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Verrückt?
Nur ein Schritt und es war vorbei. Nur ein Schritt und ich würde eine beachtliche Höhe in die Tiefe stürzen. Für mich eine sehr willkommene Vorstellung, doch leider hatte ich nicht mit Lars gerechnet.
„Wow, Amy, du stehst so nah am Abgrund, ich glaube, du hast deine Höhenangst erfolgreich überwunden.“ Ich seufzte tief. „Ja da hast du wohl Recht.“ Abgesehen davon, dass ich nie unter Höhenangst gelitten habe. Ich wandte mich vom Abgrund ab. Er hatte mir erfolgreich den Moment versaut.
„Komm, Lars. Wie wärs, wir gehen wieder in die Klasse und hören den überklugen Weisheiten unseres Lehrers zu.“
„Okay.“
Wir gingen durch den leeren Flur, die Tür zum Klassenzimmer noch wenige Meter entfernt.
„Du Amy…“
„Mh?“
„Du wolltest dich nicht wirklich umbringen, oder?“
„Nein weißt du, ich stand nur zum Spaß da oben zwei Zentimeter vorm Absturz.“
„Du glaubst doch nicht echt, was der Typ dir letzte Woche erzählt hat, dass du nur noch einmal sterben musst, um ein Todesengel zu werden?“
Wütend drehte ich mich zu ihm um.
„Selbst wenn ich nicht zum Todesengel werde, viel passiert ja nicht, ich bin ein paar Stunden weg und wache wieder auf, so wie es immer ist. Ich hab nur einfach kein Bock mehr auf die ganze Scheisse hier.“ Ich fasste den Entschluss und ging an ihm vorbei wieder auf die Treppe zu.
„Amy, was hast du vor?“
„Es ist mir egal, ob du daneben stehst oder nicht, mach was du willst.“
„Du willst dich doch nicht ernsthaft da runter stürzen?“
„Genau das habe ich vor.“
„Ich bitte dich, Amy, in einer Woche bist du 18, dann kannst du machen was du willst und bist von deiner Familie weg. Mach dir das doch nicht kaputt.“
Er lief mir hinterher die Stufen hinauf. Nichts würde mich jetzt noch aufhalten. Wuchtig stieß ich die Tür zum Dach auf und ging bis zur etwas erhöhten Kante. Ich blickte nach rechts und sah ihn wieder, wie ich ihn letzte Woche gesehen hatte. Rote Augen, schwarze Haare, in seinem gleichfarbigen Kapuzengewand. Ich lächelte ihn an, den Tod, in seiner ganzen Erscheinung.
„Sag dem Jungen nichts von mir, er kann mich nicht sehen. Ich finde es gut, dass du dich endlich entschieden hast, du musst nur springen um dein endloses Leben in meinem Dienst zu beginnen.“ Entschlossen trat ich auf die Kante und ließ mich fallen.
Entsetzt starrte ich ihr hinterher, als sie tatsächlich sprang. Der Weg die Treppen hinunter verschwamm vor meinen Augen. Sie hatte es tatsächlich getan, sie war tatsächlich gefallen, wie ein Engel ohne Flügel.
Als ich sie dann endlich erreichte, hatte sich auf dem Pflaster unter ihr bereits eine Blutlache gebildet. Hinter mir kamen andere Leute aus dem Gebäude und blieben in einiger Entfernung stehen. Bald ertönten Sirenen, die einen Notarzt ankündigten. Ich kniete mich neben sie und strich ihr eine Strähne aus dem schönen Gesicht. Ihr letzter Gedanke kam auf mich zugeflogen und setzte sich in meinem Kopf fest, schlug dort Wurzeln und nährte sich von dem Entsetzten dass er in mir auslöste. Menschen zogen mich von ihr weg, untersuchten sie und stellten ihren Tod fest. Ärzte, die nichts mehr ausrichten konnten. In mir ertönte der Gedanke wieder und wieder.
Der Tod, ich habe ihn geträumt, er war nur eine Halluzination, ich will nicht wirklich sterben.
Die Menschen liefen geschäftig um mich herum. „Wer war die Tote und der Mann, den wir an ihrer Seite gefunden haben?“ Eine Frau antwortete: „Beide Patienten aus unserer psychiatrischen Station, aus dem Jungen werden sie nichts Brauchbares herausbekommen. Wir werden versuchen, mit den Kameras den Unfallhergang zu rekonstruieren.“
Als ich das hörte, ging ich zurück ins Haus, die Stufen hinauf bis aufs Dach. Als ich an der Kante nach rechts sah, stand da ein junger Mann. Rote Augen, schwarze Haare und ein gleichfarbiges Kapuzengewand. Ich wusste, es war der Tod. Er lächelte mich an und öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen: „Lars, hör mir zu…“