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Verräter
"Du weißt, dass nur einer von uns beiden diese Dächer verlassen wird, oder?"
"Du könntest einfach nach Hause gehen."
"Würdest du an meiner Stelle einfach nach Hause gehen?"
"Vermutlich nicht."
"Dann wird nur einer von uns beiden diese Dächer verlassen."
Wie es dazu kam, dass Bernie und ich hier liegen?
Nun, das ist schnell erzählt.
Irgendwann hat der Boss einen seiner besten Scharfschützen in sein Büro bestellt. Das Ziel war ein Mann namens Paul, der Geld für Die Andere Seite in die Stadt schmuggelte. Der Scharfschütze nickte.
Und dann hat der Boss seinen anderen besten Scharfschützen in sein Büro bestellt. Das Ziel war ein Überläufer, der heimlich für Die Andere Seite arbeitete. Der zweite Scharfschütze nickte.
Und jetzt liegen Bernie und ich auf zwei gegenüberliegenden Dächern über den Straßen der Stadt und mein Hintern juckt. Ich kann ihn nicht kratzen, denn meine Hände klammern sich an das Gewehr und versuchen, es still zu halten. Als wäre es eine Konstante im Universum. Wenn die Welt sich weiter drehen will, soll sie sich verdammt nochmal um das Gewehr herum bewegen.
Ich presse mein rechtes Auge an das Zielfernrohr und fokussiere die andere Straßenseite, fokussiere meinen besten Freund, der in exakt der gleichen Haltung auf seinem Dach liegt, sein Auge vermutlich ähnlich stark an das Zielfernrohr seiner Waffe presst und es seinerseits auf seinen besten Freund richtet.
Neben mir liegt mein Handy, auf der anderen Seite der Verbindung Bernie.
Das ist alles, was es darüber zu wissen gibt.
"Dein Job ist eine Falle."
"Hat der Boss dir das gesagt?"
"Es gibt keinen Paul. Er wollte dich auf dieses Dach locken, damit ich ... naja."
"Damit du das Problem lösen kannst?"
"Ja."
"Das können wir am besten. Probleme lösen."
"Ja."
"So, wie ich das sehe, habe ich nur eine Chance, hier lebend rauszukommen."
"Du musst dein Problem lösen."
"Ja."
Und darum wird nur einer von uns beiden lebend diese Dächer verlassen.
Unten auf der Straße stolpert ein Mann in die Rahmenhandlung. Er hat die Stufe vor der Tür übersehen. Wenig später verlässt er das Geschäft mit einem kleinen Karton unter dem Arm.
"Was meinst du?", fragt Bernie. "30 mal 40?"
"Sieht nach 30 mal 50 aus, wenn du mich fragst."
"Du warst nie gut im Schätzen."
"Kommt jetzt wieder die Nummer mit dem Russen?"
"Was wäre, wenn jetzt die Nummer mit dem Russen kommt?"
"Notfalls schieße ich." Beinahe muss ich grinsen. "Du weißt, dass ich dich im Visier habe, oder?"
Der Russe war ein aus Polen stammender Tscheche gewesen, der zur Tarnung Rumänisch mit ukrainischem Akzent gesprochen hatte. Irgendwann hatte er zuviel gesprochen, so dass der Boss ihn auf die ungemütliche Seite eines Gewehrschusses platzierte. An der vergleichsweise gemütlicheren Seite hab ich gelegen. Mein erster Job.
Damals hatte ich die Entfernung falsch eingeschätzt und mit meiner Kugel nur die Mütze des Russen gestreift. Wäre Bernie nicht als Backup dabei gewesen und hätte im richtigen Moment gehandelt, hätte das Ganze übel enden können. Hält er mir bis heute vor.
"Damals hast du einfach Scheiße gebaut."
"Als wenn bei dir immer alles glatt gelaufen wäre."
"Jetzt fang nicht mit Herrn Krause an."
"Eigentlich wollte ich ... Aber, ja. Herr Krause zum Beispiel. Der könnte heute immer noch leben."
"Solche Dinge passieren. Berufsrisiko."
"Ja, vielleicht. Trotzdem ist das 30 mal 50."
Der Mann auf der Straße verstaut das Päckchen in einer Plastiktüte und begibt sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Ich überlege, was für ein Bild wohl irgendwann in diesem Rahmen landen wird. Ein Hochzeitsfoto? Die Kinder beim Spielen mit dem Hund? Oder einfach nur ein Schnappschuss vom letzten Urlaub auf dieser Mittelmeerinsel, deren Namen er nicht aussprechen kann?
Wie es wohl wäre, ein normales Leben zu führen. Ohne diesen ganzen Scheiß. Ohne das ganze Blut. Ohne die Notwendigkeit, seinen besten Freund zu erschießen, bevor der auf die gleiche Idee kommt.
Der Mann tritt in eine Pfütze und flucht lautstark.
"So ein Trottel."
"Ist dir sowas noch nie passiert?"
"Ich passe auf, was ich tue."
"Bist du darum übergelaufen?"
"Wer sagt, dass ich übergelaufen bin?"
"Der Boss. Und der Boss hat Recht. Regel Nummer eins."
"Ja, ich weiß. Vielleicht ist das genau der Grund. Vielleicht habe ich keine Lust mehr, jemanden für mich denken zu lassen."
"Glaubst du, ich mache das?"
"Würdest du hier liegen, wenn der Boss es dir nicht gesagt hätte?"
"Würdest du hier liegen, wenn der Boss es dir nicht gesagt hätte?"
"Ich bin wegen Paul hier. Das ist was anderes. Es ist nur ein Job."
"Wer sagt, dass es für mich nicht auch ein Job ist?"
"Wie lange sind wir nun Freunde?"
Wenig später schließt der Verkäufer die Rahmenhandlung, denn es ist spät geworden.
Ich höre, wie die Tür ins Schloss fällt. Er tritt auf die Straße und wäre um ein Haar von einem Wagen erfasst worden, kann aber im letzten Moment beiseite springen. Ein Leben beendet, einfach so.
Stattdessen geht er über die Straße, setzt sich in sein Auto und fährt davon. In den Feierabend, heim zu Frau und Kindern.
Bernie und ich sind alleine.
"Weißt du, was ich mich immer gefragt habe?"
"Nein, weiß ich nicht", sage ich.
"Hast du damals beim Russen absichtlich daneben geschossen oder hast du dich wirklich vertan?"
"Du meinst, ob ich feige war, oder dumm?"
"Vermutlich, ja."
"Ich würde niemals absichtlich daneben schießen."
"Jetzt wäre ein gute Zeitpunkt, damit anzufangen."
"Ich schätze, wir werden es gleich herausfinden."
Die Sonne verschwindet zwischen den Häuserdächern. Es wird langsam schwer, Bernie in meinem Zielfernrohr zu erkennen.
"Das Licht wird knapp."
"Ja."
"Und mein Hintern juckt."
"Okay."
"Ich fürchte, wir müssen es langsam zu Ende bringen."
"Bringen wir es zu Ende."
"Auf Drei?"
"Sei nicht albern."
Zwei Menschen halten den Atem an. Zwei Augen fokussieren ihr Ziel. Zwei Finger bewegen sich beinahe zeitgleich über zwei Abzüge.
Ein Schuss hallt durch die Luft.