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Verloren
„Wer wagt, gewinnt. Sie müssen nur sagen, unter welchem Hütchen die Nuss ist. Erst ist sie hier, jetzt ist sie dort. Und wo ist sie jetzt?“
Gestern war er von den Bullen abgeführt worden, doch heute stand er wieder an seinem angestammten Platz, den Klapptisch mit den drei Bechern vor sich. Die ersten Passanten blieben stehen, neugierig, aber mit genügend Abstand. Ich machte es mir auf einem Poller links von seinem Stand bequem und drehte mir eine Zigarette. Er beachtete mich nicht, obwohl ich ihm in den letzten Tagen aufgefallen sein musste. Schon kurze Zeit später hatte sich eine kleine Menschenmenge vor dem Klapptisch versammelt. Wohl kaum einer von ihnen hatte je einen einarmigen Hütchenspieler gesehen. Den rechten Arm hatte er in Bosnien verloren, soviel hatte mir sein Bruder verraten. Aber nicht, unter welchen Umständen.
Mit der linken Hand verschob er die Hütchen so gemächlich, dass sogar der Opa in der letzten Reihe erkennen konnte, unter welchem Hütchen sich die Nuss befand. Ich wusste, dass dies nur Show war, nur dazu diente, die Leichtgläubigen zum Spielen zu animieren. Ich hatte ihn in Aktion gesehen, hatte gesehen, wie er mit nur einer Hand die Hütchen durch die Luft schweben ließ, hatte gesehen oder glaubte gesehen zu haben, wie sich die Nuss scheinbar selbstständig von rechts nach links und wieder zurück bewegte. Wenn die Einsätze höher wurden, lag die Nuss nie dort, wo sie hätte liegen sollen.
Ich zündete mir die Zigarette an und hielt Ausschau nach seinem Lockvogel, einem älteren Mann mit Schnauzbart und Lederkäppi.
Den Schnauzbart konnte ich nirgends entdecken, stattdessen sah ich zwei freundliche Helfer in Grün auf uns zukommen. Ich stand auf, schnippte die Zigarette in den Rinnstein und ging auf den Hütchenspieler zu.
„Keine Panik, aber ich an deiner Stelle würde meinen Kram packen und verduften.“
Dabei nickte ich in Richtung der näher kommenden Bullen. Er schaute auf, sammelte seine Hütchen ein und sagte: „Nimm du den Tisch.“
Der rechte Ärmel seiner fadenscheinigen Jacke flatterte wie ein verletzter Vogel hinter ihm her, während er Richtung Hauptbahnhof verschwand. Ich klappte den Tisch zusammen und machte ebenfalls, dass ich fort kam. Ich schaute mich um, doch die Bullen machten keine Anstalten, hinter uns herzurennen. Scheinbar genügte es ihnen, den Hütchenspieler vertrieben zu haben.
Er wartete vor dem Cafe Einstein auf mich.
„Du kannst den Tisch hier abstellen. Fredo wird gleich kommen.“
Er setzte sich. Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich ihm gegenüber.
„Ein Danke wäre nett.“
Irritiert schaute er mich an.
„Danke.“
„Gern geschehen. Wie wär’s, auch einen Kaffee?“
„Was soll das? Seit Tagen lungerst du hier rum und jetzt hilfst mir, den Bullen zu entkommen. Wer bist du?“
„Kaffee?“
Er seufzte, dann nickte er und ich gab der Bedienung ein Zeichen.
Er holte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hemdtasche, kramte in den Taschen seiner Jeans nach Streichhölzern, ratschte eins an, gab uns beiden Feuer und steckte die Streichhölzer wieder weg. Alles mit links.
„Du bist Boris“, sagte ich, und es war keine Frage.
„Woher kennst du meinen Namen?“
„Dein Bruder hat mich beauftragt, dich zu suchen.“
„Alexeij! Du weißt, wo er ist?“
„Das letzte Mal habe ich ihn vor einer Kneipe in Wanne-Eickel gesehen.“
„Was macht Alexeij in Wanne-Eickel?“
Ich berichtete von dem, was ich wusste. Wie sich Paul und Alexeij im Krankenhaus kennen gelernt hatten; von Alexeijs Wunsch, vor seinem Tod noch einmal die Heimat zu sehen, und von Pauls Idee, die Reise nach Mazedonien mit gestrecktem Speed zu finanzieren. Was ich nicht erzählte war, dass es bei der Übergabe einige Probleme gegeben hatte, und dass der Dicke Harry gar nicht begeistert gewesen war von der Qualität des Stoffes. Ich verschwieg ebenfalls, dass ich Paul und Alexeij während der turbulenten Ereignisse vor Schweine-Dieters Kneipe aus den Augen verloren hatte, und dass vermutlich nicht nur Harry sondern noch einige andere, gar nicht so nette Herren aus der Essener Rotlichtlichtszene hinter ihnen her sein dürften. Von den Bullen, die ihren Teil zu dem Fiasko beigetragen hatten, ganz zu schweigen.
Inzwischen hatte Schnauzbart sich an unseren Tisch gesetzt.
„Fredo“, sagte Boris und zeigte auf Schnauzbart.
„Dachte ich mir“, sagte ich.
„Das heißt, du weißt nicht, wo sich Alexeij im Moment befindet?“, wollte Boris schließlich wissen.
„Wahrscheinlich sind die beiden schon in Mazedonien, aber sicher bin ich mir nicht.“
Boris schien kurz nachzudenken, dann knurrte er etwas in Fredos Richtung. Vermutlich in mazedonisch oder serbokroatisch oder jugoslawisch. Für mich hörte es sich an wie eine Kalaschnikow auf Dauerfeuer. Ich verstand kein Wort, doch Fredo schien mit dem Gesagten nicht einverstanden. Er bellte zurück. Sie knurrten und bellten noch eine Weile, dann sprang Fredo plötzlich auf, schnappte sich den Klapptisch und verschwand.
Boris schaute mich an.
„Du hast einen Wagen?“, fragte er.
Ich hatte meine Carina in der Nähe des Theaters geparkt, doch bevor wir gingen, wollte ich noch etwas wissen.
„Wie funktioniert dein Trick?“
„Welcher Trick?“ Er grinste.
„Der Trick mit den Hütchen. Du hast nur eine Hand, du bist verdammt langsam und trotzdem ist die Nuss nie dort, wo sie eigentlich sein sollte.“
„Es gibt keinen Trick. Schau zu.“
Er stellte die Hütchen vor sich auf und fing an, die Nuss zu verschieben. Das Ganze spielte sich fast in Zeitlupentempo ab und ich konnte jederzeit genau erkennen, unter welchem Hütchen sich die Nuss befand.
„Und, wo ist die Nuss?“, fragte er schließlich und hielt inne.
„Hier“, sagte ich, und zeigte auf das rechte Hütchen.
Er machte keine Anstalten, das Hütchen hochzuheben. Ich wollte danach greifen, doch er war schneller und legte seine Hand darauf.
„Wir haben vergessen, den Einsatz festzulegen.“ Er grinste wieder.
Ich dachte nach. Zu oft hatte ich in den letzten Tagen gesehen, dass die Nuss nie dort war, wo sie nach den Gesetzen der Physik hätte sein sollen. Aber jetzt hatte ich ihm gegenüber gesessen, hatte ihm genau auf die Finger geschaut. Ich wusste, wo sich die Nuss befand. Genau unter dem Hütchen, auf das ich gezeigt hatte.
„Wer verliert, zahlt den Sprit.“
„Okay“, sagte er und hob das Hütchen hoch.