Verlust
„Kommst du, Gerralt?“ „Ja ich komme!“ Die Fliege saß wie angegossen, der Anzug war nahezu maßgeschneidert, jedenfalls sah er so aus. Er huschte die Treppe runter. Währenddessen ertönte aus dem Radio, welches seinen Ton durch die sonnengeflutete Küche verbreitete: „Guten Morgen alle miteinander, einen weiteren Samstag dürfen wir genießen, mit einem fantastischen Wetter und noch besserer Stimmung. Aber als nächstes kurz noch die Wettervorhersage, ach was rede ich denn da? Es bleibt natürlich sonnig und das bringt denke ich nicht nur mich zum Lachen. So Freunde, jetzt erstmal etwas Musik und später dann ein wenig Smalltalk, bis dann!“
Der Radiosprecher, komischer selbstverliebter Typ , aber er machte Stimmung. „Gerralt, wo bist du d…?“ Er rannte in sie hinein, als sie ihn gerade fragen wollte. „Hier.“ Sie küssten sich! Es war kein normaler Kuss! Dieser Kuss war voller Emotionen und Erfahrung, voller Leid und Glück, voller Streit und Friede. Dieser Kuss war perfekt. Wie ein Blitz durch beide Körper, durch jegliche Nervenbahnen. Ihre Lippen lösten sich langsam voneinander und sie guckten sich in die Augen. Stille! Es musste nichts gesagt werden, jedes Wort hätte den Moment zerstört. Ihre eine Hand auf seinem Herz, die anderen in seiner Hand. Seine eine Hand an ihrem Rücken, die eine in ihrer. Perfektion beschreibt diese Situation nicht annährend gut genug. In ihren Augen spiegelten sich die letzten Jahre, in denen sie sich gestritten, geliebt, gehasst, verführt, getröstet, verletzt, gekümmert, gesorgt, vertraut, misstraut haben. All diese Dinge in diesem Moment vereint.
Die Blumen waren mit ihrem Gewicht aus seinen Händen gefallen und rissen ihn wieder in die Wirklichkeit. Monoton hob er sie auf. Die Bewegung tat ihm nicht weg, sie war auch nicht unangenehm für ihn, aber er ließ sich Zeit. Er brauchte sie, er fühlte sich immer noch nicht willkommen an diesem Ort, obwohl er an Schönheit schwer zu übertreffen war. Er ging weiter mit schweren Beinen und schwerer Atmung. Sein Blick wanderte von Name zu Name und somit wanderten seine Gedanken mit. Der Schotterweg unter seinen Füßen machte jedes Mal ein Geräusch bei einem seiner Schritte. Dieses Geräusch, nerventötend, quälend, unangebracht. Wie ein ironisches Kommentar bei jedem seiner Schritte. Er kannte den Weg, er kannte das Geräusch, aber gewöhnen wird er sich nie daran. Es war nicht mehr weit, nur noch zwei Ecken, dann war er da. Jeder Schritt wurde schwerer, jedes Geräusch penetranter, jeder Funken von Mut schwand. Jedes Mal, jedes gottverdammte Mal stand er hier und traute sich kaum. Die Tränen kamen, er fühlte es, er konnte es nicht, er konnte es schon wieder nicht. Versager! Jeden Tag steht er hier und es geht nicht weiter. Die erste Träne rollte über sein vom Leben gezeichnetes Gesicht. Das Luftholen wurde schwer, das schluchzen begann. Sein Gesicht versank in seiner einen Hand. Die Blumen fest umklammert. Es waren Frauenspiegel, die er seitdem pflanzt. Er stand da, bewegte sich nicht, sein Körper war Lehm, sein Herz war Stein, er selbst war kaputt.
„Na, komm schon, sie warten doch schon alle auf uns!“ „Ich bin doch schon soweit!“ Ein klassischer Pärchenausflug mit dem Fahrrad mit anschließendem Grillen. Sie trug einen roten Hut. Das machte sie nur, wenn sie glücklich war. Sie saß schon halb auf dem Fahrrad und wollte losfahren. Er suchte noch die letzten Komponenten für den Korb. Er hatte sie, sie konnten los. Mit Schwung preschte er nach vorne, sie hatte kleine Schwierigkeiten. Sie verließen ihr Grundstück durch eine kleine Pforte im Zaun. Ihr Haus sah malerisch aus, klein aber fein, mit so viel Liebe gestaltet und gebaut. Man merkte, dass die Seelen beider in diesem Haus vereint war. Sie düsten die Straße entlang, ihre Haare wehten im Wind, goldbraune Haare, fast so schön wie das Licht selbst. „Uh da vorne kommt der Hügel, bist du bereit?“ Sie liebte den Hügel, jedes Mal wenn wir in die Stadt fuhren, genoss sie es mit voller Wucht herunter zu fahren und jetzt nachdem er ihre Bremse repariert hatte…..
Nun erinnerte er sich nur noch an das letzte Lächeln, welches sie ihm zu warf, als sie das letzte Mal über ihre Schulter guckte. Zu ihm. Und ihn ein letztes Mal direkt in sein Herz traf.
Sie ging, aber der Schmerz blieb. Immer noch hatte er diese Last auf seiner Brust, immer noch spürte er den Stich. Der Tag an dem er aufhörte mit ihr zu existieren. Er stand noch immer da, bekam es einfach nicht hin. Als sei er gefesselt. Die Schuhe, Tonnen. Die Blumen, Gewichte. Ein Fuß ging tatsächlich nach vorne und berührte den Schotter mit jenem ironischen Kommentar. Der nächste Schritt! Die Tränen waren da, die Monotonie war da, aber die Bewegung ging weiter. Die Schritte kosteten ihm Kraft, jeder einzelne, jeder war eigentlich einer zu viel. Es ging weiter, immer weiter und weiter. Der Wind spielte weiter, die Sonne strahlte weiter, während er weiterging. Und dann stand er da! Kein roter Hut, kein herztreffendes Lächeln, kein perfekter Kuss….nur Marmor. Er ließ die Blumen fallen.
„Es tut mir leid!“