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Verrat
I
„Du hast ihnen gesagt, ich sei dagegen?“
„Nimm‘s nicht persönlich!“
„Ich bin nicht dagegen.“
„Das weiss ich doch, Peter.“
„Und wie soll ich’s nehmen, deiner Meinung nach?“
„Weiss nicht, vielleicht sportlich oder so?“
Rektor Zumbühl legt seine Hand auf Peters Schulter. Die beiden stehen vor dem Buffet, das die Küchencrew am Nachmittag aufgebaut hat. Dort liegen silbern glänzende, mit Rindfleisch belegte Platten, in deren Ecken sich Pfützen aus wässrigem Blut gebildet haben. Daneben rosa Krustentiere in Reih und Glied, von hölzernen Spiessen durchbohrt, und die Spiesse ragen in die Luft wie Lanzen.
„Du bist mein Winkelried“, sagt Zumbühl.
„Der hat sich freiwillig geopfert.“
„Ach komm, das glaubt doch heute keiner mehr.“ Zumbühl lacht. „Schau. Die meisten wollten den Unterricht ganz ausfallen lassen. Da habe ich gesagt, das käme für dich nicht Frage. Ich habe deine Argumente genannt und dann einen Kompromiss vorgeschlagen.“
„Meine Argumente?“ Peter ist einen Kopf grösser als Zumbühl, doch es ist ihm unmöglich, bedrohlich zu wirken. Wässrige Augen, weiche Stimme, Wollpulli. Die Haare, die er noch hat, liegen in dünnen Strähnen quer über seinem massigen Schädel. Man nennt ihn den bleichen Elefanten.
„Mensch, Peter. Musst halt dabei sein. Bei einer so wichtigen Konferenz“, sagt Zumbühl.
„Und du stehst da wie der weise Salomon.“
„Unterrichtsschluss um halb zwölf. Ist doch gut. Ach komm, sei nicht so. Lass uns Fleisch auf die Teller schaufeln, so lange es noch hat.“
Zumbühl greift zu. Er legt sich fünf Rindfleischstücke auf den Teller, dazu Pommes, Tatarsauce, Cocktailsauce und hellgelbe Senfschaumsauce. Etwas davon tropft auf seine Schuhe.
II
Weihnachtsessen im frühen Dezember, so wie immer. Auf den Tischen stehen Caquelons, in denen heisse Bouillon brodelt, und an den Tischen sitzt das gesamte Kollegium. Bauchige Rotweinkaraffen werden herumgereicht, Gläser klirren. Es riecht nach Parfum und Schweiss und Knoblauchsauce. Am Historikertisch spricht man über die Liebe.
„Also mein Mann. Mit meinem Mann hatte ich wirklich Glück“, sagt Maria und die Geschichtslehrer nicken und sie denken, es sei zumindest besser, wenn Maria von ihrem Leben erzähle, als von Schweizer Geschichte auf Unterstufenniveau.
„Absolut loyal. Unterstützt mich in allem, was ich tue.“
Maria blickt in die Runde und niemand blickt zurück. Sie hat kurz geschnittene Fingernägel.
„A propos loyal“, sagt der dienstälteste Historiker am Tisch. Der bleiche Elefant hat sich soeben zu ihnen gesetzt. „Du bist echt dagegen? Niemand soll an die Demo? Sparzwang im Bildungswesen, kein Thema für dich?“ Peter blickt auf die Garnitur seines Tellers. Zwei Stück Schweinefleisch. Drei Scheiben Kiwi.
„Ich bin nicht dagegen“, sagt er.
„Jetzt, wo es entschieden ist. Schon klar.“
„Ich war nie dagegen.“
„Wer’s glaubt. Aber das verstehen wir doch. Als neuer Konrektor sieht man die Dinge plötzlich anders. Du bleibst dann aber brav hier, wenn wir auf die Strasse gehen, mein Lieber.“
„Lasst uns wieder von der Liebe sprechen! Lasst uns ein Glas Roten trinken!“, ruft Maria.
Peter steht auf. Seine Hände zittern und die rechte Hand greift nach einer Gabel. Er schlägt die Gabel gegen sein Glas, bis der Historikertisch verstummt und weiter, bis alle im Saal ihn hören können.
„Ich bin nicht dagegen“, ruft er. „Alles, was ich gesagt habe, war, also, ich will das jetzt nicht, verdammt noch mal, ich bin nicht dagegen.“
III
„C`est trop gênant“, sagt Jean-Marc am Fremdsprachentisch und man tut so, als sei nichts geschehen. Jean-Marc hat die Figur eines Marathonläufers, ist seit vierunddreissig Jahren an der Schule und hat keinen Tag gefehlt. Neben ihm sitzt Alex, dünn und mit gepiercter Augenbraue. Vor kurzem hat er sein erstes Hemd gekauft und heute hat er es angezogen. Er schwitzt. Alex starrt auf den Wandteppich, der im hinteren Teil des Saals hängt und die Schlacht von Sempach verklärt. Sorget für mein Weib und Kind, soll Winkelried gerufen haben, als er sich die Lanzen der Habsburger in die Brust stossen liess, um seinen Eidgenossen den Weg hinter die feindlichen Linien zu bahnen. Alex zupft Jean-Marc am Ärmel.
„Ich muss mit dir reden.“
„Pas maintenant.“
„Vier Lektionen.“
„Pas ici.“
„Ich werde bald Vater.“
„Mais oui, je sais.“
„Ich brauche die Kohle. Ich muss für meine Familie sorgen.“
„Mais oui.“
„Du hast es versprochen. Du übergibst mir die 4c.“
„Ah non. Das muss gewesen sein eine Missverständnis.“
„Echt jetzt? Vier Lektionen. Das macht verdammt noch mal mehr als einen Tausender im Monat.“
„Désolé.“
„Und Zumbühl? War ja seine Idee.“
„Alors, du musst Zumbühl fragen, nicht mich.“
IV
Die meisten sind nach Hause gegangen und die Karaffen sind leer. Helen von der Küchencrew räumt die Tische ab, beaufsichtigt von Zumbühl, der zufrieden grunzt. Er trinkt sein Glas aus und bringt es in die Küche.
„Danke, Herr Zumbühl“, sagt Helen.
Zumbühl lockert seine Krawatte und lehnt sich gegen die Wand. Er sieht, wie Maria alleine am Tisch sitzt und wie sie mit dem Rotweinglas spielt und wie sie wartet, bis alle gegangen sind. Besser, er sagt es ihr jetzt.
„Na?“
„Hallo.“
„Hattest du einen schönen Abend?“, fragt Zumbühl.
„Er wird doch noch schön.“ Maria lächelt, ohne ihn anzublicken. Niemand soll etwas merken. „In deinem Büro?“
„Besser nicht“, sagt Zumbühl leise.
„Was heisst das? Besser nicht?“
„Maria.“
„Was, Maria?“
„Wir müssen damit aufhören. Ich kann mir das nicht leisten.“
„Und das flüsterst du mir jetzt zu? Damit ich keine Szene mache?“
„Ach komm. Tu nicht so überrascht. Jean-Marc hat uns übrigens gesehen. Ich hab‘ das unter Kontrolle, aber jetzt müssen wir aufhören.“
„Du hast gesagt, dass du mich liebst.“
„Ach Quatsch!“
Zumbühl legt seine Hand auf Marias Schulter, drückt kurz zu, sanft, und die Sache ist erledigt. Er geht nach draussen, atmet die kalte Winterluft ein und zündet sich eine Zigarette an, während Maria aufsteht, zur Toilette wankt und, die Hand gegen den Spülkasten gestemmt, in die Schüssel kotzt.
V
„Alex! Hast du mich erschreckt!“ Zumbühl hätte beinahe seine Zigarette fallen lassen.
„Ich hab‘ da eine Frage. Wegen der Pensenplanung.“
„Jetzt?“
„Jean-Marc hat mir heute gesagt, dass er die 4c übernehmen wird.“
„Und?“
„Du hast gesagt, dass ich die Klasse kriege.“
„Ach Quatsch! Und selbst wenn.“
„Ich werde bald Vater.“
„Schön.“
„Wir sind echt knapp bei Kasse.“
„Da kann ich nichts tun, Alex. Wenn du dich woanders bewirbst, vielleicht?“
„Bitte.“ Alex packt Zumbühl am Jackett.
„He, langsam, Junge. Bist du betrunken?“
„Du hast es versprochen.“
„Lass mich los, Alex.“
„Bitte.“ Alex will nicht loslassen. Zumbühl stösst ihn weg, Alex stolpert über seine eigenen Beine, torkelt und ist gerade nüchtern genug, um auf seine Hände zu fallen.
„Scheisse!“
„Idiot“, sagt Zumbühl.
„Ich blute.“
„Selber schuld.“
VI
Das Toilettenpapier färbt sich rot. Alex wirft es in die Schüssel und spült. Als er wieder auf den Gang tritt, sieht er Maria am Boden kauern. Sie sieht übel aus.
„Alles klar?“
„Liebst du jemanden?“
„Bitte?“
„Na, hast du jemanden, den du liebst?“
„Maria, sorry, aber ich hab` echt andere Sorgen.“
„Du blutest.“
„Ich weiss.“
„Und du schwitzt wie ein Iltis.“
„Aha.“
„Küss mich!“
„Bist du stoned? Sorry, aber ich muss jetzt echt gehen. Kommst du klar? Soll ich jemanden rufen?“
„Hau schon ab.“
Maria blickt Alex nach, wie er verschwindet. Sie schluchzt leise vor sich hin, bis sie auf einmal jemanden atmen hört.
„Scheisstag?“, sagt der bleiche Elefant.
„Du hast alles mitangehört?“
„Ich wollte gerade zur Toilette.“
„Ich will diesen Milchbart gar nicht küssen.“
„Schon klar.“
„Wie heisst der überhaupt?“
„Alex. Er gibt Französisch.“
„Jemanden lieben ist scheisse.“
„Ich kenne mich da nicht so aus.“
„Sei froh. Magst du dich zu mir setzen?“
„Ja.“
„Magst du meine Hand halten? Für eine Weile?“
„Ja. Das tue ich gerne.“
„Danke.“
„Maria. Eine Frage.“
„Ja.“
„Denkst du, man hat Winkelried gestossen?“
„Unseren Arnold?“ Maria lacht.
„Ja.“
„Ich denke schon. So wie ich die Menschen kenne.“
„Das sehe ich auch so.“
„Du warst wirklich nicht dagegen?“, fragt Maria.
„Nein.“
„Ich glaube dir.“
„Danke.“
„Ich stinke furchtbar.“
„Das ist schon okay.“
„Ich habe mir über die Schuhe gekotzt.“
„Zumbühl und der Winkelried.“
„In jeder Rede, bei jedem Anlass“, sagt Maria.
„Und dieser Wandteppich. Den kann ich nicht mehr sehen.“
„Den müsste man mal verbrennen.“
Zum ersten Mal an diesem Abend muss Peter lachen. Für eine Weile sitzen die beiden im dunklen Gang und denken nach über Verrat und über die Frage, ob man Winkelried gestossen hat, jeder für sich, Marias Hand in Peters Hand.
VII
Das Schulhaus ist dunkel. Alex kauert vor dem Nebeneingang. Es ist kalt und er sollte nach Hause gehen. Aber er will nicht. Die Kälte tut ihm gut. Auf einmal öffnet sich leise die Tür und jemand streckt seinen Kopf nach draussen.
„Die Luft ist rein“, sagt eine Stimme. Alex sieht zwei leicht gekrümmte Gestalten herauskommen, sie tragen eine Röhre. Alex räuspert sich.
„Scheisse!“ Die beiden lassen die Röhre fallen und die Röhre entfaltet sich und am Boden liegt der Wandteppich mit dem Winkelried.
„Ich bin’s. Alex.“
„Hast du uns erschreckt“, sagt Maria.
„Was macht ihr da?“
„Ehm.“
„Wir müssen ihn wohl einweihen“, sagt Peter.
„Haben wir denn einen Plan?“, fragt Maria.
VII
Alex hat die beiden zur Besinnung gebracht. Ob sie nicht in der Lage seien, weiter als bis zur Nasenspitze zu denken? Die Vernunft hat gesiegt und der Wandteppich hängt wieder an seinem Platz. Sie haben ihn verkehrt herum aufgehängt, als Kompromiss, und jetzt steht Arnold Winkelried auf dem Kopf, immerhin.