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Verlorene Stadt
Javier sitzt am Schreibtisch und starrt durch die Gitterstäbe. Die Wachmänner am Haupttor waren eben hier und haben einen weiteren Bus mit acht neuen Insassen angekündigt. Schon wieder acht mehr. Nach vierhundert hätte Schluss sein sollen, so hatte es die Regierung versprochen. Nun vibriert das alte Mauerwerk vom Stimmengewirr der zahllosen Menschen, die hier gefangen sind. Man schätzt sie auf zweitausend. Javier lässt diese Zahl einfach stehen, er weiß es nicht besser. Letzte Woche wollten sie Pablo von einem der Boten rausholen lassen, er hatte seine Zeit abgesessen. Doch sie konnten ihn nicht finden. Die engen Gassen und feuchten Mauern – sie haben ihn einfach geschluckt.
Pablo ist nicht der erste, der verschwunden ist. Anfangs hat Javier das nicht hinnehmen wollen, hat seine Kollegen fassungslos angesehen, wenn sie nur gleichgültig mit den Schultern zuckten. „Da drinnen herrschen andere Regeln, amigo!“, sagten sie mit stumpfen Augen und wandten sich wieder ihrem Papierkram zu.
Javier denkt an seine Frau und Tochter, die zu Hause auf ihn warten. Das Dach ihrer Hütte ist undicht und er braucht Werkzeug. Werkzeug kostet Geld und das verdient er nur, wenn er diesen Job behält.
Das Ächzen des riesigen Eisentores holt Javier zurück. Er zieht an seiner Zigarette, steht auf und streicht die Uniform glatt. Nacheinander werden die Häftlinge hereingeführt. Sein Kollege setzt sieben auf die Bank an der Wand und holt immer einen nach vorne, damit Javier ihn registrieren kann. Das übliche Prozedere – persönliche Daten, Grund und Dauer der Haftstrafe vermerken und Fingerabdrücke nehmen. Dann gnade ihnen Gott.
„Wie heißt du?“ Der Mann steht mit nach vorne gebeugten Schultern und zitternd vor Javier und hebt nur kurz seinen Blick, um zu antworten. „Carlos Maria Gonzales.“
„Warum sind Sie hier, Carlos?“
„Bewaffneter Raubüberfall.“
„Haben Sie irgendwelche Tätowierungen?“
Der Mann krempelt sein Hemd hoch. „Das ist der Name meiner Tochter.“ Ein kurzes Leuchten in seinen Augen. „Sie ist gerade zehn geworden.“
Javier nickt und holt die Tinte und den Aufnahmebogen für die Fingerabdrücke aus der obersten Schreibtischschublade.
„Drücken Sie bitte den Daumen auf das Kissen. Danke, und nun hier …“ Javier rollt den Daumen auf dem Papier ab. „Zeigefinger bitte!“
Als sie fertig sind, erklärt sein Kollege dem Neuen die Regeln. „Wir bringen dich jetzt bis zur Schleuse, das Tor, das nach drinnen führt. Von dort an bist du auf dich allein gestellt. Deine Frau und Tochter können dich besuchen, aber überlege dir das gut, es ist gefährlich für sie. Vor allem, weil du neu bist. Am Tor wird dich einer der Delegados abfangen und zu Juan Cristobal de Fuentes bringen, er hat das Sagen. Er wird entscheiden, was mit dir passiert. Wir können dir nicht helfen, wir haben klare Regeln und eine davon heißt: Wir kommen nicht zu euch rein! Kapiert?“
Carlos nickt. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn und sein Brustkorb senkt sich hektisch auf und ab. Javier sieht die Angst in seinen Augen. Das passiert mit allen. Die härtesten Männer sind in diesem Raum in sich zusammengeschrumpft. Es ist ein kranker Ort. Ein kranker Ort mit einem Ruf weit über die Mauern hinweg. Jeder, der hier ankommt, pisst sich fast in die Hosen, weil er weiß, er ist in der Hölle gelandet.
Carlos folgt dem Wachmann durch ein Labyrinth verschachtelter, enger Gänge. Plötzlich sieht er das Tor vor sich. Dahinter hunderte von Menschen. Zum Großteil sind es Männer, aber auch Frauen und Kinder laufen ziellos umher. Es stinkt nach Schweiß, Urin und fauligem Essen. Carlos sehnt sich nach tröstenden Worten, die ihm der Wachmann mit auf den Weg gibt. Aber der sieht ihn nicht einmal an. Er dreht den Schlüssel im Schloss, zieht an der schweren Gittertür und schiebt Carlos hindurch auf die andere Seite.
Er läuft ein paar Schritte. Alles, bloß nicht mitten auf dem Innenhof anhalten. Wo soll er hin? Carlos sieht niemandem ins Gesicht, mit gesenktem Kopf läuft er auf den kleinen Brunnen zu, der in der Mitte des Platzes steht. Er lehnt sich an die warmen Backsteine und mustert seine Umgebung. Von dem Hauptplatz führen schmale Wege zu den Häusern, er kann verwinkelte Treppen und Stockwerke erkennen, die zu beiden Seiten in die Zellen führen. Über dem Eingangstor führt ein Balkon an der Fassade entlang. Mehrere Männer lehnen am Geländer, reden miteinander, manche zeigen sogar auf ihn. Einer von ihnen löst sich aus der Gruppe, steigt gemächlich eine hölzerne Treppe hinunter, die unter seinem Gewicht ächzt, und läuft direkt auf Carlos zu.
„Komm mit!“ Carlos folgt ihm ohne Widerworte. Der Kerl vor ihm trägt einen schwarzen Trainingsanzug und einen Ausweis um den Hals. Er ist einer der Delegados. Er führt Carlos die Treppe hinauf und durch eine Tür, die vom Balkon in eine Art Büro führt. Die Wände sind roh, Risse im Mauerwerk sind mit Spachtelmasse aufgefüllt, eine Wand ist gestrichen. Dunkelrot. Carlos muss an getrocknetes Blut denken und sein Herz schlägt schneller.
„Stell dich hier hin!“ Vor ihm steht ein massiver Schreibtisch aus Holz. Dahinter sitzt ein behäbiger Mann mit einer abgedunkelten Brille. Er trägt saubere Kleidung und goldene Ringe an den feisten Fingern. Carlos nickt ihm zu.
„Willkommen in San Pedro.“ Der Mann breitet lächelnd seine Arme aus. „Ich bin Juan Cristobal de Fuentes. Du bist …“ Er nimmt ein Blatt von seinem Schreibtisch und überfliegt die Zeilen. „Carlos. Bewaffneter Raubüberfall. Bueno. Kein Killer, unser Carlos. Kein Kinderficker. Bist du ein Junkie? Zeig mir deine Arme!“
Carlos zieht sein Hemd aus und zeigt ihm seine Arme. Juan lacht. „Braver Junge. Naja, was nicht ist, kann ja noch werden.“ Er lacht lauter und sieht sich im Raum um. Zwei Delegados stehen in der Ecke des Raumes und verziehen die Gesichter. Sie sehen aus wie Hyänen. Carlos hält den Blick gesenkt.
Juan sieht wieder auf das Blatt Papier, das vor ihm liegt. „Was machen wir denn mit dir, Carlos? Wieviel Geld hast du bei dir?“
„Fünfhundert Bolivianos“, flüstert Carlos.
„Sprich lauter, verdammt!“ Juan haut mit der Faust auf die dunkle Holzplatte.
„Fünfhundert.“
„Das ist nicht viel, amigo. Aber wenn du nicht blöd bist, kannst du dir was dazu verdienen. Wir werden sehen. Jorge hat für dich ein gutes Wort eingelegt. Qué suerte! Du wirst dir mit ihm die Zelle teilen. Fünf Bolivianos pro Tag. Vorauszahlung für einen Monat. Bezahlen wirst du bei den beiden da drüben, sie führen dich dann auch in deine Zelle. Venga, bringt mir den nächsten!“
Carlos zieht sein Hemd wieder an und geht zu den beiden Delegados. Er bezahlt hundertfünfzig Boliviano, sie tragen seinen Namen, den Betrag und Sección Alamos in eine Tabelle ein und führen ihn aus dem Zimmer.
Juan sieht dem Mann hinterher und schüttelt mit dem Kopf. Der wird es nicht lange machen! Seine Unterkunft bei Jorge ist nicht die schlechteste hier, das Viertel ist zumindest nicht von Junkies belagert, aber der Typ ist schwach. Draußen ist er vielleicht eine harte Nummer, aber hier drinnen hat er ihn förmlich winseln hören.
Juan winkt einem seiner Leute zu. „Ich will kurz auf’s Dach, bevor der nächste kommt. Was treiben die da oben eigentlich so lange?“ Er hievt sich aus dem Sessel und tritt hinaus auf den Balkon. Betrachtet die kleine Stadt, die sich unter ihm ausbreitet. Lebenslang wird er hier sitzen. Für vier nichtsnutzige Schlampen. Früher oder später wären die sowieso krepiert.
Es ist gar kein schlechter Tausch gewesen. Die erste Zeit war hart, aber die richtigen Beziehungen und seine Skrupellosigkeit haben ihn zum König dieser Stadt gemacht. Sie sind alle Gefangene, aber sie gehören ihm. Ihm ganz allein. Er entscheidet über Leben und Tod. Juan atmet tief ein und fühlt, wie das Blut warm und pulsierend durch seine Adern fließt.
Er dreht sich um und läuft auf die steile Eisentreppe zu, die vom Balkon auf das Dach führt. Oben angekommen, winkt Juan den Architekten zu sich heran, der die Baupläne in der Hand hält. Ein Typ aus La Paz, den Juan hier antanzen lässt, seit er beschlossen hat, zusätzliche Wohnungen in seiner Stadt zu bauen. Man muss nur genug bezahlen. Plötzlich ist es kein Problem, für einen Gefängnisbaron den Architekten zu mimen. Aber bei den feinen Freunden wird davon lieber nichts erzählt. Juan verzieht angewidert den Mund und wendet sich dem Kerl zu. „Wie weit sind wir hier oben?“
Der Architekt rollt den Plan vor Juan aus. „Ich habe die Befürchtung, dass die Dächer da drüben …“, er zeigt auf die Wohnungen des Drogenviertels „El Salvador“, „… ein weiteres Stockwerk nicht halten werden. Die Bausubstanz ist alt und marode, das könnte uns alles einstürzen.“
Juan nimmt ihm die Papierrolle aus der Hand und wirft sie vom Dach. „Sie kriegen das schon hin. Dafür bezahle ich Sie schließlich, richtig?“
Dem Architekt sackt das Blut aus dem Gesicht. Hektisch nickt er. „Natürlich, ich … Da lässt sich sicher … Lassen Sie mich die Pläne noch einmal prüfen. Wir müssten dann eben die unteren Wohnungen durch zusätzliche Pfeiler stützen, damit das Gewicht sie nicht erdrückt.“
„Tun Sie das!“ Juans Lippen umspielt ein Lächeln. „Lassen Sie uns die neuen Pläne nächste Woche gemeinsam durchsehen.“ Bevor der Wichtigtuer etwas dazu sagen kann, dreht Juan sich um und läuft ein paar Schritte über das Dach. Er betrachtet die Mauern, die seine Stadt umgeben. Die Kameras, den Stacheldraht. Hört die Autos, die auf der anderen Seite entlangfahren. Er genießt den Wind, der hier oben weht. In den Gassen von San Pedro steht die Luft, das Sonnenlicht büßt seine Helligkeit auf dem Weg nach unten ein. Wenn ihm das zu viel wird, kommt er hier herauf.
Er vermisst das Leben draußen nicht. Keine Familie wartet auf ihn, Freundschaften haben schon lange ihren Wert verloren. Überleben – das ist es, worum es geht. Er stellt hier die Regeln auf, ihm gehorchen über zweitausend Menschen. Dieses Gefühl ist mit nichts vergleichbar. Tanzt einer aus der Reihe, schickt Juan ihm seine Männer. Oder er erledigt es selbst. Das Töten war schon draußen kein Problem für ihn, warum sollte es hier drinnen anders sein.
Er steigt die Treppe hinunter und beobachtet, wie ein kleines Mädchen über den Innenhof rennt. Es bleibt kurz stehen, sieht zu ihm hoch und winkt ihm zu.
Selina lässt die Hand sinken und wirft einen letzten Blick auf den Mann, der oben auf dem Balkon steht, bevor sie sich auf den Weg zu ihren Eltern macht.
El rey de los perdidos nennt ihre Mutter ihn. Er steht oft dort oben und sieht auf sie hinunter. Sei immer nett zu ihm, mi querida, hat Mama ihr eingeflößt. Selina hält sich daran. So wie sie sich an alle Regeln hält, die ihre Eltern sie Tag für Tag wiederholen lassen. Immer dann, wenn sie sich auf den Weg macht, die Bestellungen auszuliefern. Die Backwaren, die ihre Mutter für die Menschen hier herstellt. Selina sieht ihr gerne dabei zu. Den Ofen hat Papa durch Beziehungen zu den Delegados bekommen. Er ist jedoch alt und geht oft einfach aus und Mama flucht dann laut vor sich hin. Wenn sie sieht, dass Selina sie beobachtet, hält sie ihr erschrocken die Ohren zu.
Dabei hört Selina viel schlimmere Dinge als die Flüche ihrer Mutter. Die Männer in den Gassen benutzen schmutzige Worte, wenn sie an ihnen vorbeirennt. Einmal hat einer sie festgehalten und sie in eine Ecke gedrängt. Er hat ihr unter den Rock gefasst und sie gezwungen, sein Ding anzufassen. Sie hat sich gewehrt, aber dann kam ein zweiter Mann dazu und hat ihr ein Messer an die Kehle gehalten. Da war sie lieber still. Die Männer haben gestunken. Nach Schweiß und Scheiße. Selina wollte den Dreck von sich abwaschen, aber sie haben nur das tropfende Waschbecken in ihrem dunklen Zimmer. Da ist sie zusammengebrochen und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Sie hat es ihren Eltern erzählt. Papa hat sich die Augen gerieben und Selina fest an sich gedrückt.
Selina will stark sein. Sie stellt sich vor, es gäbe eine unsichtbare Mauer zwischen ihr und diesen Männern und egal, was sie ihr antun, es berührt sie nicht wirklich. Die Mauer beschützt sie.
Mama und Papa versuchen ihr Bestes. Papa hat vor Jahren einen Supermarkt überfallen. Er wollte ihnen mit dem gestohlenen Geld Essen kaufen. Aber sie haben ihn erwischt. Und weil Mama und sie alleine auf der Straße nicht überleben können, sind sie nun mit Papa hier. Hinter den Mauern, versteckt vor den Menschen da draußen.
Selina packt ihren Beutel mit dem Brot fester und rennt in die Gasse, die nach Alamos führt. Hier ist es nicht ganz so dreckig wie ein paar Seitenstraßen weiter, wo die Männer mit offenen Augen in den Ecken liegen. Selina hat schon ein paar Mal gedacht, sie seien tot, aber dann holen sie plötzlich schlagartig Luft und Speichel rinnt ihnen am Kinn herunter. Manche von ihnen sitzen mit leeren Augen auf dem kalten Steinboden und schreien. Mama sagt, die Männer nehmen weißes Teufelspuder. Sie sagt, Selina darf ihnen nicht zu nahe kommen. Daran hält sie sich.
Sie biegt um die Ecke und klopft an die blaue Holztür, hinter der Stefan wohnt. El alemán. Selina findet ihn unheimlich, aber Papa sagt, er ist okay. Er kann schöne Dinge aus Holz bauen. Papa und er helfen sich gegenseitig. Ihr Bett ist von Stefan. Dafür kriegt er jede Woche einen Laib Brot. Sie klopft noch einmal und die Tür öffnet sich einen winzigen Spalt. Stefans Blick huscht über Selina hinweg in die Gasse hinter ihr.
„Danke dir, Kleines“, flüstert er, „und jetzt mach, dass du nach Hause kommst!“ Er knallt die Tür zu und Selina hört, wie er mit dem Hammer auf ein Stück Holz einschlägt.
Die haben echt Nerven! Kinder hier reinzubringen! Stefan will gar nicht wissen, was die Kleine, die ihm jede Woche sein Brot bringt, schon alles durchmachen musste. Jedes Mal wird er wütend, wenn er sie sieht. Was sind das für Eltern, die ihre Kleinen in so eine Hölle stecken? Das hier ist kein Ort für Kinder.
Er schlägt einen Nagel ins Brett und sieht aus dem kleinen Fenster über seiner Matratze. Stefan hat die Gasse immer im Blick. Er weiß, was passiert, wenn es dunkel wird. Deshalb hat er seine Zelle gesichert. Er hat eine Art Schloss gebaut, ein Brett, das er jede Nacht vor seine Tür nagelt. Das hat ihm schon zweimal das Leben gerettet. Während sie die Tür eintraten, konnte er nach dem Messer greifen.
Am liebsten ist er allein. Die Wände seiner Zelle sind feucht und es fällt kaum Licht in den Raum. Als Toilette dient ihm ein Plastikkanister, den er nachts einfach aus dem Fenster hält und ausschüttet. Es stinkt nach Holz, Schimmel und Urin. Stefan geht trotzdem selten hinaus. Setzt er einen Fuß vor die Tür, rast sein Herz und er bekommt kaum noch Luft. Dieser Ort drückt ihm den Brustkorb zusammen. Er sieht sie hinter jeder Ecke lauern. Sie wollen sein Geld, sein Holz, sein Werkzeug. Seine einzige Chance, hier zu überleben. Lächeln ihm ins Gesicht und warten nur auf den passenden Moment, um ihn zu beklauen.
Nicht mit ihm, nein, er hat gelernt, sich zu verteidigen. Verschiedene Waffen hat er sich gebaut und er wird sie benutzen. Nach dem ersten Mal konnte er es nicht fassen. Er hat auf seine blutigen Hände gestarrt und geschrien. Aber jetzt … Jetzt ist alles anders. Sie werden ihm nicht mehr wehtun.
Zu Hause ist er Ärger immer aus dem Weg gegangen. So lange er sein Dope hatte und genug zu Essen im Kühlschrank für den Fressi danach, war alles easy. Die Reise hatten ihm seine Eltern geschenkt, zum Abi. Mit seinem besten Kumpel Tim quer durch Südamerika, geile Sache!
Er hat gewusst, dass sie hier hart mit Leuten wie ihm umgehen. Hatte das Zeug fett in Alufolie eingewickelt und in einem Päckchen Kaffee in seinem Koffer versteckt. Die Bullen waren schlauer.
Es raschelt vor der Tür. Stefan greift nach dem Hammer. Es klopft. Seine Arme zittern, die Augen brennen und ihm ist schwindlig. „Verpisst euch!“ schreit er, seine Stimme überschlägt sich. Er hört, wie die Schritte sich entfernen.
Wie lange schafft er das hier noch? Wie viele Jahre liegen noch vor ihm? Wie lange ist es her, seit er den letzten Brief von seinen Eltern bekommen hat? Die Delegados erpressen ihn. Briefe gegen Geld. Er hat kaum Geld, um die Zelle zu bezahlen. Wie viele Briefe liegen noch bei ihnen? Worte, die er noch nicht gelesen hat. Vielleicht nie lesen wird.
Draußen ist es wieder still. Stefan sinkt auf die Matratze und vergräbt den Kopf in den Händen.
Der Typ spinnt. Völliger Ausfall. Verbarrikadiert sich in seinem Loch und denkt, so kann er hier überleben. Wenn die da reinkommen wollen, dann kommen die da rein. Belinda wollte ihm doch lediglich den Umschlag geben. Unter der Tür durchschieben geht nicht, da hat der Typ irgendwas davor gestopft. Auch nicht schlecht, so kann sie nochmal abkassieren.
Sie dreht sich um und geht durch die enge Gasse zurück zum Hauptplatz. Am Springbrunnen lungern Männer mit ausdruckslosen Gesichtern herum. Als sie Belinda sehen, blitzt etwas auf in ihren Augen. Sie rufen ihr hinterher, Anzüglichkeiten und Beleidungen, die sie schon lange nicht mehr hört. Sie macht das hier nur wegen des Geldes. Die Botengänge lässt sie sich ordentlich bezahlen – wer sich nicht selbst hineintraut, muss tief in die Tasche greifen. So wie der Anzugfuzzi, der draußen vor dem Tor wartet.
Der Umschlag war ganz feucht, als er ihn ihr vorhin in die Hand drückte. Er sei für einen Freund, hat er gesagt, sein Spanisch war gebrochen. Es sei sehr wichtig, lebenswichtig sogar. Irgendetwas von einem Anwalt hat er gefaselt, einem Anwalt in Deutschland. Belinda hat sich den Namen geben lassen, bei den Delegados nachgefragt, ihnen deren Anteil ausbezahlt und sich auf den Weg zu dem Alemàn gemacht. Aber er hat nur geschrien. Abgehackte Worte in einer Sprache, die sich nicht kennt. Deutsch vermutlich.
Sie bleibt vor dem großen Eisentor stehen und drückt auf eine Klingel. Ein Knacken ertönt aus dem Lautsprecher, dann eine verzerrte Stimme.
„Sí?“
„Soy yo, Belinda.“ Sie beugt sich noch näher zur Sprechanlage. „Macht auf, ich bin für heute fertig hier.“
Sie hört das Surren der Kamera über ihrem Kopf und tritt einen Schritt zurück, damit die Wachen sie gut erkennen. Ein paar Sekunden später rasseln Schlüssel und das Tor wird einen Spalt breit geöffnet. Belinda schlüpft hindurch und atmet auf. Da drinnen lässt sie sich nichts anmerken, aber sie ist jedes Mal wieder froh, wenn sie San Pedro verlassen kann.
Auf der anderen Straßenseite steht der Anzugfuzzi und tritt von einem Fuß auf den anderen. Sie huscht zu ihm hinüber und hält ihm den Umschlag hin.
„Er war nicht da“, sagt sie mit einem Schulterzucken.
Der Typ senkt den Kopf. „Und was jetzt?“
„Ich kann es morgen nochmal versuchen. Kostet aber extra!“
Er sieht zu ihr auf. „Wieviel?“