für das Reich. Sie hatten ihn dafür geliebt und verehrt, für seine Aufopferung, seine Treue, auch für seine Gerechtigkeit. Doch Letztere war ihm schließlich zum Verhängnis geworden, und er konnte noch immer nicht recht begreifen, wie es geschehen hatte können. Er hatte eigentlich nur alles richtig machen wollen, den Elfen helfen, sie mit aller Kraft unterstützen, doch nachdem es passiert war, hatten sie seine Hilfe nicht mehr annehmen wollen. Sie hatten seine Unterstützung, sogar ihn selbst, einfach verleugnet.
Wieder und wieder fragte Anaril sich, wie jemand so hoch aufsteigen und danach so tief sinken konnte. Noch hatte er keine plausible Antwort auf diese Frage gefunden, und es sah auch nicht danach aus, als würde ihm das irgendwann noch gelingen. Zumindest nicht mehr in diesem Leben, denn es würde nicht mehr lange andauern, so wie es aussah. Und im nächsten würde er sich mit dieser Frage nicht auseinandersetzen müssen, zumindest hoffte er das.
Doch er war nicht schuldig, hatte nichts falsch gemacht. Das redete er sich nicht einfach nur ein, wie es viele taten, die tatsächlich zu Straftätern geworden waren, sondern es stimmte. Stimmte voll und ganz. Er hatte nur nach seinem Herzen gehandelt anstatt nach den Idealen, an denen er sich den Erwartungen seiner Untertanen zufolge orientieren sollte, und sein Herz hatte ihm das Richtige eingegeben. Das war seine feste, unerschütterliche Überzeugung, für die und mit der er notfalls auch in den Tod gehen würde.
Der Gedanke daran, dass er unschuldig war, straffte ihn innerlich wieder ein wenig, und obwohl ihm dabei heiß und kalt zugleich wurde, fragte er die anderen, seine Peiniger, die nur darauf aus waren, ihn tot zu sehen, ihn los zu werden: Was wollt ihr eigentlich von mir? Mit trotzig nach vorne gerecktem Kinn, dabei neuen Mut fassend, fixierte er sie einen nach dem anderen mit eiskalten Blick. Viele wichen ihm aus, drehten verlegen den Kopf zur Seite. Was wollt ihr?, wiederholte er, dieses Mal lauter, bestimmter. Die Antwort, die weiterhin aus Schweigen bestand, bestätigte ihn nur, spornte ihn noch zusätzlich an.
So lasst mich gehen, forderte er, wenn ihr nichts vorzubringen habt. Wenn ihr kein Recht auf eurer Seite habt! Noch immer zeigten die anderen keine Regung, und als er sein Schwert mit einer bedachten, langsamen Bewegung zurück in die Scheide gleiten ließ und sich zum Gehen wandte, traten sie nicht zur Seite. Undeutliches Gemurmel erhob sich, von dem Anaril nur Fetzen verstand.
Schließlich, als Anaril es schon in Betracht gezogen hatte, sich seinen Weg auf handgreifliche Weise zu bahnen, trat ein noch junger Elf vor, der sich von den anderen unterschied. Nicht unbedingt im Aussehen, er war genauso blass, schmal und zierlich gebaut, klein und doch trotzdem voller Kraft wie die anderen Elfen, wie es ihrer Rasse eben zu eigen war. Es lag mehr etwas in seiner Ausstrahlung. Etwas rebellisches, verwerfliches, das Anaril sofort eine Abneigung gegenüber dem Jungen empfinden ließ, das er aber in gewisser Weise auch von sich selbst her kannte. Der andere handelte mehr nach seinem Herzen und seinen Gefühlen, als die meisten es taten, etwas, das er mit Anaril gemeinsam hatte, obwohl es bei ihm nur ein einziges Mal der Fall gewesen war – und es wahrscheinlich nie wieder sein würde. Ihn, Anaril, hatten sie dafür verurteilt, auf gewisse Weise sogar ausgestoßen, während der andere anscheinend noch wohlgelitten war. Fragte sich nur, für wie lange noch … Doch das war im Moment nicht sein Problem, er hatte es mit wichtigeren Dingen zu tun. Und die Zeit drängte.
»Wer bist du?«, fragte Anaril, der den anderen nicht kannte und sich auch nicht daran erinnern konnte, ihn schon einmal gesehen zu haben. »Du bist es nicht würdig, das zu erfahren, du bist es nicht wert, meinen Namen zu kennen. Es reicht, wenn ich den deinen kenne, Anaril.« Der Fremde spuckte das Wort förmlich aus, als wäre es etwas Ungenießbares, Widerwärtiges, mit dem man sich nicht näher befassen durfte. »Obwohl du ihn nicht mehr lange tragen wirst.«, fügte er noch hinzu, und Anaril verstand sofort, was er meinte. Es war von vornherein klar gewesen, dass es so enden musste. Er hatte sein Schicksal schon seit längerem voraus geahnt.
»Du wirst mich töten.«, erkannte er, und der junge Elf nickte nur, fast schon abwesend, als dürfe er sich nicht einmal in dieser Situation unmittelbar mit ihm befassen. Wieder wurde Gemurmel laut, diesmal jedoch glaubte Anaril darin einen freudigen, erwartungsvollen Unterton darin zu erkennen.
So werde ich dich zuerst töten., sagte Anaril mit belegter, jedoch fester Stimme, und sein Bedauern, das darin lag, war echt, von Grund auf ehrlich. Er bedauerte den Jungen, der in seinen Augen noch nicht einmal ein richtiger Mann war. Doch dieses Bedauern durfte sich nicht negativ auf seine Handlungen auswirken, kein unangebrachtes Mitleid in ihm hervorrufen. Wenn er sich kampflos ergab, würde er damit in den Augen seiner Ankläger nur seine Schuld eingestehen. Seine Ankläge, von denen er noch immer nicht mit Sicherheit sagen konnte, warum sie so begierig darauf waren, ihm dies alles anzutun.
Der Entschluss war gefasst. In einer einzigen, fließenden Bewegung, perfektioniert durch hartes Training und jahrelange Erfahrung, die ihm schon mehrmals das Leben gerettet hatte, zog er sein Schwert und führte es kraftvoll gegen die rechte Schulter seines Gegners. Der Hieb war dazu gedacht, Fleisch, Sehnen, Muskeln und auch Knochen zu durchtrennen, was an sich kein Problem war für die rasiermesserscharfe, jedoch ungemein stabile Klinge darstellte, solange man es mit der richtigen Technik anfing. Und die beherrschte Anaril zweifellos. Er war sich sicher, dass schon dieser erste Angriff den Gegner niederstrecken würde.
Doch es sollte anders kommen. Plötzlich spürte Anaril, wie seine Klinge auf Widerstand traf, den zu durchtrennen sie nicht imstande war. Er war zu überrascht, um schnell genug reagieren zu können. Brutal wurde sein sein Schwertarm zur Seite gerissen, als der Angriff abgeblockt wurde, und ein heißer Schmerz durchzuckte das Handgelenk.
Damit hatte er, wenn er ehrlich zu sich selbst war, nicht gerechnet. Ohne sich Sorgen um seine Sicherheit zu machen oder auch nur den Kopf zu heben, wirkte er einen einfachen, aber wirksamen Heilzauber, der seinem Handgelenk die Schmerzen nahm und es völlig wiederherstellte, was äußerst wichtig war für den bevorstehenden, unvermeidlichen Kampf, der alles andere als einfach zu werden versprach.
Als das Gelenk vollkommen intakt war, nahm er die Klinge wieder auf, hob den Kopf und nickte seinem Gegner anerkennend zu, sowohl für dessen kämpferisches Können und Geschick, seine schnellen Reflexe, die ihm gerade eben offenkundig das Leben gerettet hatten, als auch für seine Toleranz gegenüber der unerbetenen Pause. Obwohl Anaril sich denken konnte, dass der Beweggrund dafür nicht unbedingt reine Freundlichkeit gewesen sein dürfte. Der andere hatte nur seine Überlegenheit zur Schau stellen wollen.
»Ich danke dir«, sagte er trotzdem und neigte dabei leicht den Kopf.
Der andere ging gar nicht erst auf seine Worte ein, sondern erklärte ihm hochmütig: »Falls du mich nicht kennen solltest – ich bin ein Krieger, und zwar der Beste. Ich denke, du hast es gemerkt. Wie auch immer, wegen dir starb mein Vater. Ihn solltest du auf jeden Fall gekannt haben. Er hieß Corlas.« Ein wölfisches, hasserfülltes Grinsen spielte um die schmalen, blutleeren Lippen des Jünglings, während er mit einer lässigen Bewegung das Langschwert aus dem Handgelenk heraus um den Kopf kreisen ließ.
Für Anaril brach eine weitere Welt zusammen, eine von vielen, die bisher schon das gleiche Schicksal ereilt hatte. Er sollte durch die Hand des Sohnes seines besten und zugleich einzigen Freundes sterben. Doch dass Corlas' Tod der Grund für den Hass war, den er auf sich zog, konnte nicht sein. Sein Lehrer war erst gestorben, nachdem es passiert war, und zwar durch die Hand der Aufständischen.
Er glaubte dem anderen aufs Wort. Noch nie hatte er einen auch nur annähernd so guten Kämpfer kennengelernt wie Corlas, wieso sollte sein Sohn schlechter sein? Auch die Hoffnung, dass der Sohn seines Freundes ein schwacher Magier war, war unbegründet. Corlas war schließlich der Beste im ganzen Reich gewesen. So oder so, Anaril konnte nicht mit ihm mithalten.
Anarils Kehle wurde trocken, er schluckte schwer und brachte endlich mit schwacher, halb erstickter Stimme hervor: »Er war auch mein Lehrer und Meister. Und mein Freund.«
»Ich habe davon gehört, ja«, gab der andere auf die gleiche arrogante Weise zurück, auf die er immer zu reden pflegte, »Doch denke nicht, dass dich das in meinen Augen zu einem besseren Elfen macht. Mein Vater war ein aufrechter, guter Mann, bis er dich kennenlernte. Erst du hast ihn verdorben, ihn zu dem gemacht, als der er gestorben ist.«
»Was meinst du damit? Als was ist er gestorben?«, fragte Anaril, doch er erhielt keine Antwort.
»Und nicht nur deswegen wirst du schon sehr bald durch meine Hand den Tod finden«, versprach Corlas‘ Sohn stattdessen und schaute Anaril herausfordernd ins Gesicht. Zuerst wollte der Fürst noch fragen, was die anderen Gründe seien, doch er besann sich eines Besseren.
Stattdessen bereitete er sich geistig auf den zweifellos bevorstehenden Kampf vor, kam innerlich zur Ruhe. Er schloss die Augen und dachte an gar nichts, bis das sanfte Beben seiner Schultern aufgehört hatte und er vollkommen ruhig geworden war. Dann schlug er die Augen wieder auf.
Er sah, dass der Gegner es genauso machte, auch er wirkte kein bisschen angespannt. Das zeigte wieder einmal, dass sie beide denselben Lehrer gehabt hatten. Und dass Corlas ein guter Lehrer gewesen war. Die beiden sagten kein Wort, während sie die Schwerter langsam abwehrbereit vor ihre schmalen, schlanken Körper hoben, doch ihre Augen sprachen Bände. Sie erzählten Geschichten von blankem Hass, von Tod und Verderben.
Auch um sie herum herrschte absolute Stille, es schien, als hätten alle Anwesenden und sogar die Welt selbst den Atem angehalten. Doch dieses Mal wirkte es sich nicht bedrückend auf Anaril aus, dazu war er viel zu gelassen. Die Stille kam ihm sogar recht gelegen, sie störte ihn nicht in seiner Konzentration. Er betete nicht zu den Göttern, wie er es bisher vor jedem Kampf zu tun gepflegt hatte, denn er hatte noch gut ihren abweisenden, von Abneigung zeugenden Blick vor Augen, mit dem sie ihn durch die Statuen bedacht hatten.
Dieses Mal musste er sich, wohl oder übel, auf seine eigene Kraft verlassen und durfte mit Sicherheit nicht auf göttlichen Beistand hoffen. Doch das war ihm egal, er war sowieso schon so gut wie verloren, und daran hätte kein Gott der Welt etwas ändern können.
Dann ging es los, das wichtigste Duell, das Anaril in seinem Leben gefochten hatte. Die beiden Kontrahenten begannen damit, sich gegenseitig zu umkreisen, mit gleichzeitig schlag- und abwehrbereitem Schwert, immer Ausschau haltend nach einer Schwachstelle in der Deckung des Gegners, doch nie fanden sie eine. Ab und zu wurden ein, zwei Schläge getauscht, die herabfielen wie Blitze, doch keiner von ihnen traf sein Ziel.
Die beiden waren so verbissen in ihren seltsamen, abstrakten Tanz, dass sie nicht auf die Umgebung achten konnten. Anaril wusste, wie leicht es für einen der Umstehenden gewesen wäre, ihm in aller Gemütlichkeit einen Dolch zwischen die Rippen zu stoßen. Doch sogar diese Verräter mussten so viel Ehre besitzen, dass sie das nicht taten.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit gelang es dem Jungen endlich, den entscheidenden Teil des Duells zu eröffnen. Mit einer ausgefeilten Schlagfolge trieb er Anaril mehrere Schritt weit zurück, und nur mit Mühe konnte dieser die mit rascher Geschwindigkeit auf ihn eindringenden Hiebe abwehren. Die Klinge zitterte und bebte unter der übermenschlichen Kraft, mit denen der andere das Langschwert führte, doch sie zerbarst hielt stand. Wenigstens ein Freund hält noch zu mir, dachte Anaril bitter.
Endlich gelang es ihm, den stählernen Hagel zu unterbrechen, mit dem er eingedeckt wurde, und er schaffte es sogar, selbst einen Hieb nachzusetzen, den der andere doch mit einer Lässigkeit und Leichtigkeit parierte, die schon fast eine Beleidigung für den ehemaligen Fürsten darstellte. Er hasste den Jungen, und noch mehr dessen Überheblichkeit, doch er fühlte sich machtlos und außerstande, es ihm heimzuzahlen. Vergeblich versuchte er es mit einem waagerecht geführten Stich in Richtung der Brust des anderen, und nur mit einiger Anstrengung gelang es ihm, die Klinge und sein Gleichgewicht zu halten.
Ohne Zögern setzte Corlas' Sohn nach, und wieder hagelte Stahl auf Anaril ein. Er versuchte gar nicht erst, die Hiebe zu parieren, die so schnell geführt waren, dass ein menschliches Auge sie nicht einmal sehen konnte. Rasch machte er zuerst einen Satz nach hinten und dann einen zur Seite und ließ somit den Angriff ins Leere laufen. Doch wenn er gedacht hatte, seinen Gegner dadurch wenigstens für einen Augenblick aus dem Konzept zu bringen, so täuschte er sich gewaltig.
Der Sohn seines besten Freundes war zwar arrogant wie eine Prinzessin, doch er hatte nicht gelogen hinsichtlich seiner kämpferischen Fähigkeiten. Vielleicht war er tatsächlich noch besser als Corlas, vielleicht auch nicht. Anaril konnte es nicht sicher sagen. Doch in einem war er sich sicher: Wäre er nicht so verblendet gewesen, hätte der Junge es rasch zu hohem Ansehen bringen können. Doch bestimmt würden sie auch ihn bald verraten, wann es ihnen gerade in den Kram passte. Genau so, wie sie es bei Anaril getan hatten.
Der ganze Verlauf des Duells erinnerte Anaril an seinen ehemaligen Meister, auch bei all den Übungskämpfen war er stets der Unterlegene gewesen, hatte sich jedoch nie vorzeitig geschlagen gegeben und auch selbst immer wieder kleine Erfolge zu verzeichnen gehabt. Trotzdem war ihm immer bewusst gewesen, dass auch er großes kämpferische Talent hatte, und das hatte ihm immer wieder Mut neuen Mut gegeben.
Auch jetzt gab ihm die Erinnerung an diese glückliche, jedoch vergangene Zeit neues Selbstvertrauen. Frische Kraft schien ihn zu durchströmen, doch vielleicht war es auch nur der Zorn, der durch seine Adern floss wie heißes, flüssiges Feuer und ihm dadurch die Gewalt eines Drachen verlieh. Zumindest in seiner Vorstellung. Doch immerhin erinnerte es ihn daran, dass er sich nicht aufgeben durfte, es bis zum bitteren Ende durchziehen musste. Auch, wenn das Ende des Kampfes gleichbedeutend mit dem seines Lebens sein sollte.
In einem Ausbruch roher, ungestümer Kraft hob er sein Schwert weit über den Kopf und ließ es mit voller Wucht hinabsausen. Er wusste nicht genau, was er treffen wollte, hatte kein bestimmtes Ziel außer seinem Kontrahenten. Der Schlag wäre normalerweise dazu fähig gewesen, einen massiven Eisenblock zu zerschneiden wie Butter, und er durchschnitt auch das zur Abwehr erhobene Schwert von Corlas‘ Sohn, von dem nur noch die Hälfte übrig blieb, doch nur etwa einen Zentimeter von dessen rechter Schulter entfernt stieß er plötzlich auf ein unsichtbares, undurchdringliches Hindernis. Magie, schoss es Anaril durch den Kopf.
Also doch ein Magier, ich hätte es mir denken können. Er verstärkte den Druck auf die Klinge noch ein wenig, konnte aber noch immer nichts ausrichten. Der andere schnaubte nur verächtlich und schnippte mit den Fingern, woraufhin Anaril das Schwert aus der Hand gerissen wurde und klappernd zu Boden fiel, außerhalb seiner Reichweite. Sofort stellten sich mehrere Elfen darum herum, sodass es für ihn unmöglich wurde, es zurückzuholen.
Er hat nur mit mir gespielt!, wurde es Anaril da auf einmal klar, in Wirklichkeit ist er noch viel besser als Corlas. Um Längen besser. Und mir damit haushoch überlegen. Wieder einmal war er kurz davor, aufzugeben, doch er zwang sich dazu, es nicht zu tun. Ihm würde sich eine Chance bieten, er musste sie nur nutzen. Zumindest hoffte er das. Er war ein weiteres Mal getäuscht worden, wie schon so oft.
Doch dieses Mal, wenigstens dieses eine Mal, konnte er sich dagegen wehren. Er musste es versuchen, wurde regelrecht dazu gezwungen. Jedes Mal, wenn ihn die Erinnerung an das schicksalsträchtige, unglückliche Geschehen überkam, versetzte ihm der bloße Gedanke daran innerliche Stiche und er fühlte sich gepeinigt, gequält und gefoltert. Er musste dem endlich ein Ende bereiten.
Mit einigen schnellen Sprüngen nach hinten brachte sich Anaril vor der immer wieder aufs Neue heranzischenden, halbierten Klinge seines Gegners in Sicherheit und überlegte dabei fieberhaft, wie er den Kampf doch noch für sich entscheiden konnte. Mehr, um sich Bedenkzeit zu erzwingen und den Gegner für eine Weile zu beschäftigen, ließ er hastig einen orangeroten Feuerball zwischen seinen leeren Handflächen entstehen und warf ihn nach Corlas' Sohn.
Wie erwartet, richtete der magische Angriff keinen Schaden bei dem Gegner an, nur der Schutzzauber, der sich wie eine zweite Haut um seinen gesamten Körper legte, leuchtete für einige Augenblicke in grellem Blau auf. Orangene Flammen züngelten darüber hinweg und erstarben schließlich.Immerhin hielt der andere in seinem Angriff Inne und senkte den Schwertstummel. Kopfschüttelnd und mit tadelndem Blick betrachtete er Anaril eine Weile.
»Du hast mich wohl für einen dummen, kleinen Jungen gehalten, der keine Ahnung hat, was er tut, wie?«, fragte er mit gespielter Freundlichkeit in der Stimme, »Ich denke, du hast gesehen, dass es nicht so ist … mein Fürst.« Er betonte die letzten beiden Worte abfällig, deutete eine verächtliche Verbeugung an und fuhr dann wieder in freundlicherem Tonfall fort: »Aber ich habe gesehen, dass ich mit meiner Einschätzung genau richtig lag: Du bist zwar kein kleiner Junge mehr und vielleicht auch nicht einmal besonders dumm, aber du kämpfst so.«
Anaril kochte innerlich vor Wut, blieb aber nach außen hin ruhig und ließ sich nicht provozieren, obwohl dieser Junge der seiner Meinung nach verabscheuungswürdigste Elf war, dem er je begegnet war. Der andere fuhr fort: »Ich will jedoch nicht so sein, und ich will auch keinesfalls vielleicht überheblich klingen, jedoch lass dir gesagt sein: Keiner deiner magischen Angriffe wird mich, und mögen sie dir auch von meinem Vater gelehrt worden sein, töten oder auch nur verletzen können, genauso wenig, wie dein Schwert es vermag, das du ja nicht einmal mehr hast, wie ich sehe.«
Mit einem arrogantem, schadenfrohem Grinsen wandte er sich der am Boden liegenden Waffe zu, auf die der Blick inzwischen wieder freigegeben war. Wehmütig betrachtete Anaril die Waffe, seinen letzten Begleiter, eine Sekunde lang, dann war sein Entschluss gefasst. Mochte der andere die Wahrheit sagen oder nicht, er würde es ein letztes Mal versuchen, und sollte es auch sein Untergang sein. Mit einem gewaltigen Satz hechtete er zu seinem Krummschwert hinüber und bückte sich schon im Sprung danach, doch mit einem verächtlichen Lächeln schnippte Corlas‘ Sohn ein weiteres Mal mit den Fingern und schleuderte die gebogene Klinge mit seiner Magie in den hintersten Winkel des Raumes, über die Köpfe der Menge hinweg.
Schmerzhaft landete Anaril auf dem Boden und überschlug sich mehrmals. Keuchend blieb er liegen und bekam nur am Rand mit, wie sein Gegner mit langsamen Schritten und triumphierendem Gesichtsausdruck auf ihn zukam. Aller Augen waren auf die beiden Kontrahenten gerichtet, und der Sieger des Duells schien festzustehen. Anaril hatte verloren. Jedoch nicht nur diesen Kampf, sondern alles, alles, was er je besessen und sich im Laufe der Zeit erarbeitet hatte. Doch noch immer kannte er nicht den genauen Grund dafür, weshalb sie ihm alles genommen hatten, ihm nichts, rein gar nichts lassen wollten.
»Hiermit richte ich dich.«, sprach der Junge und hob andächtig das Langschwert über den Kopf des Älteren, »Für alle Verbrechen, die du an unserem Volk begangen hast. Möge dein Geist auf ewig umherirren zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Toten, und möge er niemals Erlösung finden. Lebewohl.«
Freudiges, angespanntes Geflüster wurde laut, als der Junge die Muskeln an seinem Arm anspannte, um die Klinge herabzustoßen auf den am Boden kauernden Anaril. Sie warteten alle nur darauf, ihn sterben zu sehen. In ihren Augen war er der Verbrecher und sie, vor allem aber Corlas' Sohn, die Gerechten. In Wirklichkeit war es genau umgekehrt.
Und in diesem Moment wurde Anaril sich noch einmal der Worte seines soeben zum Schlag ausholenden Gegners bewusst, dass weder seine Magie noch seine Waffe ihn töten könne. Ein kühner Plan nahm in seinem Bewusstsein Gestalt an, nur sehr zögerlich, denn die Aussicht auf Erfolg schien nicht sonderlich hoch zu sein. Doch trotzdem war der Plan da, wartete in seinem Unterbewusstsein darauf, hervorzuschnellen und zum Einsatz zu kommen. Anaril wusste, dass dieser Gedanke, sobald er ihn in der alten Sprache sagte, ihm entweder das Leben bringen oder ihn hilflos dem Tod überlassen würde. Er entschied sich für das Leben und hoffte darauf, dass ihn irgendeine höhere Macht, welche auch immer – die Götter schienen ihn ja verlassen zu haben – unterstützen würde.
Anaril schloss die Augen, um nicht hinsehen zu müssen, denn er war sich sehr wohl bewusst, dass das Schwert des anderen jeden Augenblick auf ihn herabfallen konnte. Dann sagte er die Worte, die er sich in aller Eile zurechtgelegt hatte. Es war nur ein kurzer Satz, jedoch machtvoll, und er spürte, wie die Magie all seine Adern durchströmte, heiß und zähflüssig, als wollte sie ihn gleichzeitig verbrennen und seinen Körper zum Zerplatzen bringen. Der Körper hielt jedoch stand. Die Worte der Macht formten sich in seinem Mund und entströmten ihm, zurück blieb nur der Schmerz.
Das Gefühl der unglaublichen, alles verzehrenden Hitze begann wieder zu schwinden, langsam nur, jedoch unaufhaltsam, und schließlich fasste Anaril den Mut, die Augen aufzuschlagen und seinen Blick nach vorn zu richten. Innerlich jubilierte er, als er den Kontrahenten sah, doch in Wahrheit fühlte er sich keineswegs als Sieger. Er hatte auch nicht gesiegt, jedenfalls nicht endgültig. Nur ein kleiner Teilsieg war es gewesen, unbedeutend, doch so schwer zu erringen, dass er ihm all seine Kraft geraubt hatte.
Mit einem Gegner war er fertig geworden, und das mit einer Knappheit, die er nur dem Schicksal zu verdanken haben konnte, doch es war nur einer von hunderten oder gar tausenden. Gegen sie war er keinen Schritt vorangekommen, und es wurde ihm jetzt auch klar, sickerte langsam und träge in seinen Verstand, dass sie seine Forderungen niemals akzeptieren würden, dass sie erst fertig mit ihm sein würden, wenn entweder er oder sie alle tot wären. Wobei die erste Möglichkeit wohl eher der Fall sein würde.
Alles, was ihm blieb, war die Genugtuung. Er hatte sich über ihre Erwartungen hinweggesetzt, ihren größten Hoffnungsträger besiegt und damit die Hoffnung wenigstens einiger zunichte gemacht. Corlas‘ Sohn lag tot auf dem marmornen Boden des Tempels, der dadurch entweiht wurde. Seine überheblichen Züge waren noch bleicher, als sie es schon zu seinen Lebzeiten gewesen waren, wozu das hellrote Blut, das noch immer in kleinen Rinnsalen aus seiner Brust strömte, einen scharfen Kontrast bildete. Die Wunde klaffte weit auseinander, und die leeren Augen in seinem toten Gesicht schienen Anaril mit ihrem gebrochenen Blick noch immer ungläubig anzustarren.
In der Brust steckte sein eigenes Schwert, gehalten von seiner eigenen Hand, die noch im Tode darum verkrampft war. Er hatte es sich selbst in die Brust gestoßen, auch wenn er von Anaril auf magischem Wege dazu veranlasst worden war. Dies war seine einzige Schwachstelle gewesen, und dem ehemaligen Fürsten war es erst im letzten Moment gelungen, sie auszunützen: Sein Unerfahrenheit. Mit dem Zauber, den er gewirkt hatte, hatte er den Jungen nicht direkt getötet, und es war auch nicht durch seine Hand geschehen. Sein Schutzzauber war mächtig gewesen und auf jedwede Eventualität ausgelegt – nur vor einem hatte er sich nicht geschützt: vor sich selbst. Das war ihm zum Verhängnis geworden.
Noch immer herrschte Stille im Raum, feindselige Stille, und der Hass, der in der Luft zu liegen schien, war beinahe greifbar. Anaril nahm es mit tiefster, ehrlicher Trauer auf und wünschte sich nichts sehnlicher, als seinen Fehler, der keiner gewesen war, nie gemacht zu haben. Oder ihn wenigstens wieder gut machen zu können. Doch nicht einmal darauf konnte er hoffen. Die anderen würden ihn nie wieder akzeptieren, niemals.
Er hatte nur versucht, ihnen zu dienen, hatte es gut mit ihnen gemeint und dabei sein Bestmögliches gegeben. Doch zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass es keinesfalls zu wenig gewesen war, was er ihnen gegeben hatte – im Gegenteil. Es war zu viel gewesen, mehr, als sie ihm gewähren hatten wollen. Er war ihnen über die Köpfe gewachsen durch seine Tat, die nichts, aber auch gar nichts Schlechtes an sich gehabt hatte. Das falsche war nur daran gewesen, dass sie, im Gegensatz zu vielen anderen Taten, von Herzen gekommen und nicht aus kühler Berechnung geschehen war.
Es war Neid gewesen, nichts als blanker Neid und Hass, das die anderen Elfen von ihm gespalten hatte, eine Spaltung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Sie hatten ihn verraten, und sie würden nie wieder zu ihm halten, niemals. Dessen war er sich sicher, und obwohl es ihn zutiefst verletzte und er sich fühlte, als würden sein Herz und seine Seele entzwei gerissen, musste er sich mit dieser unumstößlichen Tatsache abfinden.
Doch das konnte er nicht, hatte es noch nie gekonnt und würde es auch in Zukunft nicht schaffen.
Langsamen Schrittes ging er zu seinem am Boden liegenden Krummschwert hinüber, seinem letzten Gefährten, und hob es unter höchster Kraftanstrengung auf. Mit seinen dünnen Lippen hauchte er einen zarten, sanften Kuss auf die anmutig geschwungene Blutrinne und verabschiedete sich damit in Gedanken von ihm.
Dann stürzte er sich hinein, die Klinge trat vorne ein, durchstieß das Herz und trat am Rücken wieder aus. In einem kleinen Sprühnebel von Blut ging Anaril zu Boden. Es war die letzte und einzige Möglichkeit gewesen, den anderen, seinem Schicksal und sich selbst zu entrinnen, denn sie alle hatten ihn verraten.