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Vernarrte, späte Jugend

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25.01.2002
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Vernarrte, späte Jugend

vernarrte, späte Jugend

Ich fahre die Strasse entlang, als ob sie unendlich wäre, denke nicht an "links vor rechts", oder daran, dass ich irgendwo abbiegen müsste. Die Geschwindigkeit und die eisige Kälte bringen meine Augen zum Tränen, die Jacke fliegt. Ich habe sie nicht geschlossen, um abzukühlen, um den Wind meine Gedanken wegtragen zu lassen. Sogar das Abschliessen des Velos lasse ich sein als ich an der Wohnung ankomme; so sehr drängt es mich danach mit mir und meiner Trauer alleine zu sein. Schon beim Hinauflaufen in den dritten Stock muss ich mir eingestehen, dass die Tränen nicht ausschliesslich vom Fahrtwind hervorgerufen werden. Hastig öffne ich die Wohnungstür, dränge mich in den engen Flur, werfe die Tür zu und lasse mich auf das Sofa fallen. Meinen Körper fühle ich fast nicht mehr. Es ist als stünde ich unter Drogen. Ich liege da und starre an die Wand. Die Photos die dort von meinem Freund hängen nehme ich nicht mehr wahr. Alles ist wie durch einen Schleier - unwirklich, unwahr.
Ich sehe sein Gesicht noch vor mir. Wenn er die Binden um den Kopf hatte sah er aus als würde er lediglich schlafen. Das Licht in seinem Raum war stets gedimmt, doch seine halb geöffneten hellen Augen strahlten noch. Die Creme mit der ich seine Augen täglich behandelte, um sie vor dem Austrocknen zu schützen, glänzte auf seinen langen Wimpern wie Wassertropfen. Selten habe ich jemanden mit einem schöneren, ebenmässigerem Gesicht gesehen. Bis zu den Achseln bedeckte seinen nackten Oberkörper ein weisses Leintuch.
Zwei Wochen lang sass ich täglich acht Stunden neben seinem Bett, nie entfernte ich mich weiter als fünf Meter. Die meiste Zeit dachte ich darüber nach wie er wohl gelebt haben muss. Beim Mountainbiken stürzte er einen Abhang hinunter und zertrümmerte sich dabei die gesamte Schädeldecke. Ich wusste von Anfang an, dass seine Überlebenschancen gleich Null waren, aber irgendetwas brachte mich dazu mich auf ihn einzulassen. Jahrelang hatte ich es geschafft zu keinem Patienten persönliche Gefühle aufzubauen. Ich hatte Kollegen gesehen die an ihrem Mitgefühl psychisch zu Grunde gingen und dachte, mir würde das nie passieren, ich wäre dagegen gefeit.
Ich weiss nicht welcher Teufel mich geritten hatte immer wieder meine Lektüre beiseite zu legen und ihn stundenlang anzusehen. Die Tätowierung auf seiner linken Schulter könnte ich im Schlaf nachzeichnen. Seit einigen Tagen habe ich ein schlechtes Gefühl wenn mein Lebensgefährte mich umarmt. Ich fühle mich als würde ich ihn betrügen. Betrügen ohne jegliche aktive Handlung, lediglich mit den Gefühlen zu diesem jungen Mann. Seit zwei Wochen hatten wir keinen Sex mehr, immer wieder erfand ich Ausreden, und er glaubt mir weil er mich liebt.
Wenn ich an dem Bett sass und ihn ansah stellte ich alles in Frage. Ob ich meinen Freund noch liebte, er der so seriös und einfach war. Oder ob ich nicht schon lange jemanden suchte, der die Spannung und das Abenteuer lebte. Jemanden, mit einer tätowierten Schulter, der Abhänge hinunter raste.
Wieder sehe ich sein Gesicht vor mir, dieses Gesicht vor dem ich so viel Respekt hatte dass ich bei der Pflege Angst hatte es zu berühren. Nie war ich so zärtlich, so behutsam mit jemandem umgegangen. Ich will es nicht wahr haben aber irgendwie scheint es Wirklichkeit geworden zu sein, ein Gefühl von Liebe regt sich in mir.

Dann dieser Tag heute, der alles aus den Fugen geraten lässt.
Ich war in den Umkleideraum gegangen, hatte mir die weisse Hose und das Hemd angelegt. Ich ging zum Stationsbüro um den Rapport der Pflegerin die vor mir Dienst hatte abzunehmen. Als ich ins Zimmer kam sah sie mich warm an und hauchte leise "Guten Morgen, der Patient aus Raum 6 ist heute Nacht gestorben, es tut mir leid!" Jeglicher Sauerstoff, der in meiner Lunge war entwich, ich sackte innerlich zusammen. Ich fühlte Übelkeit und den Puls in meinen Armen. Eigentlich waren sterbende Menschen für mich die Regel, noch nie war es so schlimm. Nach einer halben Stunde verliess ich aufgrund einer angeblichen Grippe das Klinikum.

Vier Tage später - an einem meiner freien Tage - ist die Beerdigung. Ich habe lange gezögert ob ich hingehen sollte. Doch als die letzte Ehrerweisung scheint es mir richtig. Ich möchte ihm noch einmal nahe sein. Auch seine Familie und Verwandten, die auf die Station keinen Zugang hatten, interessieren mich, ob meine Vorstellungen von ihnen richtig waren.
Es nieselt leicht und ich halte mich im Hintergrund. Ich bin aufgeregt, wie vor einem ersten Rendezvous oder beim Warten auf eine wichtige Antwort, die auch einen Korb beinhalten könnte. Alle sind schwarz oder dunkelblau gekleidet. Manche tragen Sonnenbrillen, irgendwie seltsam bei dem Regen. Dann erblicke ich den Sarg. Er liegt auf einem Wagen den zwei Friedhofsangestellte zwischen anderen Gräbern ziehen. Dahinter gehen die Eltern mit einer jungen Frau, sie trägt einen Strauss rote Rosen. Da er keine Geschwister hatte muss es sich um seine Freundin handeln. Sie ist schön, mit den langen blonden Haaren, strahlend, das Leben noch vor sich liegend. Etwas in mir erleichterte sich. Mit meinem schon silbrigen 3-Tage-Bart hätte ich im wirklichen Leben nie eine Chance gehabt, so hatte ich ihn wenigstens zwei Wochen lang für mich.

Poetna, März 03

 

Hallo Poetna!

:eek: Eine unglaubliche Geschichte! Bei dem Ende wär ich fast vom Stuhl gekippt - Wahnsinn! :huldig:
Ich habe mir - und ich nehme an, das war auch deine Absicht - die ganze Zeit eine junge Frau vorgestellt. Was für ein Irrtum!
Der Anfang liest sich etwas zäh, aber der Schluss lohnt sich. Tolle Geschichte! :thumbsup:

Mfg
xka

 

hi!
super geschichte! dass der pfleger ein mann ist, hätte ich auch nicht gedacht!
nur etwas kleines: die creme?? für die augen, die sie ihm auftragen, damit diese nicht austrocknen! ich nehme an du meinst die haut um die augen herum. sonst müsste es sich nämlich, soweit ich weiss, um tropfen handeln!
aber ansonsten wirklich super
mfg onida

 

sali,
hab mich nochmal bei den kennern erkundigt,es werden sowohl creme als auch gel oder tropfen verwendet. danke fürs lob, macht mut.

mfg
poetna

 

ciao existence,

mit den verbesserungen scharfes s - ss hast du prinzipiell natürlich recht, aber leider gibt es auf schweizer tastaturen kein scharfes s, es existiert in unserer eidgenossenschaft praktisch überhaupt nicht. trotzdem schön dass dir die story gefallen hat.

liebs gruessli

poetna

 

Hallo Poetna,

du hast die Geschichte gut geschrieben, so damm man die Figuren gut miterleben kann. Mit dem Ende ist dir wirklich eine Überraschung gelungen, auch wenn ich beim zweiten Lesen deine zahlriechen Hinweise auf diese Pointe entdeckt habe. Das hast du prima gelöst.
Eine Kleinigkeit habe ich aber zu meckern.

Jemanden der mit einer tätowierten Schulter Abhänge hinunter raste.
Hier fährt dein Prot anstelle des Fahrrades mit einer tätowierten Schulter. Das schafft glaube ich keiner.
Natürlich wissen alle, was du meinst, aber geschrieben hast du in dieser grammatischen Konstellation etwas anderes. ;)

Lieben Gruß, sim

 

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