Verlorenes Glück
"Was hältst du von der da drüben ?", fragte Martin.
Andreas ließ seinen Blick über die vollbesetzten Tische zur Bar gleiten, an der sie stand. "Sieht gut aus", antwortete er.
"Gut aus ?" Martin hob die Augenbrauen. "Sie ist wunderbar, ihr Haar, ihr Gesicht und ihre Augen, hast du die gesehen ?"
"Es gibt viele Frauen, die braune Augen haben."
Ihn interessierte vielmehr ihre Figur, die wirklich nicht übel war.
"Du erkennst die schönen Dinge des Lebens nicht mal, wenn sie dir vor der Nase baumeln", sagte Martin.
Andreas runzelte die Stirn. Er konnte es nicht leiden von seinem Freund belehrt zu werden. Martin war ein Romantiker, ein Träumer und hatte nicht viel Ahnung vom wirklichen Leben. "Okay, sie ist bezaubernd. Bist du jetzt zufrieden ?" Er nahm einen Schluck Desperados.
Martin sah ihn an. "Sie schaut schon die ganze Zeit zu dir rüber."
Seine Stimme klang ironisch. Er war auf jede eifersüchtig, die sich für ihn interessierte.
Andreas stellte sein Glas auf den Tisch. "Geh doch hin, wenn sie dir so gut gefällt."
Martin zuckte die Achseln. "Was hab ich zu verlieren ?"
Er stand auf und steuerte in Richtung seiner Angebeteten.
Eher gelangweilt sah Andreas zu, wie er versuchte mit ihr ins Gespräch zu kommen. Manchmal tat er ihm leid. Die einfachsten Dinge bereiteten ihm die größten Schwierigkeiten. Er sah wie sie Martin freundlich zuhörte und seinen spendierten Drink genoss.
Ab und zu warf sie ihm einen Blick über seine Schulter zu.
Plötzlich hatte er keine Lust mehr zu bleiben. Wenn Martin begriff dass sie nichts von ihm wollte würde er sich zusaufen und in Selbstmitleid ertränken.
Er nahm seine Jacke, warf den beiden einen letzten Blick zu und verließ die Kneipe.
Sie stand vor seinem Treppenhaus.
"Hat Martin dir meine Adresse gegeben ?", fragte er und zeigte sich nicht im Mindesten überrascht. "Wer sonst ?", fragte sie zurück.
Andreas fischte den Haustürschlüssel aus der Tasche. "Was hast du mit ihm gemacht ?"
Sie schmunzelte. "Er ist ein netter Kerl."
"Ja, aber mehr auch nicht", las er in ihrem Gesicht. Er überlegte. Er war müde, andererseits weckte sie sein Interesse. "Magst du mit hochkommen ?"
Sie lächelte und es gefiel ihm.
"Macht du so was öfter ?", fragte er während sie die Treppe hochstiegen.
"Was ?"
"Dich vor die Haustür fremder Leute stellen." Im gleichen Augenblick bereute er seine Worte, doch sie schien nicht gekränkt.
"Es scheint dich nicht zu stören. Aber um genau zu sein, du bist der Erste."
Ein Kribbeln breitete sich in seinem Bauch aus. Er war attraktiv und einiges gewöhnt, aber das überstieg seine Erfahrungen.
"Wie heißt du ?", fragte er und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf.
"Spielt das eine Rolle ?"
Andreas war sprachlos. Was bildete sie sich ein ? Mit ihm ins Bett gehen zu können ohne auch nur das Geringste von sich preiszugeben ?
"Dann mal herein", sagte er deutlich kühler. "Möchtest du was trinken oder dich gleich ausziehen ?" Er wollte sie provozieren, wenn sie ihn schon herausforderte.
Sie lachte, laut und schallend. "Du bist witzig."
"Ach, tatsächlich ?" Er fand sich alles, nur nicht komisch.
Sie warf ihren Mantel über einen Stuhl. Darunter kam das weiße T-Shirt zum Vorschein, das er schon in der Kneipe gesehen hatte.
"Du bist sehr selbstsicher. Dir bedeuten die Menschen nicht viel, hab ich Recht ?"
Zum zweiten Mal verschlug es ihm die Sprache. Sie kannte ihn keine Stunde und tischte ihm auf was er sich nur mit Mühe selbst eingestand.
Er öffnete eine Flasche Sekt und betrachtete sie genauer. Ihr Gesicht war zierlich und hatte weiche Züge. Eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn und auf einmal hatte er ein größeres Verlangen sie wegzustreichen als mit ihr zu schlafen. "Du bist sehr direkt."
Sie lachte. "Oh, ich bin einzigartig, daran wirst du dich gewöhnen müssen."
Andreas schaute sie an. Ihre Augen strahlten Tiefe und eine Menge Lebensfreude aus, gleichzeitig brachte ihr Mund ein Lächeln zustande, bei dem jeder Normalsterbliche dahinfloss. "Gefalle ich dir ?", fragte sie amüsiert.
Sein Blick fiel auf ihren Körper. Sie war mittelgroß und schlank, ihre Hüften und Brüste wohlgeformt.
Er musste lachen. "Oh ja", sagte er, "ja, du gefällst mir."
Sie trat auf seine CD-Sammlung zu. "Für jede Stimmung etwas dabei."
Er antwortete nicht.
"Man erfährt jede Menge über einen Menschen, wenn man seinen Musikgeschmack kennt."
Sie zwinkerte ihm zu.
"Und was sagen dir meine CDs ?", fragte er belustigt.
Sie stellte ihr Sektglas ab und kam auf ihn zu. Er konnte ihre Wärme spüren, die sich mehr und mehr auf ihn übertrug.
"Du bist komplizierter als es scheint", sagte sie. "Hattest du schon mal eine richtige Beziehung ?"
Die Frage irritierte ihn.
Seine Beziehungen waren immer oberflächlich gewesen und es hatte ihm nie viel ausgemacht, wenn sie gescheitert waren. Trotzdem war er nicht glücklich.
"Nein, nein ich glaube nicht."
Er war plötzlich seltsam fasziniert von ihr. Es kam ihm vor als schaute sie auf den Grund seine Seele. Ihre Lebenslust, ihre verspielte Art, verzauberten ihn.
Mit einem Lächeln trat er in ihre Arme.
Er erwachte um halbsieben.
Die Geschehnisse der letzten Nacht kamen ihm in Erinnerung, erfüllten ihn mit einem Prickeln. Er wendete den Kopf. Die Dämmerung hatte eingesetzt und tauchte ihr Gesicht in ein Meer aus Licht und Schatten.
"Guten Morgen", flüsterte er und küsste sie.
Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln und sie murmelte etwas dass er nicht verstand.
Er war plötzlich voller Tatendrang, von einer inneren Freude erfüllt.
Im Nu sprang er aus dem Bett, duschte, zog sich an und verließ die Wohnung.
Die Bäckerei lag ganz in der Nähe und er wunderte sich wie viele Menschen um diese Zeit schon unterwegs waren.
"Was darf es sein ?", forderte ihn die Frau hinter der Theke auf.
"Geben sie mir von allem etwas", sagte er.
Sie stutzte. "Ja, Sie haben richtig gehört", lachte er.
Voll bepackt mit zwei riesigen Brötchentüten trat er auf die Straße hinaus. Er genoss die ersten Sonnenstrahlen. Sie hatte ihm die Augen geöffnet, ein neues Lebensgefühl verschafft. Auf dem Weg traf er auf den Zeitungsjungen.
"Hey, willst du ein Brötchen ?" Der Junge starrte ihn an.
"Nur zu, ich hab mehr als genug."
Der Junge bedankte sich stammelnd und schaute ihm hinterher.
Auf der Treppe nahm er zwei Stufen auf einmal, konnte es kaum erwarten sie zu sehen, ihre Stimme zu hören. Er hatte tausend Fragen, wie sie hieß, wo sie herkam, was sie machte, ob sie ihn liebte. Bei dem Gedanken grinste er. "Oh sie tut es", dachte er, "und wie sie es tut."
Er roch zuerst die Alkoholfahne bevor er Martin entdeckte.
Er saß auf ihr, die Hände um ihren Hals verkrampft und starrte ihn mit glasigen Augen an.
"Sie gehört mir", lallte er, "mir und niemandem sonst. Du Schwein, du hast sie mir weggenommen. Ich hab euch beobachtet.
Aber das wollt ich nicht, hab ich nie gewollt, glaub mir !"
Seine Worte klangen wie ein Schrei, doch sie prallten an Andreas ab wie an einer Stahlmauer.
Er ließ die Tüten fallen, stürzte zum Bett und riss Martin von ihr herunter. Er wehrte sich und schrie, aber Andreas hörte ihn nicht.
Mit voller Wucht schlug er ihm seine Faust ins Gesicht. Martins Nase krachte und er heulte auf. Andreas ließ sich auf die Bettkante sinken.
Sie atmete nicht mehr, er konnte die Würgemale an ihrem Hals erkennen, ihre Augen starr und vor Entsetzen geweitet, jeder Lebensfunke erloschen.
Er fing an zu weinen, hemmungslos, und senkte seinen Kopf auf ihre Brust. Die Tränen rannen sein Gesicht herunter als wäre ein Damm gebrochen.
Dann hörte es so plötzlich auf wie es begonnen hatte.
Martin lag auf dem Boden, versoffen, das Gesicht voller Blut und wie ein Hund winselnd. Eine rasende Wut kroch in ihm empor, auf dieses Stück Dreck, das ihm alles hätte nehmen können, nur nicht sie.
Besinnungslos trat er auf ihn zu, schrie ihn an, schlug ihm ins Gesicht, in den Magen, schleifte ihn auf dem Boden herum.
Er hörte Sirenengeheul, Männer die Treppe heraufstürmen, doch er achtete nur auf dieses Bündel Elend. Als er von den Polizisten weggerissen wurde, schrie er aus Leibeskräften, wand sich unter dem Griff der Männer, doch es nützte nichts.
"Herr Heitmann ?" Ein Mann trat auf ihn zu. Er war stattlich, trug eine Brille und war im Gegensatz zu den anderen Menschen im Raum zivil gekleidet.
"Herr Heitmann, können sie mich hören ?" Andreas nickte.
"Ich bin Kommissar Lohberg", sagte er, "von der Mordkommission. Wir haben Ihnen eine Beruhigungsspritze gegeben. Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen ?"
Wieder nickte Andreas.
"Wir wissen bereits was passiert ist. Können Sie mir den Namen der Toten nennen ?"
Andreas wollte antworten, bis ihm einfiel dass er ihren Namen nicht kannte.
"Nein", sagte er.
"Heißt das, Sie kennen den Namen der Toten nicht ?"
"Nein", wiederholte er.
Der Kommissar sah ihn durchdringend an.
"Herr Heitmann, wir haben die Tote in ihrem Bett gefunden, sie hat die letzte Nacht bei Ihnen verbracht, und sie wollen mir erzählen nicht mal ihren Namen zu kennen ?"
Andreas schüttelte den Kopf. Der Kommissar schaute zu einem Polizisten hinüber, der die Achseln zuckte.
"Wie lange kennen Sie die Frau schon, Herr Heitmann ?"
Andreas starrte auf die gegenüberliegende Wand.
"Seit gestern Abend", antwortete er. Dann brachen wieder die Tränen aus ihm hervor.
"Hat keinen Sinn", hörte er jemand sagen und vernahm die Stimme des Kommissars.
"Sie haben einen Schock erlitten und sollten sich ausruhen. Ich komme später wieder."
An der Tür wandte sich der Kommissar noch einmal um.
"Eins verstehe ich nicht. Sie behaupten diese Frau keine vierundzwanzig Stunden zu kennen, befinden sich aber in einem Zustand als wäre ihre Tochter gestorben."
Als Andreas den Kopf hob, war der Kommissar bereits verschwunden.
Eine Woche war seitdem vergangen.
Andreas spazierte die Außenalster entlang, den Blick auf das Wasser gerichtet.
Es war bewölkt und von Zeit zu Zeit setzte Nieselregen ein, trotzdem sah er einige Segelboote. Der Kommissar war noch am gleichen Tag wiedergekommen und hatte ihm eine endlose Reihe von Fragen gestellt. Martin saß in Untersuchungshaft.
Er hatte ihn übel zugerichtet, aber er spürte kein Mitleid. Die Staatsanwaltschaft hatte ihn wegen Mordes angeklagt, dennoch würde man ihn für zurechnungsunfähig erklären.
Und er selbst ?
Er hatte den Schock überwunden und widmete sich nun den alltäglichen Dingen des Lebens. Manchmal dachte er an sie, so wie in diesem Moment.
Sie hatte ihn erkannt. Sie hatte ihn verändert. Sie hatte ihn geliebt.
Obwohl die Polizei sie identifizieren konnte, ließ er sich ihren Namen nicht nennen.
"Spielt das eine Rolle ?", hörte er sie sagen.
"Nein", dachte er, "es spielt keine Rolle." Und es würde nie eine Rolle spielen.
Er fragte sich ob er jemals wieder jemanden wie sie treffen würde, doch er konnte sich keine Antwort darauf geben.