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Vernissage
„Lass uns hingehen!“, nervte die Dicke.
„Nein.“
„Aber warum nicht? Bitte, Anica – bitte!“
„Rosa, hör auf!“
„Aber … - Anica, ich brauche diese Vernissage.“
„Und wozu?“
„Das habe ich dir längst erzählt. Der Künstler ist Hoppes Sohn. Professor Hoppe, verstehst du nicht?“
„Mmh“, murmelte Anica. Dann riss sie mit einem „Fuck!“ das oberste Blatt von ihrem Skizzenblock, seufzte und setzte ihre Arbeit auf der noch jungfräulichen nächsten Seite fort.
„Anica?“
„Mmh.“
„Ich sag dir was, Süße: Du allein hast mich in dieses Scheiß Studium getrieben. Stände ich nicht unter deiner Fuchtel … Herrgott, ich würde als Drummerin durch Amerika touren, jede Menge Spaß haben und …“
„… schon bald in der Gosse liegen.“
„Du forderst doch immer eine Verbesserung meiner Leistungen.“
„Und was hat das mit dem Professor zu tun?“
Mit einem Mal begriff sie. „Himmel, Rosa? - Du würdest ihn doch nicht etwa…?“
„Schau mich an, Süße. Dieser Körper ist eine Waffe.“
„Dieser Körper ist vor allem dick“, entgegnete Anica - und bereute es sofort. Nicht Rosas Gefühlen wegen – die Dicke konnte das ab. Was sie ärgerte, war ihre offensichtliche Fehleinschätzung. Denn Rosa, mit ihren blonden Kriemhildzöpfen und den riesigen blauen Augen - sah unwiderstehlich aus. Mehr als das, sie war begehrenswert, den hungrigen Studenten ein üppiges Mahl. Ein einziges Schnuppern genügte - sie rieben ihre Nasen an ihrer Pfirsichhaut und verfielen ihr.
Was hatte sie selbst da entgegenzusetzen?
Zur Hölle, sie war ein Hungerhaken und nur der Louis-Brooks-Haarschnitt ihrer tiefschwarzen Haare hielt die Kerle davon ab, sie für einen Jungen zu halten.
Dabei vögelten sie sie.
Taten es vermutlich aus Rache - weil sie ihnen unendlich überlegen war, sie in jeder Diskussion auflaufen ließ und noch nachtrat. Sie war eine schlechte Gewinnerin – also benutzten sie ihren zerbrechlichen Körper, glaubten, sie damit von ihrem Sockel zu stürzen.
Okay, das war nur einer der beiden Gründe. Der andere war Scheiße, richtig Scheiße: Es waren die Geräusche, die sie dabei machte, ihre ekstatischen Ausraster. Sie sprachen sich herum und wurden verdammt noch mal schon langsam zur Legende. Dabei hatte sie immer wieder versucht, normalen Sex zu betreiben. Vergeblich, sie konnte es nicht; tobte dabei und kratzte, verbiss sich in ihre Hälse und Ärsche.
Anfangs gefiel es ihnen. Sobald sie aber kamen, schrien sie auf vor Schmerz. Sahen sie komisch an, erfanden jämmerliche Ausreden und flohen in die Nacht.
Bei Rosa blieben sie liegen. Frühstückten mit ihr, schmatzten Toast mit Marmelade. Die Dicke drückte sie wie Babys an ihre Brust - und die Idioten verfielen ihr.
„Es ist die Galerie ‚Polke“, quengelte Rosa. „Extrem angesagt, der Schuppen.“
„Und wenn es das MOMA wäre“, nuschelte Anica. Betrachtete abschätzig die Skizze in ihrer Hand – dann zog sie den Bleistift quer über das Blatt und riss es ab. „Wir haben keine Zeit für so was. Wir haben zu tun.“
„Ach Scheiße. Seit Wochen sperrst du mich in diese muffige Bude!“
„Muffig? Wonach muffelt es denn?“
„Nach Lehrbüchern. Und deiner Ignoranz“, fauchte Rosa - und sprang unversehens, katzengleich, auf ihr gemeinsames Bett. Kam über sie mit ihren neunzig Kilo Enthusiasmus - Anica zuckte zusammen und versuchte sich, eine Sekunde zu spät, zur Seite zu rollen.
„Ich brauche diesen Professor, sonst kann ich einpacken“, keuchte die Dicke und packte ihre dünnen Gelenke. Kriemhild-Rosa, begriff Anica, würde ihr die Ärmchen brechen, das Bett zerschlagen und die Vorhänge herunterreißen bei einer Absage.
„Im Übrigen glaube ich“, fuhr Rosa fort, „dass wir bei dieser Sache einen mordsmäßigen Spaß haben werden!“
„Die – ser Sa - che?“ keuchte Anica. Wand sich und schlüpfte geschickt unter ihrer schwitzenden Freundin hervor. „Spaß? - Was hast du vor?“
Rosa griente. Legte ihr die Arme um die Schulter, beugte sich vor und begann, ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Berührte ihre Ohrmuschel dabei und roch nach wildem Honig.
Anica hörte stirnrunzelnd zu. Schließlich - ob sie es wollte oder nicht - kamen ihr die Tränen vor Lachen.
„Also gut“, sprudelte sie und Rosa quiekte auf wie ein kleines Schweinchen.
Wie Heuschrecken sprangen sie das Treppenhaus hinunter.
„Wieso kostet meines dasselbe? Es hat nur die halbe Menge Stoff!“, nervte Anica die Verkäuferin eines Kiezgeschäfts und handelte zwei kurze, schwarze Abendkleider auf einen Ramschpreis herunter, bevor sie den sündhaft teuren Lippenstift aus der Auslage stahl.
Zwei Stunden später standen sie, durstigen Vampiren gleich, an der Bar. Berührten sich wie zufällig, strichen sich über die bloßen Arme und formten ihre Münder zu bedeutungsvollen O’s und A’s. Die Männer - ob in Begleitung oder ohne - glotzten sehnsüchtig; zerrten an den Seilen wie der an seinen Mast gefesselte Odysseus beim Anblick der homerischen Sirenen.
Sie gingen zur Toilette. Klauten in perfekter Symbiose - Nicken, Ablenken, Zugreifen - einer Tussi das Parfüm. Dieselten sich ein und schwärzten die Augenränder.
Dann staksten sie ein wenig herum.
Dockten an die Führung des Künstlers an und folgten seinen Erläuterungen.
Die Fotografien waren grässlich.
Eine mit Kunstblut beschmierte, nackte Japanerin.
Eine auf einem Pferd reitende, nackte Japanerin.
Eine schmerzhaft verrenkte, nackte Japanerin.
Die anorektische Asiatin blickte mit ihren Mangaaugen erschrocken in die Kamera – der Professorensohn erzählte etwas von fragiler Leichtigkeit.
„Wohl klar, mit fünfunddreißig Kilo“, ätzte Anica, laut genug für alle.
„Oh, sie verstehen nicht“, wehrte sich der Künstler. „Es handelt sich hier um artifizielle Weiblichkeit.“
„Eher ausgemergelte Morbidität!“, schimpfte sie. „Hervortretende Knochen und Gelenke. Kalziummangel, Krämpfe, Konzentrationslager!“
„Jetzt halt deinen Mund!“, zischte Rosa und zog sie aus dem Brennpunkt. „Wir haben eine Strategie, schon vergessen?“
„Diese Sammlung ordinärer Fantasien hat mit Kunst so viel zu tun wie eine Amöbe mit Quantenphysik!“, rechtfertigte sich Anica.
Rosa zwinkerte ihr zu: „Zeit, Farbe in den Abend zu bringen!“
Sie schoben ihre Dekolletés angriffslustig nach vorn. Mengten sich unter die intellektuellen Grüppchen. Selbstverstümmelung als Kunstform und der ästhetische Anspruch von Balkanerotik: darum drehten sich die Gespräche.
Anica warf beiläufig ein, wie sehr sie sich auf das „Projekt“ freue.
„Lange kann es ja nicht mehr dauern“, flötete sie selbstvergessen. „Ich spüre schon eine gewisse Übelkeit.“
„Welches Projekt?“
Rosa übernahm. Scherte wild mit den Händen durch die Luft, während sie berichtete: Der Künstler habe Brech- und Abführmittel in die Häppchen gespritzt, das „Projekt“ sei ein gemeinsames Kotzen und Kacken, welches spätestens zu Mitternacht seinen Höhepunkt erreichen und in Schwarzweiß festgehalten würde. Der Lichtbildner verspreche sich aus den totenbleichen Gesichtern der Damen und den in den Ecken hockenden Herren mit heruntergelassenen Hosen eine neue Serie, womöglich den Höhepunkt seines Schaffens! „Die Toiletten werden natürlich abgeschlossen!“ - damit beendete sie ihren Vortrag.
Das Buffet leerte sich zusehends, schließlich auch die Vernissage. Der Kreis um den Künstler wurde kleiner und schließlich gehörten die Sirenen zu seinen letzten Gästen. Anica nahm Hoppes Frau ins Schlepptau, zog sie wie eine alte Bekannte zum Buffet und fragte sie bei mehreren Gläsern nach ihren neuesten Charityprojekten aus.
Auftritt Rosa!
Sie befeuchtete ihre blutigroten Lippen und tanzte, den barocken Hintern schwingend, dem Professor entgegen.
Welch ein Zufall! Ob er sie nicht kenne, keine seiner Vorlesungen hätte sie jemals verpasst … Da gäbe es leider ein Problem mit ihren Noten - nur eine mündliche Prüfung könne sie jetzt noch retten.
EINE MÜNDLICHE PRÜFUNG!
Rosa kam ihm sehr nah. Verströmte Pheromone, legte ihre feuchten Hände auf seine Schultern, streifte den Stöckelschuh ab und drückte ihr riesiges Bein zwischen seine Schenkel. Ihre Hand fuhr hinab und … ertastete Begeisterung!
Jetzt bloß keine halben Sachen. Der Lehrer landete mit offener Hose in einem Vorbereitungsraum und die Win-win Situation nahm ihren Lauf.
Mit Anica rauchte sie die Zigarette danach. Sie saßen schon wieder auf ihrem gemeinsamen Fensterbrett über den Dächern und Schornsteinen der Stadt.
„Ich werde fortgehen“, flüsterte Rosa und schnippte ihre Kippe in die Nacht. Anica sah dem abwärts trudelnden, rotglühenden Punkt nach. Ihre Unterlippe bebte.
„Wie könnten wir uns jemals trennen?“, brach sie endlich hervor. „Wir können uns nicht trennen, Rosa. Es wäre eine Amputation. Wir würden unsere Herzen brechen, wozu soll das gut sein, mmh? Um erwachsen zu werden? Warum sollten wir? Warum einen Samenspender heiraten, warum einen Winzling großziehen? Um ihn vom ersten Tag an in ein Schema zu pressen; ihn zu vergewaltigen, zu einer Kopie unser selbst? Warum arbeiten und tanzen und wieder arbeiten ein Leben lang? Ach Scheiße Rosa - ich bin so müde, ich will das alles nicht.“
„Aber ich will. Will eine lockige, lachende Tochter kriegen; keine Kopie, sondern einen einzigartigen Mensch. Will eine Band gründen und Schlagzeug spielen bis den Leuten die Ohren abfallen. Will ihren Applaus, Anica. Mein Leben wird … okay sein, vielleicht nicht besonders lang, aber okay.“
Anica zündete sich eine neue Zigarette an. Zog daran, so heftig wie ein hungriges Baby an seiner Flasche.
„Und wann?“, fragte sie.
„Irgendwann. Ich werde einfach weg sein – und dir eine Karte schicken aus den Staaten.“
„Vielleicht gehe ich ja vorher. Bekomme einen Job im MOMA.“
„Als Klofrau?“
„Ich werde auf jedes deiner Konzerte gehen und dich gnadenlos auspfeifen.“
Rosa lächelte. Dann drückte sie ihrer Freundin einen Kuss auf den Mund - nicht den üblichen Gutenacht-, sondern einen langen, weichen Rosa-Kuss. Und spürte erschrocken Anicas Vibrieren - den ganzen mageren Körper ihrer Freundin in einem stummen Weinkrampf.
„Scheiße … Du springst jetzt aber nicht aus dem Fenster, oder?“
„Wegen dir doch nicht.“
„Na dann ist es ja gut. Komm mit ins Bett, Süße. Lass uns kuscheln.“
„Mmh“, murmelte Anica und schnippte ihre Zigarette weg.
„Kuscheln klingt gut.“